I.
Besuche bei Marke und Werk
Durch den Boom der Freizeitparks ist in den letzten Jahren auch in Europa das Bedürfnis nach begehbaren Erlebniswelten gestiegen. Viele Menschen sind inzwischen daran gewöhnt, sich an emotional gestaltete Orte zu begeben, die ähnliche Vergnügungen bereithalten wie früher nur der Spielfilm oder das Fernsehen. Doch Freizeitparks sind in erster Linie Kinderwelten. Ihre Geschichten sind Kindergeschichten und sie richten sich dementsprechend auch an Familien mit Kindern. Wo aber werden die Erwachsenengeschichten erzählt, die großen Geschichten über Technikfaszination, leidenschaftliche Erfinder, Essen und Trinken oder beeindruckendes Design?
Erlebnisse für Erwachsene bieten heutzutage die Messen und die inszenierten Markenausstellungen, die Brandlands. Große Publikumsmessen wie die IFA – die Internationale Funkausstellung in Berlin –, die IAA – die Internationale Automobilausstellung in Frankfurt – oder die CeBIT in Hannover sind Orte, an denen die Inszenierung zunehmend genauso wichtig wird wie der eigentliche Neuigkeitswert der präsentierten Produkte. Brandlands, Markenausstellungen, haben allerdings im Vergleich zu inszenierten Messen mehrere Vorteile: Ein Vorteil ist ganz sicherlich die Budgetierung. Wenn man bedenkt, dass die großen Automobilhersteller für die IAA 50 Millionen Euro oder mehr ausgeben, und das für einen Zeitraum von zehn Tagen, dann kann man sich vorstellen, wie schwierig es ist, solche großen, teuren Inszenierungen für so kurze Zeit zu finanzieren.
Brandlands können viele Jahre unverändert stehen. Und sie haben noch einen weiteren Vorteil im Vergleich zu Messen: Sie sind einfach architektonisch beeindruckender. Das Gelände eines Brandlands wird meist neu gebaut. Viele Messegelände aber sind gewachsen und daher oft labyrinthisch angeordnet, verstecken die Marken in den Hallen, sodass eigentlich die Attraktivität nur in der Halle spürbar ist, aber nicht auf dem Gesamtgelände. Brandlands wie die Autostadt von VW in Wolfsburg können von vornherein so gebaut werden, dass sie sich nach außen als emotional nachvollziehbares Gelände vermitteln. Die Autostadt von Wolfsburg hat zum Beispiel ein spektakuläres Wahrzeichen: Das sind die beiden großen Türme, die je 400 Autos fassen, die auf ihre Besitzer warten. Da gibt es eine beeindruckende räumliche Erschließung, die nach der Methode der kognitiven Landkarte vorstrukturiert ist. Die Entrance Map, die man in die Hand gedrückt bekommt, zeigt deutlich eine Aufteilung in unterschiedliche Markenwelten, die wie Inseln in einer Wasser- und Gartenlandschaft liegen: Da gibt es den Bereich des KonzernForums, da gibt es den Bereich der Auslieferung, da gibt es das Hotel. Im Vergleich zu einer Messe kann ein Brandland einfach nach außen als Erlebnispark sichtbar gemacht werden und es können alle wesentlichen Markenbotschaften auch außen spürbar werden.
Für Messen und für Brandlands gilt jedenfalls, dass das Liveerlebnis, die tatsächlich gemachte Erfahrung, einen höheren Erinnerungswert hat als bloße Werbung oder konventionelle PR. Wenn man einen zweitägigen Ausflug nach Wolfsburg macht oder die IAA besucht, dann hat man eben einen Ausflug gemacht und hat etwas getan, was Bestandteil des eigenen Lebens, der individuellen Erfahrung geworden ist: einen Besuch bei der Marke oder dem Werk.
2. Brandlands
Markenaufladung durch permanente Ausstellungen
»Mäh«, sagt die Ziege, als wir unter der Kuppel im Eingangsbereich des Capriz an einem langen Seil ziehen und damit den Soundchip starten. Auf dem Weg von Innsbruck ins südtiroler Bruneck haben uns irgendwo im Pustertal ein paar Ziegenskulpturen angelockt, deren Köpfe frech durch die Glasfassade des Designgebäudes lugten. Wo sind wir hier? In einem Brandland, das seit 2013 die Südtiroler Edelkäsemarke Capriz promotet und uns eiligen Reisenden ein unerwartetes »Experience Snacking« ermöglicht. Unglaublich, hier im Nirgendwo steht nicht nur ein Bistro mit angeschlossenem Superladen für Weichkäse von Kuh und Ziege, sondern auch ein selbstironisches Brandland auf der Höhe der Zeit. Seine Mission: uns die sympathische Ziege nahebringen und einen Schulterblick auf die Käseerzeugung ermöglichen. Wir sehen durch die Glaswand auf Metallcontainer und bekommen erklärt, was darin passiert. Wir schubsen in einem weißen Raum riesige, knuddelige, von der Decke hängende weiße Tropfen an – es sind Platzhalter für die Fetttropfen in der Milch. Da taucht der junge Käsemeister auf hochkant hängenden Screens auf und erzählt staubtrocken, aber überzeugend von seiner Arbeit. All das bringt uns an Käseerzeugung und Tier dahinter wieder näher heran, denn wir Städter wissen davon nicht mehr viel.
In der Zeit vor der industriellen Revolution war für die Menschen die Herstellung eines Produktes noch unmittelbar zugänglich. Man konnte zusehen, wenn der Schuster die Schuhe reparierte, wenn die Handwerker etwas herstellten. Das Dabeisein erzeugte Glaubwürdigkeit und Nähe und hielt den Bedarf aufrecht, etwas Neues kaufen oder eine Dienstleistung in Anspruch nehmen zu wollen. Dann wurde die gesamte Produktion in Fabriken weggeschlossen. Die Sehnsucht nach dem neuen Produkt wurde nun durch Reklame, die gerade erfunden wurde, gewährleistet. Was jedoch verloren ging, war die unmittelbare Nähe zur Produktion, die Glaubwürdigkeit und die Überzeugungskraft. Diese Funktion haben heute die permanenten Ausstellungen am Unternehmensstandort übernommen: die Brandlands, die neuen Markenwelten.
Eine Art Vollversion eines Brandlands ist die VW-Autostadt in Wolfsburg (siehe Abbildung im Bildteil). Sie ist zum einen ein Ort des Begreifens, an dem uns die Marke verständlich gemacht wird: durch sinnliches Erklären im KonzernForum und im ZeitHaus. Dort befindet sich eine kleine Inszenierung, die vor Augen führt, auf welche Weise Solarenergie funktioniert. In einer Glasvitrine sieht man kleine Autos, die über Sand fahren. Wenn man die beweglichen Lampen über sie hält, beginnen die Autos zu fahren, schwenkt man die Lampe weg, bleiben die Autos unmittelbar darauf stehen – Seeing is Believing. Exakt dieselbe Inszenierung findet sich in der Kinderabteilung der berühmtem Cité des Sciences et de l’Industrie in Paris, einem Wissenschaftsmuseum der neuen Art. Daran kann man erkennen, woher dieser Brandland-Typus kommt, der einem die Marken verständlich und begreifbar macht, nämlich von den modernen Science-Museen, die es weltweit gibt.
Der zweite Brandland-Typus ist der Ort der Verehrung, der Aufladung der Marke. Das sind bei der Autostadt die Markenpavillons Audi, Seat, Škoda, Bentley, VW und neuerdings Porsche, die im Park verstreut sind. Sie erklären überhaupt nichts über die Marken, sondern sie sind nur dazu da, die Emotionalität der Marken aufzuladen und ihr Image zum Glühen zu bringen. Da ist zum Beispiel das Gebäude von Lamborghini, ein schwarzer Kubus wie die Kaaba in Mekka, und mit einer Show, bei der nichts anderes passiert, als dass ein Lamborghini hinter Gittern wie ein wildes Tier zum Brüllen gebracht wird, das Auto sich schließlich unter Rauch- und Lichteffekten von innen nach außen dreht, für einige Sekunden an der Außenwand des Pavillons hängt, bis es sich wieder nach innen bewegt und die Show dort zu einem grandiosen Finale geführt wird, das einen unmittelbar die Kraft, die Wildheit, die Ungebändigtheit und Energie des Autos spüren lässt.
Abb. 6: Entrance Map Autostadt, Wolfsburg
Da ist schließlich auch der Ort des Begehrens. Das sind jene Brandland-Orte, bei denen die Auslieferung der Ware an den Kunden im Vordergrund steht und an denen die Spannung, die Sehnsucht nach dem Produkt, die man unmittelbar vor der Übergabe spürt, zusätzlich dramatisiert und inszeniert wird. Diese Inszenierung der Spannung erfolgt bei VW durch die beiden großen Autotürme, die sozusagen die Objekte der Begierde enthalten. Wenn man weiß, dass in drei Stunden der große Aufzug kommen wird, der das eigene Auto in die Auslieferungshalle hinunterbringt, dann steht man mit einem besonderen Blick der freudigen Erwartung vor diesen Türmen. Diese Antizipation, diese Neugier und Spannung, überträgt sich auch auf alle anderen Besucher, die einfach gekommen sind, um das Gelände zu erleben, und die gar keinen Wagen abholen werden.
Der Ort des Begreifens
Der Ursprung dieser Orte des Begreifens sind eindeutig die früher so beliebten Werksbesichtigungen. Selbst in der gestylten VW-Autostadt kann man noch eine Haltestelle mit dem Schild »Werksbesichtigung« entdecken. Werksbesichtigungen funktionieren nach der Dramaturgie des Über-die-Schulter-Schauens. Sie haben eine Funktion übernommen, die sich früher ganz selbstverständlich ergab, wenn man einem Handwerker zusah. Werksbesichtigungen gibt es bei allen großen Automobilherstellern, in Deutschland besonders bei VW, Mercedes oder Opel. Welche emotionale Kraft hinter einer Werksbesichtigung steht, habe ich selbst erlebt, als ich zuerst über die Baustelle der noch unfertigen VW-Autostadt kletterte und danach die Gelegenheit hatte, auch das Werk zu sehen. Da waren die Stanzmaschinen, die mit unglaublicher Kraft das Metall herausstanzten, sodass der Betonboden vibrierte. Da waren die Roboter, unter denen es einen Nachzügler gab, der deshalb von den VW-Mitarbeitern mit einem besonderem Spitznamen versehen wurde. Solche Details zu sehen macht einfach Spaß und ist authentisch: Man hat das Gefühl, live mitzuerleben, was da eigentlich passiert.
Dieses Zusehen-Können wird überall in der Welt eingesetzt, um Nähe zu den Produkten zu erzeugen.
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