Die letzten Stunden
Samstag, 1. Oktober 1988: Der dienstliche Teil des Tages beginnt mit einem Interview für die Bild am Sonntag. Dann erscheint Verteidigungsminister Rupert Scholz im Privathaus von Franz Josef Strauß. Sie reden und gehen anschließend um 12.30 Uhr aufs Oktoberfest. »Er machte auf mich einen ausgeglichenen, vitalen Eindruck«, sagt Scholz später. Im Zelt des Gastronomen Käfer, wo sich die Prominenten treffen, essen sie Kalbshaxe mit Semmelknödeln und Rotkohl, dazu trinken sie eine Schorle mit toskanischem Weißwein. Zweieinhalb Stunden später steigt Strauß in einen Polizeihubschrauber, der ihn zum »Aschenbrenner-Marter« im »Thiergarten« des Fürsten von Thurn und Taxis bringt. Es ist Brunftzeit, Strauß will auf die Hirschjagd gehen.
Bevor er in den Hubschrauber steigt, telefoniert er zwanzig Minuten lang mit seiner 26-jährigen Tochter Monika, die mit ihrem zweiten Kind schwanger ist. Strauß erkundigt sich nach seiner Enkelin und nach Monikas eigenem Befinden. Er erzählt ihr von seinem Gespräch mit Scholz und spricht mit ihr über die vielen Termine der vorangegangenen Woche. An diesem Wochenende, sagt er, wolle er sich erholen. Die Jagd beim Fürsten von Thurn und Taxis in dessen Wäldern rund zwölf Kilometer östlich von Regensburg soll Teil des Ausspannens sein. »Ich komm wahrscheinlich noch heut’ Nacht zurück«, sagt er seiner Freundin Renate Piller. »Wünsch mir Weidmannsheil!« Zwar hat er ihr kurz zuvor ein Jagdkostüm geschenkt, aber sie macht sich nichts aus der Jagd und will lieber mit einer Freundin auf eine Modemesse gehen.
Der Flug ist ruhig. Es herrscht nasskaltes Wetter bei zwölf Grad. Das »Aschenbrenner-Marter« liegt auf einer Bergkuppe, umgeben von vielen kleinen Jagdhäusern. Schon seit Tagen haben die Förster Sechzehnender gesehen und röhren hören. Vor dem Jagdhaus wartet bereits der Fürst mit seiner Familie – außerdem zwanzig livrierte Jäger und Diener. Strauß schickt seine Leibwächter ins Wochenende. »Der Hubschrauber landete um 15.50 Uhr«, erinnert sich Oberförster Bernd Riedl. »Strauß stieg aus, winkte den Piloten noch einmal zu und ging auf den vor dem Portal wartenden Fürsten zu.« Dann geht er zum Jagdauto und nimmt Platz. Haushofmeister Wilhelm Lechner reicht ihm das Jagdgewehr. »Bitte, Herr Ministerpräsident.« Da fasst Strauß sich ans Herz. »Halt«, sagt Strauß zum Fahrer. »Der Flug war ein bisschen anstrengend. Warten Sie noch.« Dann bricht er zusammen. Er ist leichenblass. »Sofort liefen drei Diener los, versuchten, den Bewusstlosen mit Mund-zu-Mund-Beatmung ins Leben zurückzuholen«, erinnert sich Oberförster Riedl. »Andere alarmierten über Funk das Krankenhaus und holten Decken herbei.« Fürst Johannes sagt später: »Zu diesem Zeitpunkt war ein Puls nicht feststellbar.«
Die Helfer und die Polizei piepen Dr. Rainer Tichy an, den Chefarzt für Anästhesie am Evangelischen Krankenhaus in Regensburg und leitenden Notarzt des Malteser Hilfsdienstes. Unterdessen versuchen drei Anwesende Strauß zu reanimieren. Sie pressen den großen Brustkorb, um das Herz wiederzubeleben. Ein Helfer bläst Luft in die Lungen. Weder Atemspende noch Brustmassage zeigen Erfolg. Die Helfer brechen Strauß vier Rippen – bei einem 73 Jahre alten Mann keinesfalls ein Fehler, sondern ein Zeichen für die richtige Dosierung der Kompression.
Gegen 16.30 Uhr landet Dr. Tichy im Hubschrauber etwa fünfzig Meter von dem Ort entfernt, wo Strauß bewusstlos am Boden liegt. Er eilt zu ihm und leitet sofort eine medizinische Grundversorgung ein, um Atmung und Kreislauf zu stabilisieren. Strauß muss mit seinen Kreislaufbeschwerden schnell in ein Krankenhaus, entscheidet Dr. Tichy: »Wenn der Ministerpräsident länger bewusstlos dort gelegen hätte, hätte die Gefahr bestanden, dass er ersticken konnte und weitreichende vitale Störungen aufgetreten wären.« Zehn Minuten nach Tichy trifft der Rettungshubschrauber »Christopherus 15« mit einem weiteren Arzt und einem Sanitäter am Unfallort ein. Die Ärzte geben Strauß kreislaufstärkende Mittel und beatmen ihn künstlich. Fünfzehn Minuten später heben sie und die Sanitäter ihn auf einer Trage in den Hubschrauber und fliegen ihn zum zwölf Kilometer entfernten Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Regensburg. Gegen 17.00 Uhr trifft er dort ein.
Nun ist Dr. Rolf Manz, Chefarzt der Intensivstation, zuständig. Er muss sich fragen, warum Strauß bewusstlos ist, und hat ein Dutzend Möglichkeiten zur Wahl. Jede erfordert eine andere Behandlung. Schon bald nach der Einlieferung gelangt die Nachricht davon an die Öffentlichkeit. Um 18.20 Uhr informiert ein Hörer Radio Charivari in Regensburg. Der Sender unterbricht sein Programm. Rasch ranken sich wilde Gerüchte um den Zusammenbruch. Strauß sei auf der Jagd angeschossen worden, lautet eine Falschmeldung. Eine andere besagt, er habe einen Schuss auf einen Hirsch abgegeben und sei dabei über eine Wurzel gestolpert.
Am Samstagabend eröffnet Wirtschaftsminister Gerold Tandler die Münchner Modewoche. Nach seiner Rede fährt er sofort nach Regensburg. Innenstaatssekretär Peter Gauweiler lässt das Krankenhaus gegen 19.00 Uhr mit Hilfe von hundert Polizisten von der Öffentlichkeit abschirmen. Politiker und Beamte schweigen gegenüber den Journalisten, die immer zahlreicher vor dem Tor der Klinik eintreffen. Aus Wackersdorf, Nürnberg und Regensburg rückt immer mehr Polizei an. Die Beamten drohen den wartenden Journalisten, sie notfalls mit Gewalt zu entfernen.
Renate Piller wartet auf ihre Freundin, um gemeinsam die Gala der Modewoche zu besuchen, als das Telefon klingelt. »Ich habe schlechte Nachrichten für Sie«, sagt Gauweiler, »der Ministerpräsident hat einen Unfall gehabt.« Es sei eigentlich »alles unter Kontrolle, nur ein leichter Herzanfall wahrscheinlich«, dennoch rät er ihr vom Besuch der Gala ab. »Stellen Sie sich bloß vor, wie das aussieht, wenn man Sie mit dem Sektglas in der Hand fotografiert, während der Chef …« Ist es doch ernster? Renate Piller ruft im Krankenhaus an. Nicht-Familienangehörige erhalten keine Auskunft.
Bald trifft auch Monika Hohlmeier im Krankenhaus ein. Vergebens suchen Mitarbeiter von Strauß seine Söhne Max und Franz Georg, die sich beide im Urlaub befinden. Die Mitarbeiter leiten außerdem die nötigen Schritte ein, um Strauß nach München verlegen zu lassen. Sie informieren zwölf Krankenhäuser um München herum, die über einen Hubschrauberlandeplatz verfügen, dass Strauß noch in dieser Nacht aufgenommen werden muss.
Um 21.00 Uhr steht ein Hubschrauber startklar neben der Klinik. Die Feuerwehr stellt Scheinwerfer auf, um ihm den Weg zu weisen. Doch die Ärzte sind unsicher, ob der bewusstlose Patient den Flug verkraften würde, und sagen die Verlegung ab. Sein Zustand ist ernst. Um 21.30 Uhr kommt Pater Camillus Halbleib und spendet ihm die Letzte Ölung, die verharmlosend »Sakrament der Krankensalbung« heißt. Gegen 21.45 Uhr wird Monika Hohlmeier in einem Polizeiwagen aus der Klinik gefahren.
Die kritische Phase beginnt um 22.00 Uhr: Zwar wurden durch den Kollaps weder Gehirn noch Hauptschlagader geschädigt, aber Strauß ist weiterhin bewusstlos. Er hat einen so genannten »akuten« oder »unsicheren« Bauch, wie die Mediziner sagen. Das heißt, sein Bauch ist riesengroß geworden. Droht ein Magen- oder Darmdurchbruch? Der Chefarzt der Inneren Abteilung, Professor Paul Döring, entscheidet sich zu einer nächtlichen Notoperation. Er öffnet den Bauch, und es entweicht viel Luft. Er sucht nach Blutungen in der Bauchhöhle, forscht fast zwei Stunden nach Anzeichen eines möglichen Durchbruchs, nach Erkrankungen von Galle und Bauchspeicheldrüse, aber vergeblich. Er kann nichts Krankhaftes finden. Nach der Operation stabilisiert sich der Kreislauf von Strauß zunächst.
Vor dem Krankenhaus treffen immer mehr Journalisten ein, die jeden nach dem Zustand von Strauß fragen. Kurz nach 23.00 Uhr treten Wirtschaftsminister Gerold Tandler, Bayernkurier-Chefredakteur Wilfried Scharnagl und Polizeipräsident Fenzl zu ihnen ans Eingangstor. Tandler sagt: »Nach Auffassung der Ärzte hat der Ministerpräsident einen Kreislaufkollaps ohne ernsthafte Folgen erlitten.« Man gehe davon aus, dass bei der »bekannt guten Gesundheit des Ministerpräsidenten bald wieder gute Nachrichten ins Land ziehen«. Im Übrigen sei es »reiner Quatsch«, dass Strauß bewusstlos aufgefunden worden sei. Die Journalisten sind skeptisch.
Monika Hohlmeier kommt zurück in die Klinik, und damit beginnen neue Spekulationen. Angeblich bezieht sie nun ein Zimmer neben dem Zimmer ihres Vaters auf der Intensivstation im zweiten Stock. In einem weiteren Zimmer richtet Innenstaatssekretär Peter Gauweiler ein Lagezentrum ein. Die Staatskanzlei in München fahndet unterdessen weiter nach den beiden Söhnen von Franz Josef Strauß. Max macht Ferien in Südtirol. Vergeblich wird über den Rundfunk nach ihm gefahndet. Franz Georg ist mit einem Wohnmobil in Nordamerika unterwegs, da ist es zwecklos, ihn per Radio zu suchen. Gegen 0.30 Uhr fährt eine Wagenkolonne mit Hohlmeier, Tandler und Gauweiler in ein Regensburger Hotel. Zwei Ärzte, die schon auf dem Heimweg waren, werden zurückgerufen.
Sonntag, 2. Oktober 1988: In den frühen Morgenstunden verschlechtert sich der Zustand von Strauß rapide. Seine Lunge arbeitet kaum noch, auch seine Nieren...