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Der Denkmalsturz
Der Mann mit der Tafel
Gerd Müller traut seinen Augen kaum, schaut mehrmals vom Mittelkreis zur Trainerbank. »Die Neun, die war für mich. Ich konnte es nicht fassen.« Draußen an der Seitenlinie hält Bayern-Trainer Pál Csernai eine Tafel mit Müllers Nummer hoch: Auswechslung. Nichts ist gelaufen im Spiel. Müller, wenn überhaupt, dann ins Leere. Er bekommt kaum Bälle. Ihn beschleicht das Gefühl, die Mannschaft schneidet ihn. Dann der folgenschwere Augenblick: die Neun, raus bitte. Es machte nicht mehr bumm. Aus. Schluss. Vorbei.
Am 3. Februar 1979, es ist 17:07 Uhr, endet Müllers Karriere im Trikot des FC Bayern München im Frankfurter Waldstadion zwar noch nicht endgültig, aber es ist eine Zäsur, ein Bruch. 43 000 Zuschauer werden Zeuge einer Weltpremiere, ja einer Weltsensation. Gerd Müller, Bayerns legendärer Torjäger, der »Bomber der Nation«, der größte und erfolgreichste Mittelstürmer aller Zeiten, wird ausgewechselt. Nie zuvor hat sich ein Trainer der Münchner getraut, Müller vorzeitig vom Spielfeld zu nehmen, wenn dieser nicht verletzt war oder darum gebeten hat – was insgesamt sieben Mal seit dem Aufstieg des FC Bayern im Jahr 1965 passierte. Aber aus sportlichen Gründen? Nicht ein einziges Mal in seinen 425 Bundesliga-spielen zuvor. Nun ist der Tag gekommen.
Eintracht Frankfurt führt an jenem kalten Februartag durch die Treffer von Bruno Pezzey und Roland Borchers mit 2:0, als sich Pál Csernai entscheidet, den ersten Wechsel in seiner Mannschaft vorzunehmen. Er holt Müller in der 82. Minute vom Platz und bringt Norbert Janzon. Die Münchner erzielen drei Minuten später noch den Anschlusstreffer durch einen anderen Stürmer, durch Karl-Heinz Rummenigge. Doch davon wird später nicht mehr die Rede sein. Bayern verliert ein Spiel, 1:2 – und seinen größten Torjäger aller Zeiten. Denn Müller, 33, reicht’s. Er haut auf den Tisch. Dann macht es bumm. Ja, und dann kracht’s. Gewaltig.
»Der Csernai weiß, dass ich immer noch zu Gyula Lóránt stehe, dass ich seinen Vorgänger für einen guten Trainer halte«, schnaubt Müller, »deswegen tut er das, deswegen will er mich fertigmachen.« Er habe schon registriert, dass er ihn im Training immer sehr beäuge. Und in Frankfurt ganz besonders. In der Pause, so Müller, habe er nichts gesagt. Alles okay, dachte er sich – weiter. Bis zur Neun auf der Auswechseltafel.
Natürlich gibt es dazu eine Vorgeschichte.
Im Winter 1978/79, die Bayern erlebten eine ihrer turbulentesten Spielzeiten, konnte die Mannschaft um ihren Anführer Paul Breitner, der im Sommer 1978 von Eintracht Braunschweig nach München zurückgekehrt war, mit Trainer Gyula Lóránt nicht mehr. Der Ungar, seit Anfang Dezember 1977 Nachfolger von Dettmar Cramer, überwarf sich mit Breitner, hielt aber treu zu Gerd Müller, auch wenn dieser nicht mehr in der Form früherer Glanztage war. Nach dem blamablen 1:7 am 9. Dezember bei Fortuna Düsseldorf musste Lóránt gehen – nie in seiner Geschichte hat der FC Bayern mehr Gegentore in einem Bundesliga-Auswärtsspiel einstecken müssen. Man rutschte in der Tabelle auf Rang fünf ab. Pál Csernai, Lóránts Assistent und Landsmann, übernahm. Er verfeinerte das Lóránt-System aus Mann- und Raumdeckung, führte die damals neue reine Raumdeckung ein. Im Grunde aber war ab sofort Paul Breitner eine Art Spielertrainer. Eine explosive Mischung – für Müller.
Auch wenn der Held der Siebzigerjahre in jeder Sommervorbereitung fluchte, die kommende Saison werde seine letzte, so hatte er seinen Rückzug zum Saisonende 1978/79 tatsächlich bereits angekündigt. Weil er spürt: Er ist nicht mehr fit am Ende seines triumphalen Jahrzehnts, der »Bomber«-Körper will nicht mehr so recht. Auf eine Bandscheiben-Operation Anfang 1977 folgen Wadenzerrungen und Leistenschmerzen. Im Fußball Magazin (Ausgabe 1/1979) heißt es: »Bereitwillig zieht er es deshalb neuerdings vor, sich bei Auswärtsspielen in der eigenen Hälfte zu tummeln, statt dort, wo ›es weh tut‹, wie Cramer es einmal formulierte. Karl-Heinz Rummenigge spielt Sturmspitze, er wird sein Erbe.« Unter Trainer Dettmar Cramer war Müller 1975 und 1976 Europapokalsieger der Landesmeister geworden. Nun bricht alles über ihm zusammen.
Auch wegen des für ihn unverständlichen Vertragsangebots, das ihm Präsident Neudecker Anfang Dezember 1978 gemacht hat. Streng nach Leistung solle künftig abgerechnet werden, inklusive eines Bonus, der sich an den Zuschauerzahlen orientieren soll. Kein Garantiegehalt von 400 000 DM pro Jahr mehr wie im letzten Arbeitsvertrag, abgeschlossen 1974.
Das Fußball Magazin zitiert Müller, der Anfang 1979 noch zwei Jahre Bundesliga in sich zu haben glaubt, damals so: »Wenn das so ist, Herr Neudecker, dann hör ich gleich auf. Über so was red ich kein Wort mehr.« Der Streit ums Geld beginnt. Müller beschleicht das Gefühl, Neudecker wolle ihn abschieben und eine saftige Ablöse kassieren. »Wenn ich ganz aufhör, bekommt er gar nix mehr für mich«, ereifert sich Müller damals und beschließt in seiner Wut: »Für mich gibt’s kein Abschiedsspiel mit oder für den FC Bayern. Wenn überhaupt, dann mit 1860 München.« Worte der Enttäuschung, des Zorns – denn Hochverrat hätte Müller sicher nicht begangen. Der Streit ums liebe Geld sollte noch eine große Rolle spielen. Der Ungar Csernai, der Mann, der Seidenschals liebte, war die Ursache allen Ärgers für den »Bomber«.
Im Bayern-Buch So ein Tag ... von 1984 kommentiert Gerd Müller rückblickend: »Es war meine Absicht, nach jener Saison aufzuhören. Die Mannschaft und der Trainer wussten es. Offenbar war es ein Fehler, diesen Entschluss so frühzeitig zu fällen bzw. bekanntzugeben. Ich war der einzige Spieler, der sich ein paar Monate vorher (das heißt: im Dezember 1978) gegen Csernai als Trainer ausgesprochen hatte. Warum ich gegen ihn war, möchte ich nicht näher erklären. Über meine ablehnende Haltung ihm gegenüber war er sich im Klaren. Csernai suchte nach Möglichkeiten, sich als Trainer mit Durchsetzungsvermögen zu profilieren. Meine Person bot sich geradezu an, da ich nach wie vor ein wichtiger Spieler war, von dem er allerdings wusste, dass er bald aufhört. Das Risiko einer Konfrontation erschien ihm von daher nicht allzu hoch. So war seine Überlegung, und fortan suchte er nach einem Vorwand. Wie jeder weiß, holte er mich in Frankfurt vom Platz. Ganz bewusst. Natürlich habe ich schlecht gespielt, aber nicht nur ich, da gab’s noch jede Menge andere Kandidaten.«
Doch großen Zirkus veranstaltet er nicht an der Außenlinie.
Im Fußball der Siebziger ist eine Auswechslung eine Auswechslung, ein Mittel zum Zweck. Ein Spieler raus, ein anderer Spieler rein. Heutzutage ist eine Auswechslung ein kleines Stück Theater. Je nach Spielstand und Charakteren wird eine Tragödie oder eine Jubelarie aufgeführt. Akt eins: Der ausgewechselte Spieler inszeniert sich, gibt den Wüterich oder den König, der sich von seinem Volk im Stadion huldigen lässt. Der eingewechselte Profi wird abgeklatscht, bekommt warme Worte mit auf seinen Rettungseinsatz. Wie ernst sie auch gemeint sein mögen. Doch noch genauer schauen Fans und zig Kameras auf die Begegnung des soeben Aussortierten mit seinem Peiniger, der in anderen Fällen auch der Erlöser sein kann. Schauen sie sich in die Augen? Herzlich oder verachtend? Klatschen sie gar miteinander ab? Fallen sie sich dankbar um den Hals?
Gerd Müller hätte damals gegen die Trainerbank oder irgendetwas anderes treten sollen. Mit voller Inbrunst – um der Aufmerksamkeit willen. Müllers schwäbischer Landsmann Jürgen Klinsmann hatte 18 Jahre später bei einer gleichsam legendären Auswechslung der Bayern-Historie die ganze Palette Drama drauf: Erst beleidigte er seinen Peiniger Giovanni Trapattoni auf Italienisch, machte die Schluss-Aus-Und-Vorbei-Handbewegung und trat dann in die Werbetonne. Klinsmann musste beim Spielstand von 0:0 raus, für ihn kam ein unbekannter Amateur, der später nie wieder erschien. Was blieb, war das Loch in der Tonne. Das Stück Werbeplastik, 1997 mit Füßen getreten, schaffte es sogar ins Vereinsmuseum.
Von Müllers Auswechslung 1979 gibt es keine Fernsehbilder – weder im Bericht der Sportschau der ARD noch im Beitrag des Aktuellen Sportstudios (ZDF). Eine Götterdämmerung ohne filmischen Beweis. Es wird lediglich erwähnt, dass Müller bereits auf dem Weg in die Kabine war, als Rummenigge zum 1:2-Anschluss trifft.
Laut dem niederländischen Magazin Voetbal International (Nr. 9/ 1979) sagte Csernai damals: »Ich habe viel Verständnis für einen Spieler von der Klasse von Gerd Müller. Aber ich verstehe überhaupt nicht, weshalb er diesen Wechsel so dramatisiert. Ich bin selbst am Ende meiner Karriere mehrfach herausgeholt worden. Das ist Fußball. Nur die Leistung ist wichtig. Gerd Müller war schon wochenlang außer Form. Ich konstatierte einen Mangel an Kondition, er ist nicht mehr genug in Bewegung. Ich weiß, dass er einen Widerwillen gegen Konditionstraining hat. Aber es ist nicht meine Sache, dass andere Trainer ein Auge zudrückten, wenn Gerd Müller nicht hochmotiviert trainierte. Ich bin dazu auf jeden Fall nicht bereit.« Eine knackige Kampfansage.
Trennung im Groll – die Anwälte sprechen
Mitspieler, die damals in Frankfurt Augenzeugen der verhängnisvollen Auswechslung wurden, erinnern sich im August 2015. »Es war kein rühmlicher Abschied – ganz im Gegenteil. Man muss zugeben: Gerd spielte nicht seine beste Saison, trotzdem hätte man das anders lösen können....