2. Die Tradition des Wahr-Sagens in der russischen Kultur
In der russischen Kultur gibt es eine Reihe von »verfluchten Fragen«, die sich in verkürzter Form wie folgt formulieren lassen: Wer sind wir? Wohin gehen wir? Was tun? Wer ist schuld? Dabei werden diese Probleme jedoch nicht nüchtern erörtert, sondern münden oft in eine Wahrheitsfrage. Die Position, die vertreten wird, soll sich nicht nur argumentativ begründen lassen, sondern muss darüber hinaus über die metaphysische Weihe einer höheren Wahrheit verfügen. Darin liegt ein deutlicher Unterschied zu westlichen Wahrheitskonzeptionen, in denen der Skeptizismus und die immer mögliche Falsifikation einer einmal gewonnenen Position eine wichtige Rolle spielen. Natürlich gibt es von jeher auch kritisches Denken in Russland, allerdings hat es sich oft im Schatten der Macht entwickelt. Auch heute bewegen sich Oppositionelle und Nonkonformisten in ganz anderen Begründungszusammenhängen als die Regierung, wenn sie ihre Kritik an den herrschenden Zuständen formulieren. Dabei sind sie jedoch gegenüber der staatlichen Herrschaft immer in der schwächeren Position, weil sie ihre Wahrheit nicht mit der gleichen Effizienz in den Massenmedien verbreiten können.
Michel Foucault hat die abendländische Wissensordnung als einen Wettbewerb von »Veridiktionen« beschrieben.[1] Eine Veridiktion ist für Foucault eine Wahr-Sagung im engen Sinn des Wortes: In der Arena einer politischen Ordnung kämpfen verschiedene Wahrheitsentwürfe miteinander. Die Geltung einer bestimmten »Wahrheit« wird öffentlich propagiert, juristisch kodifiziert und polizeilich kontrolliert. Ein klassisches Beispiel ist die gesellschaftliche Ausgrenzung des »Wahnsinns«, dem in der bürgerlichen Gesellschaft keine Wahrheitschancen zugetraut werden. Foucault identifiziert im Irrenhaus jene Institution, die mit einer Reihe von Überwachungs- und Disziplinierungsmechanismen den »Wahnsinn« domestiziert und ihn in einer gesellschaftlich etablierten »Normalität« bewältigbar erscheinen lässt.
In der Sowjetunion war der Machtapparat das entscheidende Mittel, um Veridiktionen durchzusetzen. Die Kremlführer ließen sich in ihrem politischen Handeln vom Bewusstsein leiten, dass »Genosse Mauser«[2] das letzte Wort haben würde. Deutlich kam diese Haltung zum Ausdruck, als Stalin den Einfluss des Katholizismus mit der Bemerkung »Wie viele Divisionen hat der Papst?« für vernachlässigbar erklärte.[3] Es ist eine der Ironien der Geschichte, dass der Zusammenbruch des kommunistischen Machtsystems gerade im katholischen Polen begann – eine wichtige Rolle spielte dabei der Schulterschluss zwischen dem Gewerkschaftsführer Lech Wałȩsa und Papst Johannes Paul II.
Die Sowjetideologen wähnten sich im Besitz einer absoluten Wahrheit. Deutlich zeigte sich dies im Titel der Prawda, des offiziellen Publikationsorgans des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, die sich nach einem geflügelten Wort von Lenin als »Verstand, Ehre und Gewissen« der Epoche verstand. Bis heute steht auf dem Moskauer Theaterplatz ein Karl-Marx-Denkmal, in das folgendes Lenin-Zitat in Stein gemeißelt ist: »Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.«
Im Russischen gibt es zwei Termini für »Wahrheit«: Prawda und Istina. Etymologisch ist Prawda von der Wurzel für »Recht« abgeleitet, Istina geht auf das Wortfeld »Sein« zurück. Prawda ist der ältere Begriff, der zunächst die »Göttliche Gerechtigkeit« bezeichnet. Später bezeichnete Prawda auch den Wahrheitsanspruch säkularer Herrschaftsakte. Demgegenüber verweist Istina auf das wahrhaft Seiende, das auf einen göttlichen Ursprung zurückgeht. In der Sowjetkultur wurde der Begriff Istina seiner metaphysischen Bedeutung beraubt und meinte nur noch »das Wissen, das die objektive Realität korrekt widerspiegelt«.[4] Prawda verweist mithin auf die gesetzte Wahrheit, während Istina die Seinsweise der Wahrheit bezeichnet.[5]
Der Religionsphilosoph Nikolaj Berdjajew kritisierte in dem Sammelband Wegzeichen (1909) die Fixierung der russischen Intelligenzija auf soziale Anliegen. Mit diesem Begriff wird in Russland seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jene gebildete Gesellschaftsschicht bezeichnet, die nicht zur Aristokratie gehört und sich als geistige Elite der Nation begreift.[6] In seinem Aufsatz mit dem programmatischen Titel »Die seiende Wahrheit [istina] der Philosophie und die gerechte Wahrheit [pravda] der Intelligenzija« schrieb er ernüchtert: »Die Liebe zur gleichmachenden Gerechtigkeit, zum Wohl der Gesellschaft und zum Wohl des Volkes hat die Liebe zur Wahrheit paralysiert und das Interesse an der Wahrheit fast vernichtet.«[7] Später widmete Berdjajew dem Problem der Wahrheit ein ganzes Buch mit dem Titel Wahrheit und Offenbarung (1947). Wahrheit erschöpft sich für Berdjajew keinesfalls in der bloßen Faktizität, sondern stellt immer einen kreativen Prozess dar, an dessen Ende ein hoher Wert steht: »Es gibt keine abstrakte intellektuelle Wahrheit, sie ist ganzheitlich und kann auch mit einer Willens- und Gefühlsanstrengung erreicht werden. Die Einbildungskraft und die Leidenschaft können Ausgangspunkt der Erkenntnis der Wahrheit sein.« Berdjajew trägt seine Überlegungen bezeichnenderweise im Rahmen einer »Kritik der Offenbarung« vor: Wahrheit beruht aus seiner Sicht gerade nicht auf der passiven Schau des Göttlichen, sondern auf menschlicher, sinnstiftender Aktivität.[8]
Von jeher entzündete sich der Kampf um die Wahrheit in Russland an religiösen Fragen. So weigerte sich der Protopope Awwakum im 17. Jahrhundert im Namen der christlichen Wahrheit, die Kirchenreformen des Patriarchen Nikon nachzuvollziehen, und begründete die Sekte der »Altgläubigen« als konservative Protestbewegung. Awwakum wurde vom Staat und von der orthodoxen Kirche verfolgt und endete schließlich als Ketzer auf dem Scheiterhaufen. Seine »Lebensbeschreibung« gilt als erste russische Autobiographie und ist von dem Bewusstsein durchdrungen, der eigene Leidensweg stehe in der Nachfolge Christi.
Auch Wladimir Solowjow, der als Begründer einer eigenständigen russischen Religionsphilosophie gilt, betrachtete die Wahrheit als höchstes Ziel des menschlichen Strebens. Solowjow konnte das Wahre nicht ohne das absolute Sein denken. Bezeichnend ist Solowjows Zurückweisung von Kants kritischer Philosophie: Es genüge nicht, die Bedingungen der Möglichkeit von Wahrheit anzugeben. Solowjow glaubte, dass Kant auf dem halben Weg stehen geblieben sei und nicht zu einer positiven Bestimmung der Wahrheit gefunden habe.[9] Letztlich präsentiert sich die Wahrheit für Solowjow als All-Einheit, die in einer großen Synthese alles Seiende in sich aufnimmt. Die Wahrheit verfügt aus Solowjows Sicht über eine starke mystische Komponente, die jedoch rationales Wissen nicht ausschließt. Gerade die Einheit von Intuition und Argumentation verbürgt den Wahrheitsgehalt der Wissenschaft, die aber nie in reine Empirie abgleiten darf. Solowjow hat seinem kühnen Wahrheitsentwurf auch eine politische Dimension verliehen. Er erwartete einen eurasischen Weltstaat, in dem alle nationalen und ideologischen Gegensätze aufgehoben sein würden: ein »Reich der Wahrheit«.[10]
Lew Tolstoj, der große Antipode Solowjows in Fragen der Ethik,[11] insistierte auf der reinen Rationalität der Wahrheit. Mehr noch: Für Tolstoj war das wichtigste Merkmal der Wahrheit, dass sie sofort und ohne weitere Erklärungen verstanden werden kann. Schon in seiner frühen Erzählung »Sewastopol im Mai 1855« hatte er pathetisch ausgerufen: »Der Held meiner Erzählung aber, den ich mit der ganzen Kraft meiner Seele liebe, den ich in seiner ganzen Schönheit darzustellen bemüht war und der immer schön war, schön ist und schön sein wird, ist – die Wahrheit.«[12]
Hier liegt der Kern von Tolstojs Selbstverständnis als Künstler: Seine Aufgabe besteht darin, die Wirklichkeit von allem Zufälligen zu befreien und das wahre Wesen des Lebens freizulegen. Wenn man auf diese Weise zur Wahrheit vorgestoßen ist, offenbart sie sich selbst. Dieses Wahrheitskriterium wandte Tolstoj auch auf die Bibel an. Kurz vor seinem Tod vertiefte er sich in das Matthäus-Evangelium und knurrte nach der Lektüre: »Viel Überflüssiges, mühsam zu lesen. Noch schlechter geschrieben als Dostojewski.« Tolstoj verlangte auch von der Bibel, sie müsse sich eines klaren Ausdrucks bedienen. Am deutlichsten wurde diese Haltung in Tolstojs eigener Übersetzung des Anfangs des Johannes-Evangeliums, in der er den göttlichen »Logos« als »Verständnis des Lebens« wiedergab.[13] Letztlich verstand sich Tolstoj selbst als neuer Evangelist, der die verschüttete Wahrheit der Lehre Christi in allgemein verständlicher Form darlegen muss.
Das sowjetische Wahrheitsmonopol und seine Metamorphosen
Paradoxerweise wurde die emphatische Wahrheitskonzeption der religiösen Denker vom Sowjetmarxismus übernommen. Der Kurze Lehrgang aus dem Jahr 1934, der als verbindliche Selbstdarstellung der Kommunistischen Partei unter Stalin gelten darf, deklariert ganz offen seinen umfassenden Wahrheitsanspruch, der sich nicht nur auf die Deutung von Vergangenem und Gegenwärtigem erstreckt, sondern auch verlässliche Vorhersagen für...