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Kompetenzen anerkennen

Was Deutschland von anderen Staaten lernen kann

VerlagVerlag Bertelsmann Stiftung
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl616 Seiten
ISBN9783867937146
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis32,99 EUR
In Deutschland und auch in anderen europäischen Staaten wird darüber diskutiert, wie beruflich relevantes Erfahrungswissen besser erfasst und sichtbar gemacht werden kann. Formale Abschlüsse sichern bisher die Teilhabe am Arbeitsleben. Menschen lernen jedoch auch informell in Beruf und Freizeit sowie nonformal in der Weiterbildung - also kontinuierlich und über formale Bildungseinrichtungen hinaus. Diese Kompetenzen gelten bisher wenig, obwohl sie für die berufliche Handlungsfähigkeit in vielen Fällen bedeutender sein mögen als formell zertifiziertes Wissen und Können. Vor allem formal Geringqualifizierte und Zuwanderer können profitieren. Ein Anerkennungssystem hilft besonders ihnen, aber auch den anderen Erwerbstätigen sowie den Unternehmen, wenn es darum geht, alle berufsrelevanten Kompetenzen verwertbar zu machen. In einigen Ländern Europas gibt es bereits Verfahren mit Zertifikaten, die auf dem Arbeitsmarkt anerkannt sind. Anhand von sieben europäischen Ländern wird ein Überblick gegeben, wie die Anerkennung von Kompetenzen in Bezug auf Rechtsgrundlagen, Instrumente und Verfahren, aber auch hinsichtlich Finanzierung, Institutionalisierung und Supportstrukturen funktionieren kann. Die in diesem Buch illustrierten Erfahrungen anderer Länder geben Deutschland auf dem Weg zu einem verbindlichen Anerkennungssystem wichtige Hinweise für wirksame Lösungen.

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Leseprobe

2 Grundlagen der Anerkennung des informellen Lernens


Eckart Severing

2.1 Die wachsende Bedeutung des informellen beruflichen Lernens


Unter »beruflichem Lernen« verstehen die meisten Menschen ihre berufliche Ausbildung, sei es in einem geregelten Ausbildungsberuf, an einer Hochschule oder einer anderen Bildungseinrichtung, und in zweiter Linie noch ihre Weiterbildung in Kursen und Seminaren. Damit blenden sie bedeutende weitere Wege aus, auf denen sie ihre beruflichen Kenntnisse und Kompetenzen erweitern. Das ist nicht verwunderlich, denn diese Wege sind nicht so offenkundig, institutionell fixiert, gesellschaftlich respektiert, dokumentiert und zertifiziert wie das Lernen in Bildungseinrichtungen. Seit den 1960er-Jahren befasst sich die Berufsbildungsforschung – zunächst in den USA, später auch in Deutschland – mit dem »informellen Lernen«, einer Art des Lernens also, die nicht im Unterricht und Seminar, sondern gleichsam beiläufig geschieht. Ergebnisse dieser Forschung zeigen, dass bereits wenige Jahre nach der Erstausbildung der überwiegende Teil des beruflich relevanten Wissens und der Kompetenzen aus Lernen am Arbeitsplatz, im Austausch mit Kollegen und Experten, in der Freizeit und durch die Nutzung von nicht pädagogischen Medien geschieht.

Lernen findet in einer Wissensgesellschaft eben nicht nur in Kindergärten, Schulen und Universitäten statt. Mit dem Wort von der »Entgrenzung des Pädagogischen« (Kade 1997) ist gemeint, dass die Reproduktion komplexer Gesellschaften auf der dynamischen Umwälzung und Erweiterung von Wissen beruht und damit auf Mechanismen der Genese und Aneignung von Wissen, die alle gesellschaftlichen Institutionen durchziehen und die nicht mehr auf Bildungseinrichtungen oder auf das erste Lebensdrittel der Gesellschaftsmitglieder begrenzt bleiben. Das Ideal der beruflichen Erstausbildung, möglichst viel von dem Wissen und den Kompetenzen, die im Lebensberuf benötigt werden, vor dem Berufseinstieg zu vermitteln, entstammt noch einer bildungspolitischen Vorstellung der Facharbeitsgesellschaft der 1960er- und 1970er-Jahre; es ist in dem Maße obsolet, in dem das berufliche Wissen in schnellen Zyklen umschlägt.

Informelles Lernen gilt daher inzwischen nicht mehr als zweitrangige Form des beruflichen Lernens, sondern als ebenso wichtig und notwendig wie die formale (abschlussbezogene) und in dieser Studie darunter subsumierte nonformale (organisierte, aber nicht abschlussbezogene) Bildung (zur begrifflichen Differenzierung vgl. Dohmen 2001; Overwien 2005; Livingstone 2006; Zusammenfassungen: Schmidt-Hertha 2011: 233; Annen 2012: 63). Das formale Lernen ist auf die Vermittlung festgelegter Lerninhalte und Lernziele gerichtet, informelles Lernen zeichnet sich hingegen durch seine Offenheit aus. Es wird in der Regel ohne pädagogische Vorstrukturierung gelernt (Dehnbostel 2014; Knowles 1975: 18). Der Lernimpuls entsteht oft aus praktischen Anforderungen und das Lernen findet bei der Bewältigung dieser Anforderungen statt (Dohmen 2001).

Die Potenziale informeller Lernkontexte sind mehrfach durch Teilnehmerstudien belegt worden. So resümiert die NALL-Erhebung (eine Erhebung des kanadischen Forschungsnetzwerks New Approaches to Lifelong Learning, die 1998 mit 1.562 Befragten durchgeführt wurde), »dass die Erwachsenenbildung einem Eisberg gleicht – weitgehend den Blicken entzogen, aber in ihren verborgenen informellen Aspekten von gewaltigen Ausmaßen« (Livingstone 1999: 77). Insbesondere in der Weiterbildung liegt die Reichweite der informellen Weiterbildung deutlich höher als die Weiterbildungsbeteiligung an Lehrgängen und Seminaren (Kuwan et al. 2000; Schmidt-Hertha 2011). Die quantitative Bedeutung des informellen Lernens in Betrieben wird oft unterschätzt: Gemäß einer repräsentativen Studie zum Weiterbildungsbewusstsein der deutschen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter geben nur 14 Prozent der Befragten formalisiertes Lernen als wichtigsten Lernkontext an, für 87 Prozent waren andere Lernkontexte, vor allem das »arbeitsbegleitende Lernen« (58 %) wichtiger (Baethge und Baethge-Kinsky 2004: 43). Im Weiterbildungsgeschehen in Deutschland ist die betriebliche Weiterbildung mit 69 Prozent aller Weiterbildungsaktivitäten (Teilnahmefälle) der größte und inzwischen wieder wachsende Bereich (individuelle berufsbezogene Weiterbildung: 13 %, nicht berufsbezogene Weiterbildung: 18 %; Erhebungszeitraum 2012) (BMBF 2013: 17).

Wenn in neuerer Zeit nicht nur Bildungsforscher, sondern auch Bildungspolitiker und Bildungsverantwortliche in Unternehmen und Bildungseinrichtungen das informelle berufliche Lernen für ein zentrales Thema halten, dann hat das mehrere Gründe:

Für Unternehmen gilt: Weil das berufliche Wissen nicht mehr nur in Generationsabständen umschlägt, ist es zu einer Notwendigkeit geworden, die berufliche Erstausbildung eher auf die Vermittlung langfristig nutzbarer grundlegender Kompetenzen zu konzentrieren und im Gegenzug das »Lernen im gesamten Berufsverlauf« auszuweiten. Diese Notwendigkeit stellt sich naturgemäß in stationären Berufen – einigen Abteilungen des Handwerks und der einfachen Dienstleistung – weniger als in Berufen mit hohem Innovationstempo und in einfachen Tätigkeiten weniger als bei komplexer Wissensarbeit. Der Wandel von einer Produktions- zu einer Dienstleistungsgesellschaft führt zu einer zunehmenden Zahl von Unternehmen, deren Erfolg auf der produktiven Nutzung von Wissensarbeit beruht. Diese Unternehmen können sich nicht auf die externe Bereitstellung von Qualifikationen und Kompetenzen in den Einrichtungen des Bildungswesens verlassen, die sie sich über die Einstellung von dessen Absolventen zugänglich machen. Sie sind auf Wissensvorsprünge ihrer Experten und damit auf eine kontinuierliche Erweiterung der Wissensbestände im Unternehmen angewiesen (Nonaka und Takeuchi 1997; Pawlowski 1998). In der betrieblichen Bildung überwiegt inzwischen das informelle Lernen gegenüber dem formalen: 78,5 Prozent der Unternehmen setzen auf Lernen am Arbeitsplatz, Informationsveranstaltungen und mediengestütztes Lernen, 76,3 Prozent finanzieren eigene oder externe Kurse und Seminare (Lenske und Werner 2009).

Die Bildungspolitik in Deutschland sieht sich durch einen segmentierten Arbeitsmarkt herausgefordert. Es fehlen Fachkräfte – und zugleich bleibt die Arbeitslosigkeit der beruflich Geringqualifizierten hoch. Die nachträgliche Vermittlung von beruflichen Abschlüssen für Erwachsene ist ein Mittel, dieser Segmentierung entgegenzutreten. Die geringen Quoten erfolgreicher »Nachqualifizierung« bis hin zum Berufsabschluss zeigen aber, dass mit solcher formaler Weiterbildung viele An- und Ungelernte nicht erreicht werden. Die Bildungspolitik muss Antworten darauf finden, dass sich das Fachkräftepotenzial in Deutschland in Zukunft nicht weit überwiegend aus einheimischen Schulabsolventen rekrutieren wird, sondern auch aus einer heterogenen Mischung von Menschen ohne formale Schul- oder Berufsabschlüsse, mit schwer einschätzbaren ausländischen Abschlüssen oder mit Abschlüssen, die vor vielen Jahren in anderen als den ausgeübten Berufen erworben wurden. Solche atypischen Bildungsverläufe sind mit den bestehenden Zertifikatssystemen nicht abzubilden. Diesen Gruppen müssen Zugänge im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt geöffnet werden, damit ihr Arbeitsmarktrisiko verringert werden kann und demographisch bedingten Fachkräfteengpässen entgegengetreten werden kann. Eine bildungspolitische Devise ist daher, das Lernen im gesamten Berufsverlauf auszuweiten und aufzuwerten. Im Koalitionsvertrag der aktuellen 18. Legislaturperiode sind unter der Überschrift »Kompetenzen anerkennen« Initiativen vereinbart worden, mit denen nicht durch Zertifikate belegte Kompetenzen sichtbar gemacht werden sollen (Koalitionsvertrag 2013). Das hat dazu geführt, dass sich auch die Akteure der formalen Bildungssysteme, für die das zuvor nur ein marginales Thema gewesen war, in bildungspolitischen Gremien mit Strategien der Validierung befassen.

Diese Herausforderung besteht nicht nur in Deutschland. Mit Beschluss des Rates der Europäischen Union vom 20. Dezember 2012 (Rat der Europäischen Union 2012) sind alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgefordert, bis 2018 Möglichkeiten der Zertifizierung für informell erworbene Kompetenzen zu schaffen. Der Beschluss empfiehlt den Mitgliedstaaten, Regelungen zu schaffen, die es dem Einzelnen möglich machen, seine informell oder nonformal erzielten Lernergebnisse validieren zu lassen und auf dieser Grundlage eine volle oder partielle Berufsqualifikation zu erhalten. Unter Validierung werden Verfahren verstanden, bei denen »eine zugelassene Stelle bestätigt, dass eine Person die anhand eines relevanten Standards gemessenen Lernergebnisse erzielt hat« (ebd.: 5). Der Europäische Rat hebt in seiner Empfehlung die Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit für sozial Benachteiligte und An- und Ungelernte hervor. Für die erfolgreiche Etablierung eines Systems der...

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