Erstes Kapitel:
Tanger – Ursprünglich
Für einen abenteuerlustigen jungen Mann ist das mittelalterliche Tanger Fluch und Versprechen zugleich, eine Heimatstadt als Herausforderung.
Der Legende nach hat Herkules diesen Ort gegründet, der stärkste Mann der Welt. Zur Ehre seiner Frau trennte der Mächtige eben mal die beiden Kontinente Europa und Afrika, schuf eine Passage zwischen Atlantik und Mittelmeer, nicht viel breiter als ein großer Fluss, errichtete große Säulen, um sein Werk zu säumen: den Fels von Gibraltar im Norden, die Jebel-Musa-Berge im Süden. Der griechische Philosoph und Geschichtsschreiber Platon nannte Tingis »den Rand der bekannten Welt« – östlich dessen vermutete er nur noch das sagenhafte, untergegangene Atlantis. Karthager, Phönizier und Römer beherrschten im Lauf der Jahrhunderte diese Grenzsiedlung, Anfang des 8. Jahrhunderts eroberten sie die Araber und verbreiteten im ganzen Maghreb den Islam.
Ibn Battuta erzählt in seinem Reisebuch nichts von seiner Kindheit Anfang des 14. Jahrhunderts, und die historischen Kenntnisse, wie genau es in der Stadt damals ausgesehen haben mag, sind spärlich. Selbst die Nachricht darüber, wann und warum sie die Namen gewechselt hat, verschwindet im Nebel der Geschichte. Tingis, Tanja, Tangier: Sie war nie eine wirkliche Metropole, von der es sich für die großen Historiker zu erzählen lohnte, nie ein Ort, der die Zeiten und die Weltläufte wirklich bewegte, sich in die Geschichtsbücher eintrug. Kein klangvoller Name, ein Ort der zweiten Klasse, der zweiten Wahl.
Ein Fluch für jemanden, der sich im Mittelpunkt des Geschehens fühlt, Abenteuer erleben, die Welt erkunden will.
Aber Tanger, diese weiße, windzerzauste, verwinkelte Ansiedlung, ist auch kein hinterwäldlerisches Dorf. Die Hafenstadt mit ihren damals vielleicht dreißigtausend Einwohnern war zu Battutas Zeiten längst eingebunden in den blühenden mediterranen Handel. Von Tanger aus fuhren Schiffe durch die Meerenge hinüber nach Andalusien, auch weiter weg Richtung Osten nach Tunis und nach Alexandria, oder auch nach Venedig, eine der wenigen europäischen Städte, die während der europäischen Zeiten der Zersplitterung und des Niedergangs mit den muslimischen Metropolen mithalten konnte.
Es muss tagaus, tagein ein reges Geschäftsleben zwischen den Kais geherrscht haben, ein wuseliges Treiben, das sich von den schwindelerregenden Mauern der an die Hügel geklebten Kasbah bestens beobachten und hören ließ: die Kaufleute, die ihre Sklaven anbrüllten, wenn sie die Schiffe nicht schnell genug mit Stoffen und Früchten für den Export beluden; die Künstler und die Handwerker, die ihre aus der Ferne mitgebrachten Gerätschaften vorsichtig balancierten, während Frauen die Seidenballen aus fernen Ländern in Sicherheit brachten; die Soldaten, die mit ihrem Kriegsgerät zur nächsten Garnison auf Boote einstiegen; die Studenten, die sich aufgeregt aufmachten, um zu den angesehenen höheren Koranschulen der Region zu gelangen, die anderen, die über das Meer Heimkehrenden, die von hier auf Esel und Pferde und dann auf »Wüstenschiffe« umsattelten, schwankende Kamele gegen schwankende Boote austauschend. Auf dem Weg ins Innere Marokkos, und, zu Karawanen zusammengeschlossen, oft auch noch weiter über die Sahara. Bis ins legendäre Timbuktu, bis nach Schwarzafrika.
Ein Versprechen für jemanden, der reisend möglichst die ganze Welt erobern wollte. Er musste nur den Absprung finden.
Hier in Tanger, von der nördlichsten Spitze Afrikas, ließ sich an klaren Tagen bis hinüber nach Europa schauen, und einige Kilometer entfernt am Kap konnte man von einer Anhöhe buchstäblich auf zwei Meere hinunterspucken, das tiefblaue Mare Nostrum und den grauschäumenden Atlantik. Hier oben waren zu allen Zeiten die beliebtesten Treffpunkte, die Verstecke, die Sehnsuchtsorte der Kinder von Tanger. Hier wird sich auch der junge Ibn Battuta mit seinen Spielkameraden getroffen haben. Um von fernen Ländern zu schwärmen. Und um von den Abenteuern und Wundern zu träumen, die in der Fremde mit ihren glanzvollen Städten warteten. Denn Ibn Battuta wusste schon in frühester Kindheit, dass die Zentren der Welt weit weg von Tanger lagen, dass in Ägypten, im Zweistromland, in Indien und in China die entscheidenden, die aufregenden, die bahnbrechenden Ereignisse passierten.
Und wenn er auch Marco Polos Erzählungen von der Seidenstraße und vom fernen Herrscher Kublai Khan auf dem Thron im Reich der Mitte nicht gekannt haben kann, so dürften ihm die Berichte früherer muslimischer Reisender zugänglich gewesen sein, die auch das Fernweh gepackt hatte – wenngleich sie es dann längst nicht so weit schafften. Die Schriften eines Ibn Jubayr von Valencia aus dem 12. Jahrhundert beispielsweise: Hat der jugendliche Ibn Battuta sie gelesen, heimlich vielleicht, gegen den Willen der Eltern, zugesteckt von Freunden? Den Mann als Vorbild genommen, der jedem riet, die »Chance der Freiheit« zu ergreifen, bevor man im Alter »mit den Zähnen knirscht angesichts der verpassten Möglichkeiten«?
Es fehlt Ibn Battuta während seines Heranwachsens jedenfalls nicht an materiellen Dingen. Die Eltern sind gut situiert, obere Mittelklasse würde man heute sagen. Die Angehörigen der Sippe haben sich schon vor Generationen aus den Bergen Marokkos in die Hafenstadt begeben, wo die Chancen für ehrgeizige Neuankömmlinge besser waren. Der soziale Aufstieg vollzog sich über Jahrzehnte hinweg, über mehrere Generationen.
Als Ibn Battuta am 25. Februar 1304 geboren wird, hat sich sein Vater in der Stadt als islamischer Rechtsgelehrter etabliert. Solche Kadis sind gesuchte Leute, über sie können Geschäfte abgewickelt werden, sie entscheiden wichtige Alltagsprobleme und legale Auseinandersetzungen. Andere Mitglieder der Sippe arbeiten als Faqihs, ebenfalls eine erstrebenswerte juristisch-wissenschaftliche Karriere im gut bezahlten quasi-öffentlichen Dienst.
Dass der Battuta-Clan ursprünglich aus der tiefsten Provinz kommt, dass sie Berber vom Stamm der Lawata sind, fiel nicht negativ ins Gewicht. Hätte man auf ihre bäuerliche Herkunft herabgesehen, hätte man auch über die Regierenden von Tanger die Nase rümpfen müssen. Auch die Herrscher dieser Maghreb-Region waren ursprünglich Nomaden, kriegerische und rücksichtslose Kämpfer vom Stamm der Banu Marin. Sie nannten sich Meriniden, und etwa zur Zeit der Geburt des Ibn Battuta hatten sie ihre Macht über große Teile des heutigen Marokkos mit ihrer Hauptstadt Fez konsolidiert. Statt blutige Kämpfe untereinander auszutragen, besannen sie sich auf den lukrativen Handel mit Nachbarstaaten und den Aufbau eines fortschrittlichen Staatswesens. Sie stützten sich dabei auf loyale, tüchtige, im wahrsten Sinne des Wortes staatstragende Familien wie die Battutas.
Gerade weil sie Aufsteiger sind, legt Ibn Battutas Vater besonderen Wert auf die Erziehung und Ausbildung seines spätgeborenen Sohns. Das heißt vor allem, dass er fließendes Hocharabisch lernen muss, was ja nicht seine Muttersprache ist. Wichtiger noch, er muss mit allen Aspekten des Islam vertraut gemacht werden – der Glaube bestimmt und regelt zu dieser Zeit alle wichtigen Aspekte des alltäglichen Lebens.
Der Junge wird ab dem sechsten Lebensjahr in eine der Madrassen von Tanger geschickt, auf eine der Koranschulen. Sie liegen meist in der Nähe der Moscheen, die Kinder sitzen im Halbkreis um den Imam, der ihnen die Grundsätze der Schreibtechnik, der arabischen Grammatik und des Rechnens beibringt. Vor allem aber geht es darum, das Heilige Buch auswendig zu lernen, immer wieder die Texte zu memorieren. Wer sich die schwierigen Wendungen nicht merken kann, in den werden sie förmlich hineingeprügelt. Und bei den Reichen gilt es durchaus als üblich, zusätzlich zu den Madrasa-Lektionen noch einen teuren Privatlehrer für den Zögling zu beschäftigen: Tutoren-Privileg statt Chancengleichheit.
Ibn Battuta gehört offensichtlich zu den Begabteren, zu denen, die schon mit zwölf Jahren den Koran durchgehend rezitieren können, sozusagen im Schlaf. Aus der heutigen Sicht – und aus dem Blickwinkel der westlichen Aufklärung – mag ein solches »blindes« Memorieren eines langen und extrem schwierigen Textes stumpfsinnig erscheinen. Ibn Battuta aber hat seine Gedächtnisleistung und sein gläubiges Aufsaugen des Textes offensichtlich viel bedeutet, die Heilige Schrift ist so etwas wie ein Anker seines Lebens. Immer wieder, so wird er später erzählen, hat er in schwierigen Lebenssituationen, gefangen von Räubern, bedroht von Piraten, verlassen von allen weltlichen Freunden, den Text vor sich hergesagt, Kraft und Lebensfreude daraus geschöpft.
Der Koran, göttliches Wort und »Siegel des Propheten«, gibt dem jungen Mann wie allen seinen Glaubensbrüdern einen ethischen Kompass und soziale Vorschriften mit auf den Weg. Mit fünfzehn, sechzehn Jahren hat sich seine Ausbildung dann ganz in Richtung der Familientradition spezialisiert: Er bekommt die Grundzüge der Scharia vermittelt. Das auf dem Koran basierende heilige (und damit auch weltliche) Recht regelt das gesamte Spektrum des Zusammenlebens, von Heirat bis zu Erbangelegenheiten, von Geschäftspraktiken bis zum Steuersystem. Alles, von Markt bis Moral.
Die Glaubensunterwerfung – und das bedeutet »Islam« im Wortsinn – beruht für jeden Muslim auf fünf Säulen: Dazu gehört zunächst das Glaubensbekenntnis (»Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Gesandter«). Dann das Ritualgebet, das fünfmal am Tag zu bestimmten Zeiten verrichtet werden muss und...