Du bist der geliebte Mensch
Seit du mich darum gebeten hast, dir und deinen Freunden etwas über das geistliche Leben zu schreiben, beschäftigt mich die Frage, ob es ein Wort gibt, von dem ich möchte, dass es dir nach dem Lesen all dessen, was ich dir sagen möchte, im Gedächtnis haften bleibt. Im Lauf des vergangenen Jahres tauchte dieses eine Wort allmählich aus der Tiefe meines Herzens auf. Es ist das Wort »geliebt«. Ich bin der festen Überzeugung, dass es mir um deinet- und deiner Freunde willen eingegeben worden ist.
Da ich ein Christ bin, habe ich dieses wunderbare Wort zum ersten Mal bei der Geschichte von der Taufe Jesu von Nazaret gehört. »Kaum war Jesus aus dem Wasser aufgetaucht, da sah er, wie der Himmel aufgerissen wurde und der Geist wie eine Taube auf ihn herabkam. Und vom Himmel her rief eine Stimme: Du bist mein geliebter Sohn; mein Wohlgefallen ruht auf dir.« (Markus 9, 1 ff.)
Schon jahrelang hatte ich diese Worte immer wieder gelesen, hatte über sie nachgedacht und sogar Predigten und Vorträge über sie gehalten, aber erst seit unseren Gesprächen in New York haben sie für mich einen Sinn bekommen, der weit über die Grenzen meiner eigenen religiösen Tradition hinausreicht. Unsere vielen Gespräche brachten mich zu der inneren Überzeugung, dass diese Worte: »Du bist mein geliebter Sohn« die innerste Wahrheit eines jeden Menschen freilegen, ganz gleich, welcher besonderen Tradition sie angehören mögen.
Fred, alles, was ich dir sagen möchte, ist in dieser Zusage zusammengefasst: »Du bist der geliebte Mensch«, und ich kann nur hoffen, dass du diese Worte als direkte Anrede an dich aufnehmen kannst, dir zugesprochen mit aller Zärtlichkeit und Kraft, die die Liebe nur je haben kann. Mein einziger Wunsch ist, dass diese Worte in jeder Zelle deines Wesens widerhallen mögen: »Du bist ein geliebter Mensch«.
Das größte Geschenk, das dir meine Freundschaft geben kann, ist das Geschenk der Tatsache und Einsicht, dass du geliebt wirst. Ich kann dir dieses Geschenk nur dann machen, wenn ich es auch für mich selbst in Anspruch genommen habe. Geht es nicht bei aller Freundschaft zutiefst genau darum: dass man einander das Geschenk macht, geliebt zu sein?
Ja, es gibt die Stimme, die Stimme der Liebe, die Stimme, die vom Himmel her und aus deinem Inneren zu dir spricht, einmal leise geflüstert, ein anderes Mal laut gerufen: »Du bist mein Geliebter, an dir habe ich Wohlgefallen.« Es ist gewiss nicht einfach, sie in einer Welt zu hören, die voller Stimmen ist, die schreien: »Du taugst zu nichts, du bist hässlich, du bist wertlos, bist unnütz, du bist niemand – oder beweise gefälligst das Gegenteil!«
Diese negativen Stimmen sind so laut und durchdringend, dass wir ihnen nur allzu schnell Gehör schenken. Das ist die große Falle. Es ist die Falle der Unzufriedenheit mit sich selbst. Im Lauf der Jahre bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass die größten Fallen in unserem Leben nicht der Erfolg sind, nicht die Berühmtheit und nicht die Macht, sondern die Verachtung seiner selbst.
Erfolg, Berühmtheit und Macht können tatsächlich eine große Versuchung darstellen, doch werden sie oft nur dadurch zu so starken Verführern, dass sie im Dienst der viel größeren Versuchung stehen, sich selbst geringzuschätzen. Wenn wir schließlich den Stimmen glauben, die uns unnütz und nicht liebenswert heißen, leuchten uns Erfolg, Berühmtheit und Macht leicht als anziehende Lösungen auf. Aber die wirkliche Falle ist die Verachtung seiner selbst.
Immer wieder überrascht es mich, wie schnell ich vor dieser Versuchung kapituliere. Sobald mir jemand etwas vorwirft oder mich kritisiert, sobald ich mich abgelehnt, alleingelassen oder vergessen fühle, kommen mir Gedanken wie: »Ich hab’s ja schon immer gewusst, dass ich nichts bin.« Statt die Umstände kritisch in Augenschein zu nehmen oder mir klarzumachen, dass ich und auch die anderen ihre Grenzen haben, neige ich dazu, mir selbst den Schwarzen Peter zuzuschieben – nicht nur dafür, was ich getan habe, sondern auch dafür, wer und was ich bin. Mein Schatten sagt: »Ich tauge nichts … es geschieht mir gerade recht, wenn ich beiseite geschoben, vergessen, abgelehnt, verlassen werde.«
Vielleicht denkst du, dass du eher von der Überheblichkeit als vom Minderwertigkeitsgefühl in Versuchung geführt wirst. Aber ist nicht in Wirklichkeit die Überheblichkeit nur die Kehrseite des Minderwertigkeitsgefühls? Besteht der Hochmut nicht darin, dass du dich auf ein Podest stellst, damit dich niemand so sieht, wie du dich selber siehst? Ist bei näherem Zusehen nicht deine Überheblichkeit nur ein schlaues Mittel, um deine Gefühle, nichts wert zu sein, zu überspielen?
Sowohl das Minderwertigkeitsgefühl als auch die Überheblichkeit entheben uns dem tatsächlichen Leben und Umgang und machen es äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich, dass die Menschen friedlich und gütig miteinander zusammenleben. Ich weiß nur zu gut, dass hinter meiner Überheblichkeit sehr viel Selbstzweifel stecken, genau wie hinter meiner Selbstverachtung sehr viel Stolz steckt. Ob ich mich nun aufblähe oder mich herabsetze – in jedem Fall entferne ich mich von meinem wirklichen Wesen und verzerre mein Bild der Wirklichkeit.
Ich hoffe, du kannst ein Stück weit auch in dir die Versuchung zur Selbstverachtung ausmachen, mag sie sich nun eher als Überheblichkeit oder eher als Minderwertigkeitsgefühl äußern. Nicht selten betrachtet man die Geringschätzung seiner selbst lediglich als neurotischen Ausdruck einer unsicheren Persönlichkeit. Aber die Neurose ist oft der psychische Ausdruck einer viel tieferen Not des Menschen: des finsteren Gefühls, im menschlichen Dasein nicht wirklich willkommen zu sein.
Die Verachtung seiner selbst ist der größte Feind des geistlichen Lebens, denn sie sagt das gerade Gegenteil davon, was die Stimme vom Himmel her sagt: »Du bist ein geliebter Mensch.« Dass wir geliebte Wesen sind, ist die Kernwahrheit unseres Daseins.
Ich stelle das so direkt und einfach in die Mitte, denn obwohl mir in meinem Leben die Erfahrung, geliebt zu sein, nie ganz fremd war, habe ich mich dennoch niemals an sie als die Grundwahrheit gehalten. Ich rannte immer in einem größeren oder kleineren Bogen um sie herum, ständig auf der Suche nach jemandem oder etwas, der oder das in der Lage gewesen wäre, mich davon zu überzeugen, dass ich wirklich geliebt werde. Es war, als stellte ich mich hartnäckig gegenüber der Stimme taub, die aus der Tiefe meines eigenen Wesens zu mir spricht und mir sagt: »Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.«
Diese Stimme ist immer dagewesen, aber anscheinend war ich darauf aus, lieber auf andere, lautere Stimmen zu hören, die mir zuriefen: »Beweise, dass du etwas wert bist; vollbringe etwas Bedeutendes, Aufsehenerregendes oder Imponierendes; damit kannst du dir die Liebe verdienen, nach der du dich so sehnst!« Derweil überhörte ich die ganze Zeit die leise, gütige Stimme, die im Schweigen und in der Einsamkeit meines Herzens zu mir spricht, oder ließ mich von ihr jedenfalls nicht überzeugen.
Diese leise, gütige Stimme, die mich den Geliebten Sohn nennt, sprach in vielfältigster Weise zu mir. Meine Eltern, Freunde, Lehrer, Studenten und die vielen Fremden, die mir auf meinem Lebensweg schon begegnet sind, trugen mir, jeder auf seine ganz eigene Art, etwas vom Klang dieser Stimme zu. Sehr viele Menschen haben sich schon mit viel Zärtlichkeit und Güte um mich gekümmert. Viele haben mich mit viel Geduld und Ausdauer unterrichtet und unterwiesen. Viele haben mir Mut gemacht, meinen Weg weiterzugehen, als ich fast aufgeben wollte, und wenn ich versagt habe, gab es viele Menschen, die mir aufgeholfen und mir gesagt haben, ich solle es eben noch einmal versuchen. Ich hatte auch schon Erfolge zu verzeichnen, bin ausgezeichnet und gelobt worden … aber alle diese Zeichen der Liebe genügten doch nicht, um mich davon zu überzeugen, dass ich Gottes Geliebter Sohn sei.
Hinter all meinem vordergründig so augenfälligen Selbstvertrauen lauerte dennoch weiter die Frage: »Würden mich alle diese Menschen, die mich derart mit Aufmerksamkeit überschütten, auch noch lieben, wenn sie mich so, wie ich in meinem Innersten bin, sehen und erkennen würden?« Diese quälende Frage, die mir mein innerer Schatten zuflüsterte, verfolgte mich unablässig. Ihretwegen rannte ich von der Stelle fort, an der ich die leise Stimme hätte vernehmen können, die mir versicherte, ich sei ein Geliebter Sohn.
Ich glaube, du verstehst, wovon ich rede. Hoffst du nicht genau wie ich darauf, irgend ein Mensch, ein Ding oder ein Ereignis werde eines Tages daherkommen und dir endgültig und zutiefst das Gefühl schenken, nach dem du dich sehnst, ganz und gar richtig und bejaht zu sein? Hoffst nicht auch du oft: »Wenn doch dieses Buch, dieser Gedanke, dieser Kurs, diese Reise, dieser Job, dieses Land oder diese Beziehung endlich meine tiefste Sehnsucht erfüllen würde!«? Doch solange du auf diesen geheimnisvollen Augenblick wartest, wirst du weiter kopflos durch die Gegend rennen, ständig unsicher und ruhelos, ständig auf Befriedigung aus und immer aufs Neue enttäuscht, niemals wirklich zufrieden.
Du weißt, dass es das ist, was uns zwanghaft umtreibt, was uns ständig ins Laufen und hektische Getue hetzt – und uns zugleich mit der nagenden Frage allein lässt, ob wir mit all unserem Gerenne jemals an ein Ziel kommen werden. So läuft man geradewegs in die geistliche Erschöpfung und das innere Ausgebrannt werden hinein. Es ist der Weg in den geistlichen Tod.
Aber schau, du und ich, wir brauchen...