Ideenpolitik und Verfassungswirklichkeit
»Die Bundesrepublik als Idee« – der Titel ist erläuterungsbedürftig, denn natürlich ist die Bundesrepublik Deutschland nicht nur eine Idee, sondern seit 60 Jahren staatsrechtliche und politische Wirklichkeit. Selten aber hat ein Gemeinwesen so viel Aufwand treiben müssen, um eine Idee von sich selbst zu entwickeln. Auf eine nicht unwesentliche Bedeutungsschicht der Staatstitulatur »Bundesrepublik« hat der Historiker Reinhart Koselleck hingewiesen: Der ursprünglich gegen Ende des 18. Jahrhunderts geprägte Begriff skizzierte einen neuen politischen Erwartungshorizont der deutschen Aufklärung und war schon damals »ein Vorgriff auf die Zukunft«: »Ohne mit ›Staat‹ assoziiert zu werden, sollten die bündischen Erfahrungen neu geordnet werden, um das Reich in eine Republik gleichberechtigter Stände mit allgemeinen Bürgerrechten zu überführen.« Begriffsgeschichtlich markiert der Name »Bundesrepublik« im Sinne einer föderalen Selbstorganisation eine technisch-pragmatische Note und verzichtet auf symbolisch-emphatische Selbstidentifikation. Koselleck sieht darin »Enthaltsamkeit«, ein »Ergebnis der Ernüchterung« und ein »Unterpfand pragmatischer Politik« – in diesen Wendungen würde man heute wohl einigermaßen treffende Charakterisierungen des deutschen Selbstverständnisses erkennen.1 Gleichwohl lässt sich ein Staat, auch ein föderaler, weder auf diese Merkmale beschränken, noch sind daraus normative Leitlinien für ein Gemeinwesen zu gewinnen, die eine politische Identität generieren.
Seit der Gründung der Bundesrepublik ist über ihre Gestalt, ihre Idee und ihre Identität gestritten worden. Solche Kontroversen fanden unter den einschränkenden Bedingungen statt, die die totale Niederlage des verbrecherischen NS-Staates, die Umstände des Kalten Krieges und nicht zuletzt die deutsche Teilung mit sich brachten. Wie der Rückblick lehrt, ist es nicht zuletzt diese unklare Ausgangsposition gewesen, die den Diskurs über politische Ideen besonders produktiv gestaltete.
Eine verbreitete Lesart besagt, dass das Demokratiewunder dem westdeutschen Wirtschaftswunder folgte und dass die geglückte Demokratie vor allem auf einer erfolgreichen ökonomischen und sozialen Integrationsleistung beruhte. Die Modi der gewaltenteiligen Ordnung und das Arrangement mit den Grundzügen westlicher politischer Kultur wirken in dieser Perspektive wie das Anhängsel einer funktionierenden, marktwirtschaftlich organisierten Industriegesellschaft. Der alternativlosen Option für den Westen folgten, so das dominierende Deutungsschema, erst nach und nach die Akzeptanz und die Aneignung westlicher Werte in der Bevölkerung. Zeit- und Sozialhistoriker sprechen deshalb zutreffend von Prozessen der Liberalisierung und Westernisierung. Dieser Interpretation wird man auf gesellschaftlicher und politisch-kultureller Ebene kaum widersprechen wollen. Die politische Ideengeschichte unterliegt jedoch anderen Gesetzmäßigkeiten und lässt sich schwerlich unter dem Aspekt einer teleologischen Entwicklung betrachten. Eine Historisierung des politischen Denkens in der Bundesrepublik hat immer mit Ungleichzeitigkeiten zu tun; ganz Verschiedenes wird parallel gedacht, und selten ist klar, welche Denkströmungen im Diskurs eine hegemoniale Stellung beanspruchen können. Aus kontroversen politiktheoretischen Debatten entstehen vielmehr gewisse Traditionskreise, die als Anknüpfungspunkte Identitäten stiften und ein politisches Selbstverständnis prägen.
Eine pluralistische Verfasstheit politischer Diskurse prägt die Bundesrepublik seit ihrem Beginn. Beispielsweise wird mit guten Gründen darauf verwiesen, dass der Antikommunismus der 1950er Jahre einhergehen konnte mit einer katholisch inspirierten, europäisch ausgreifenden Abendlandidee; ein weiteres gegenwartsdiagnostisches Paradigma war gleichzeitig der technokratische Konservatismus, der davon ausging, dass die Sachzwänge der Industriegesellschaft demokratischen Wettbewerb um politische Handlungsoptionen obsolet machten. Demgegenüber sollten aber auch die Bundesrepublikaner der ersten Stunde nicht vergessen werden, die in erzieherischer Absicht Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft betrieben und gegen die vermeintlichen Zwänge einer uniformen Massengesellschaft am Idealbild eines tugendhaften und partizipationsfähigen Bürgers im liberalen Staat festhielten. Die Geschichte des politischen Denkens – auch und gerade in der Bundesrepublik – lehrt, dass es keine einfachen Fortschrittserzählungen gibt. Wie über das Gemeinwesen, die politische Ordnung und die darin lebenden Bürger reflektiert wird, ist den Pendelschwüngen bestimmter Problemkonstellationen ebenso ausgesetzt wie wiederkehrenden Grundsatzfragen. Es steht jedoch außer Frage, dass sich in der Bundesrepublik eine Reflexionskultur ausgebildet hat, die auch heutige Debattenlagen vorstrukturiert.
Nun wird ein ideenpolitisches Design der Bundesrepublik gewiss ebenso schwierig zu konturieren sein wie eine »vernünftige Identität«. Darin liegt auch nicht die erste Aufgabe politischer Theorie. Allerdings sollte die politische Ideengeschichte immer wieder eine Inventur dessen versuchen, was nachhaltigen Einfluss auf das politische Denken entfaltet hat. Als »Land ohne geistigen Schatten« (Rüdiger Altmann) wird man die Bundesrepublik an der Schwelle zum siebten Jahrzehnt ihres Bestehens nicht mehr abtun können. Die politischen Denker, die ihre Geschichte kritisch, reformorientiert oder affirmativ begleiteten, haben sich an ihr nicht nur unermüdlich abgearbeitet. Ihre Debatten haben den Staat mitgeprägt und der liberalen Demokratie Begründungsangebote unterbreitet, die in den politischen Ideenhaushalt eingesickert sind. Im Sinne nicht bloß gegenwartsfixierter, sondern ideenhistorisch informierter politischer Theorie wäre es fahrlässig, diese Erträge als Vorratsreflexion für stets gegenwärtige Probleme ungenutzt zu lassen. Sicherlich spiegelt sich die politische Geschichte eines Landes im Auf und Ab der Tagespolitik, im Regierungshandeln, in Parlamentsdebatten, in gesellschaftlichen Interessenkonflikten, in den Auseinandersetzungen der Parteien und Verbände. Sie allein sagt allerdings noch wenig über die normative Grundierung, den Wandel und die Kontinuität von leitenden Ideen aus. Dazu bedarf es der politischen Theorie und der Ideengeschichte. Sie verschaffen uns einen Zugang zu einer normativen Selbstverständigung und erinnern an leitende Werte und Vorstellungen, die idealerweise eine Politik, die am Gemeinwohl orientiert ist, ausmachen sollten.
Die nachfolgenden Überlegungen gehen davon aus, dass politische Diskurse durchaus identitätsbildende Diskurse sind. Trotz aller Untiefen, die mit der Vermutung einer kollektiven Identität einhergehen, kann das Nachdenken über ein Gemeinwesen schwerlich auf die Fiktion einer »Wir-Gemeinschaft« verzichten, solange sie Wert auf Solidarbeziehungen und soziale Gerechtigkeit legt.2 Die Systemtheorie mag den Blick für die Gesellschaft schärfen und die Schwierigkeiten politischer Gemeinschaftsbildung drastisch vor Augen führen – eine Entscheidung zur normativen Abstinenz kann sie nicht erzwingen. Die Soziologen des kalten Blicks – von Arnold Gehlen bis Niklas Luhmann – haben immer wieder erfahren müssen, dass das von ihnen prognostizierte Ende gestaltender Politik gerade aufgrund der Abschreckungswirkung ihrer Entwürfe Abwehrreaktionen hervorruft. Der Blick auf einige herausragende Denker der Bundesrepublik zeigt, wie das Verhältnis zwischen Staat, Gesellschaft und Bürger angesichts solcher Herausforderungen neu durchdacht worden ist – um den Glauben an die Gestaltungskraft demokratisch legitimierter Politik in einer liberalen Ordnung zu stärken.
Ziel dieses Essays kann es nicht sein, eine Synthese zur politischen Ideengeschichte der Bundesrepublik zu liefern. Die Forschung der letzten Jahre beginnt erst, dieses Thema zu entdecken, und es zeigt sich langsam, wie weit verzweigt ein Terrain ist, das die bewegten Bedingungen politischer Reflexion widerspiegelt. Davon wird auf den folgenden Seiten nur ein kleiner Ausschnitt eingefangen, gewissermaßen der kleine Teil eines theoretischen Elitendiskurses. Es ist völlig unstreitig, dass wichtige, breitenwirksamere politische Debatten anderswo stattfinden – nämlich im unmittelbaren politischen Tagesgeschäft, in den Fernseh-, Rundfunk- und Printmedien, auch in den Feuilletons und in der Kunst. Um die Problemlagen politischen Denkens in kondensierter Form zu vergegenwärtigen, kann es aber nicht schaden, sich mit den nun schon fast als moderne Klassiker zu bezeichnenden Theoretikern zu beschäftigen, die sich nicht ohne Leidenschaft und innere Beteiligung daranmachten, die Bestandsvoraussetzungen und Erhaltungsbedingungen der Bundesrepublik kritisch zu reflektieren. Bei aller Selektivität der hier vorgenommenen Auswahl gilt doch die Vermutung, dass eine Beschäftigung mit den bundesrepublikanischen Perspektiven von Dolf Sternberger, Ralf Dahrendorf oder Jürgen Habermas nicht lediglich ideenhistorischen Wert hat, sondern auch in der Gegenwart wichtige Orientierungshilfen bietet. Denn die grundsätzlichen Fragen, die aus...