Die drei ausgewählten und im Folgenden analysierten Balladen stehen jeweils für einen Abschnitt in Theodor Fontanes Balladenschaffen. Der Tag von Hemmingstedt vertritt Fontanes erste Schritte auf eigenem balladeskem Boden. Nachdem er viele Werke englischer Künstler übersetzt hat, beginnt er eigene Stoffe zu suchen und sie zu verarbeiten. Mit Prinz Louis Ferdinand beginnt eine Phase der Veränderung in den Balladen Fontanes. Zu dieser Zeit löst er sich von alten Mustern, um Neues auszuprobieren. Die Brück’ am Tay schreibt er mit 61 Jahren. Die Handlung der Ballade spielt nur zwei Wochen vor ihrem Erscheinen, was äußerst ungewöhnlich und neuartig an diesem späten Werk des Autoren ist. Jedes der drei in dieser Arbeit behandelten Stücke stellt somit einen exemplarischen Punkt auf dem Weg der Balladen Fontanes zwischen Tradition und Moderne dar.
Bereits seit Ende des Jahres 1850 arbeitete Fontane an seiner Ballade Der Tag von Hemmingstedt. Er las sie erstmalig am 2. März 1851 im ‚Tunnel über der Spree’, einem literarischen Sonntagsverein, innerhalb einer organisierten Balladen-Konkurrenz vor. Fontane war im ‚Tunnel’ seit September 1844 unter dem Namen ‚Lafontaine’ ein vollwertiges Mitglied (vgl. Berbig 2010, S. 82). Am darauf folgenden Sonntag, den 9. März, brachte Fontane das Stück in zensierter Version abermals zu Gehör. Es wurde mit ‚sehr gut’ bewertet und am 6. April desselben Jahres innerhalb des Balladenwettbewerbs zum Sieger gewählt (vgl. Berbig 2010, S. 236ff). Heyse, Kugler und Friedrich Eggers aus dem ‚Tunnel’ stimmten jedoch gegen Der Tag von Hemmingstedt. Heyse begründete dies mit dem Vorwurf, die Ballade Fontanes sei kein Kunstwerk, sondern nur eine meisterhafte Behandlung eines Stücks alter Chronik (vgl. Drude 1976, S. 161f). Der Autor verteidigte sein Werk in einem Brief an Bernhard von Lepel: „Als ob das Künstlerische immer im Künstlichen läge; gerade da liegt es nicht; solche Sachen können nicht einfach genug sein. Schlicht und wahr sei der Stoff“ (Krueger & Golz 1989, S. 562). Fontane selbst war mit seinem Werk zufrieden, auch wenn der in finanzieller Bedrängnis Steckende nicht die erhoffte großzügige Bezahlung dafür erhielt, sondern lediglich vier Taler für zwei Monate Arbeit (vgl. Perrey & Perrey 1998, S. 55). Gedruckt wurde die Ballade im März 1851 von Wilhelm Wolfsohn in der Zeitschrift ‚Deutsches Museum’ (vgl. Keitel 1964, S. 921). Sogar König Friedrich Wilhelm IV. ließ sich die Ballade vorlesen und „hat sich mit außergewöhnlich warmer Anerkennung darüber geäußert“ (Perrey & Perrey 1998, S. 55). Fontane entnahm die historischen Fakten wohl Ludvig Holbergs ‚Dänische Reichshistorie’ (1732–1735) und stützte seine Ballade darauf (vgl. Jessen 1975, S. 13). Eventuell überflog er auch ‚Geschichte von Dänemark’ (1843) von Friedrich Christoph Dahlmann (vgl. Perrey & Perrey 1998, S. 57). In den Balladensammlungen Fontanes wird Der Tag von Hemmingstedt den deutsch märkisch-preußischen Balladen aufgrund der in Dithmarschen verorteten Handlung zugeteilt.
Der Inhalt der Ballade spielt am 17. Februar 1500, dem Tag, an dem es zur Schlacht bei Hemmingstedt kam. Auslöser des Gefechts war der Konflikt zwischen dem dänischen König und den Bauern Dithmarschens, dessen Verlauf im Folgenden stark gekürzt wiedergegeben wird.
1459 wurde Christian I. König von Dänemark. Er bemühte sich seinen Anspruch auf den Freistaat Dithmarschen als Herzog von Schleswig und Holstein-Stormarn zu festigen (vgl. Lammers 1982, S. 44). Kaiser Friedrich III. übergab König Christian I. 1473 einen Lehnbrief, der Dithmarschen zu Holstein-Stormarn zugehörig erklärte. Die Dithmarscher, die ihren Status nicht verlieren wollten, antworteten mit einem Appell an Papst Sixtus IV., der erklärte, dass Dithmarschen nicht zum Reich gehöre, sondern zur Bremischen Kirche (ebd). Bereits 1188 hatten die Dithmarscher den Bischof von Schleswig als ihren Landesherren anerkannt. Dieses Verhältnis wurde durch die Niederlage der Dänen, die den Landstrich schon damals für sich beanspruchten, in der Schlacht von Bornhöved 1227 gefestigt.
Friedrich III. zog daraufhin seinen Lehnbrief 1481 mit dem Hinweis auf seine Unkenntnis der Zugehörigkeit Dithmarschens zum Erzbistum Bremen zurück. 1481 starb Christian I. und konnte seinen Anspruch nicht mehr geltend machen. Seine Erben waren Johann I. als König von Dänemark und dessen jüngerer Bruder Friedrich, mit dem der dänische Thronfolger sich die Herrschaft über Schleswig und Holstein teilte. Bevor die Brüder jedoch ihren Anspruch auf Dithmarschen kriegerisch geltend machten, ließ Johann I. sich 1499 zum König von Schweden krönen und konnte so den Norden seines Reiches beruhigen (vgl. Lammers 1982, S. 45).
An dieser Stelle setzt die Handlung der Ballade ein. „Johann von Dänemark“ (V. 1)[4] will Dithmarschen (zurück-)erobern und sendet Boten mit der Forderung aus, dass drei königliche Schlösser gebaut werden sollen (vgl. V. 7). Der Befehlshaber der Dithmarscher Bauern, Wolf Isebrand, sieht den Dänen im Unrecht. Die Bauern haben das Land der Sturmflut abgerungen und seien bei Bornhöved mit Gottes Hilfe siegreich davongegangen (vgl. V. 13ff). Johann I. reagiert mit einer Mobilmachung. Bei Rendsburg schließen sich ihm viele Adlige aus Dänemark und Deutschland an, um die Dithmarscher Bauern zu bezwingen (vgl. V. 19ff). Auch die ‚sächsische Garde’, ein Söldnertrupp aus Rheinländern, Franken und Sachsen, der auch ‚schwarze Bande’ genannt wird, beteiligt sich an den Überfällen (vgl. V. 25ff). Anführer dieser Gruppe ist Jürgen Slenz, der auch ‚der lange Jürgen’ genannt wird (vgl. V. 29ff). Mit zwölftausend Männern zieht Johann I. gen Dithmarschen und trifft dort auf das zahlenmäßig unterlegene Bauernheer (vgl. V. 35ff). Die Dithmarscher ziehen sich bis zur Hemmingstedter Brücke zurück und warten dort auf die Angreifer. Einer der Bauern gesteht seine Ängste vor den ‚Moorelfen am Tausend-Teufels-Wall’, die Wolf Isebrand mit dem Hinweis darauf, dass das Licht der Elfen in der dunklen Nacht gut zu gebrauchen sei, abtut (vgl. V. 41ff). Er fordert die Männer auf, mit ihm „ein christlich Bollwerk“ (V. 48) zu errichten und so entfernen sie die Brücke und befestigen den dahinter liegenden Erdwall. Am folgenden Morgen nähert sich, von dem Hagel aus Wurfgeschossen unbeeindruckt, die ‚sächsische Garde’ (vgl. V. 53ff). Zwischen den beiden Heeren liegt nun nur noch der Graben und der sich dahinter aufwerfende Wall. Mithilfe ihrer Speere versuchen die Männer der ‚sächsischen Garde’ eine Überquerungsmöglichkeit zu bauen, werden jedoch durch die Dithmarscher von ihrer geländerlosen Brückenkonstruktion herunter gestoßen (vgl. V. 59ff). Daraufhin bemühen sich einige mit ihren Langwaffen über den Graben zu springen, fallen jedoch ins Wasser oder werden „von den Bauern zu Boden geschmettert“ (V. 66). Die Übermacht der Angreifer ist jedoch gewaltig und das Blatt scheint sich gegen die Bauern zu wenden. Doch da schickt Gott den Verteidigern seine Hilfe in Form der Flut, die die Schleusen am Strand zerbricht und auf Hemmingstedt und die Kämpfenden zurollt (vgl. V. 70ff). „Das Meer, der Marsen alter Feind, heut kommt es als ihr Retter“ (V. 76). Das Heer des dänischen Königs ist nun zwischen der heranrauschenden Flut und den Bauern, die hinter dem Wall vor den Wassermassen geschützt sind, eingeschlossen: „Wer floh, den faßte die Marsenfaust, wer stand, den faßte die Welle“ (V. 80).
Jürgen Slenz flieht vor der Flut mithilfe seines Pferdes den Wall hinauf und fordert zum Einzelkampf auf (vgl. V. 82ff). Reimer von Wimerstedt schlägt ihm seine Axt in den Brustpanzer, zieht ihn mit der feststeckenden Waffe vom Pferd und tötet ihn (vgl. V. 90ff). Viele weitere Gefolgsleute des dänischen Königs sterben an diesem Tag durch die Hand der Dithmarscher Bauern, der König selbst kann allerdings mit seinem Schiff nach Kopenhagen fliehen (vgl. V. 93ff). Jedoch muss er nun bis zu seinem Tod die Schmach des Sieges einer Bauernschar über sein Heer ertragen (vgl. V. 98f). „Das war der Tag von Hemmingstedt, der Brauttag der Dithmarschen“ (V. 100).
Hier endet die Schilderung in der Ballade. Johann I. hatte nach seiner Niederlage nicht nur diese zu verkraften, sondern sah sich durch den Sieg der Bauern unter großem innenpolitischen Druck. In vielen Teilen seines Reiches fehlte nur der Funke für eine Revolution. Die Niederlage des dänischen Königs in Hemmingstedt schlug sich auch in Schweden nieder. Hier kam es 1521 unter Gustav Wasa zur Loslösung Schwedens von der nordischen Union (vgl. Lammers 1982, S. 43). Damit wurde im Endeffekt durch den Ausgang der Schlacht von Hemmingstedt „die bis heute wirksame politische, nationale Gliederung des skandinavischen Raumes mit verursacht“ (ebd). Die Dithmarscher selbst konnten sich mit ihrem Sieg bei Hemmingstedt noch weitere 59 Jahre die Unabhängigkeit sichern, bevor sie in der ‚letzten Fehde’ geschlagen wurden (vgl. Trende 2000, S. 18).