25 Jahre danach – ein Prolog
Ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seit dieses Buch erstmals erschien. Es war ein vergleichsweise schmales, kleines Bändchen mit gerade mal 256 Seiten. Aber es war das erste Werk in Europa zu diesem speziellen Thema. Im Laufe der Jahre ist das Buch größer und dicker geworden, ganz im Gegensatz zu mir, seiner Autorin, und nun ist es ein Buch unter vielen. Zahllose Ratgeber zu Essstörungen ergänzen die vielfältigen Hilfsangebote, von denen Betroffene in den achtziger Jahren nur träumen konnten.
Aus einzelnen Initiativen hat sich ein relativ engmaschiges Netz von kompetenten Beratungsinstitutionen herausgebildet. Nach und nach haben sich zahlreiche Therapeuten, Kliniken und Behandlungszentren auf Essstörungen – vorrangig Magersucht und Ess-Brech-Sucht – spezialisiert. Zwei Jahrzehnte hat es gedauert, bis Essstörungen als Krankheit und als gesellschaftliche Herausforderung erkannt und allgemein ernst genommen wurden. Erst Mitte der neunziger Jahre begannen die Krankenkassen, sich mit Aufklärung und Prävention zu engagieren. Möglicherweise wurden sie auch durch die teuren Folgeschäden dazu motiviert: 319 Millionen Euro jährlich sollen die Behandlungs- und Folgekosten von Mager- und Ess-Brech-Sucht[1] kosten.
Kein Wunder, dass auch dann endlich die Politik die Thematik für sich entdecken konnte. Zu einem vielbeachteten Essstörungsgipfel luden Ende 2007 die deutschen Bundesministerinnen Ulla Schmidt, Ursula von der Leyen und Annette Schavan ein – drei prominente Damen also, die bis dato nicht unbedingt durch verstärktes Interesse an Essstörungen aufgefallen waren. Auf einer publikumswirksamen Medienveranstaltung wurde unter der Überschrift »Leben hat Gewicht – gemeinsam gegen den Schlankheitswahn« für Prävention geworben und angekündigt, den Dialog mit der Textil- und Modebranche aufzunehmen. Diese sehen Fachleute als Mitverursacher von Essstörungen, denn Jugendliche lassen sich auf der Suche nach einer unverwechselbaren Identität von Bildern leiten, und nirgendwo findet man so viele ausgemergelte, hohläugige Gestalten wie unter Mannequins. Die Faszination für Castingshows wie Heidi Klums »Germany’s Next Top Model« zeigt, dass zahllose Teenager im Modeln einen glamourösen Traumjob wähnen – und bereit sind, dafür ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen.
Tatsächlich unterzeichneten am 11. Juli 2008 in Berlin Verantwortliche der deutschen Textil- und Modebranche, anscheinend geläutert, eine Nationale Charta gegen Essstörungen, eine elf Punkte umfassende Selbstverpflichtung, in der es hieß: »Mit der Charta möchte die deutsche Modebranche ein klares Zeichen setzen. Ziel ist es, durch ein gemeinsames Engagement die Öffentlichkeit für ein gesundes Körperbild zu sensibilisieren und einen Bewusstseinswandel in Gang zu setzen.«
Keine drei Wochen später bildete ein Foto, das durch die Presse ging, vier hochgewachsene langbeinige Modells auf der Igedo Fashion Fair ab. Aufreizend präsentierten sie Dessous, oder vielmehr ihre ver- beziehungsweise enthüllte gertenschlanke Rückfront, Kleidergröße geschätzt: 36. Gut Ding will Weile haben.
Dennoch: Deutschland ist langsam aufgewacht. Andere europäische Länder hatten den Kampf gegen den Schlankheitswahn, minderjährige Magermodels auf dem Catwalk und die Un-Größe »Size Zero« längst aufgenommen, allen voran Spanien. Zwar hatte die britische Ministerin Tessa Jowell schon 2001 eine Kampagne gegen Mager- und Ess-Brech-Sucht im Königreich gestartet und Regierungsmitglieder, Modemacher, Chefredakteure von Frauenzeitschriften und Ernährungswissenschaftler zu einem Gipfeltreffen eingeladen. Nur blieb der Erfolg zunächst aus: Die Herausgeber der führenden Mode- und Frauenzeitschriften, u.a. »Vogue«, distanzierten sich umgehend von den Zielen der Kampagne. Acht Jahre später sprach sich Alexandra Shulman, die Chefin der britischen »Vogue«, öffentlich gegen »Größe-Null-Models« aus. Pikant dabei: Es soll ihre Kollegin Anna Wintour, Chefredakteurin der amerikanischen »Vogue«, gewesen sein, die ehedem diese Hungerleidergröße für Models erst durchgesetzt hatte. Im Handel sucht man »Size Zero« vergeblich – sie entspricht Kleidergröße 32.
Als 2006 Spaniens Behörden Magermodels mit einem Body-Mass-Index (BMI) von weniger als 18 Auftrittsverbot bei der Madrider Modewoche Pasarela Cibeles erteilten, applaudierte Jowell öffentlich und empfahl Ähnliches für die Londoner Modewoche. Anders als im spanischen Madrid und im italienischen Mailand, wo seit Ende 2006 der Laufsteg für Models unter 16 Jahren und solche mit einem BMI unter 18,5 tabu ist, wollten die britischen Veranstalter keine rigiden Vorgaben machen. Immerhin baten sie die Designer, nur »gesunde« Models auftreten zu lassen. Zur Jahreswende 2007/2008 veröffentlichte dann der British Fashion Council einen Aktionsplan gegen den Schlankheitswahn. Seine Kommission »Model Health Inquiry« legte 14 unverbindliche (!) Empfehlungen vor, um die Gesundheits- und Arbeitssituation von Models zu verbessern.
Die französische Modebranche dagegen verpflichtete sich 2008 freiwillig, keine extrem dürren Modells mehr zu engagieren, und unterzeichnete in Paris eine Charta gegen Magersucht. Auch Vertreter der Medien und aus der Werbung unterschrieben darin, keine Bilder mehr zu verbreiten, die den Schlankheitswahn fördern. Etwa gleichzeitig erließ Frankreich außerdem ein Gesetz, das die »Anstiftung zur Magersucht« mit bis zu zwei Jahren Haft und 45 000 Euro Geldbuße bestraft – eine beispielhafte Initiative, auch wenn es vermutlich schwer möglich sein dürfte, in der Praxis eine solche Anstiftung nachzuweisen und zu ahnden.
Und auch Deutschlands Nachbar Österreich gehört zu den Pionieren im Kampf gegen Essstörungen. Anfang 2007 startete die Stadt Wien »S-O-Ess« – sie wurde als erste europäische Stadt initiativ gegen krankmachende Vorbilder und für gesundheitsfördernde Maßnahmen. Das Kampagnen-Motto: »No BODY is perfect«. Und schon drei Monate später lief österreichweit das Projekt »Wenn die Seele hungert« an, mit dem die Bevölkerung für Essstörungen sensibilisiert und Lobbyarbeit geleistet werden soll. Beteiligt sind daran auch Österreichs Gesundheitsministerin und Wiens Frauengesundheitsbeauftragte.
Schließlich erreichte Ende 2009 die verblüffte deutsche Leser- und Anhängerschaft der Frauenzeitschrift »Brigitte« erstaunliche Kunde: »Wir werden ab 2010 nicht mehr mit Profimodels arbeiten«, verlautbarte aus der Chefredaktion jenes Magazins, das jahrzehntelang auf unnachahmliche Weise Widersprüchliches innerhalb eines Heftes vereinte: Kochrezepte und (Brigitte)Diäten zum Beispiel, Aufklärung über Essstörungen und ultimative Tipps zum Abnehmen … Skeptiker unkten, hinter der Kampagne gegen Magermodels stecke eine Marketing-Idee, denn Frauenzeitschriften kämpfen seit zwei Jahrzehnten gegen sinkende Auflagen – vielleicht auch eine Folge des Überdrusses an personifizierten weiblichen Kleiderständern, die sich fast zu Tode hungern, um dann in den Grafikabteilungen der Redaktionen per Bildbearbeitungssoftware wieder gesündere Rundungen verpasst zu bekommen.
Die gesamte Branche sei magersüchtig, ereiferte sich »Brigitte«-Chefredakteur Andreas Lebert, die meistgelesene deutsche Frauenzeitschrift wolle mit dieser Initiative ein Zeichen setzen gegen den Zwang zur Magersucht in der Modebranche. Ach ja, wie sagte doch Veronika Pelikan, langjährige Chefredakteurin und Herausgeberin des österreichischen Frauenmagazins »Die Wienerin« dereinst so richtig? »Mit der Auswahl unserer Models tragen wir dazu bei, dass Magerkeit nicht länger als ästhetisches Ideal propagiert wird – und junge Mädchen zum gefährlichen Experiment mit dem eigenen Körper nicht auch noch von Medien animiert werden.« Übrigens: Wer die »Brigitte« abonniert, kann sich als Werbeprämie eine Waage aussuchen!
Manches hat sich nicht, doch vieles hat sich geändert in diesen 25 Jahren; besonders in der letzten Dekade ist Entscheidendes in Gang gekommen. Am Anfang standen ein paar Handvoll Einzelkämpferinnen (weiblich), die sich persönlich für Menschen mit Essstörungen und die Aufklärung über deren »typisch weibliche Krankheit« einsetzten. Sie steckten viel Energie in den Aufbau von Beratungseinrichtungen und Netzwerken, und sie putzten fleißig Klinken, um eine Mindestfinanzierung ihrer wichtigen Projekte sicherzustellen.
Mit dem Öffentlichwerden von Essstörungen verschob sich manches Gewicht. Die Pionierinnen auf diesem Gebiet traten nach und nach ab, manche von ihnen sind inzwischen in Vergessenheit geraten. Wer nachrückte, waren nicht selten titelgeschmückte Experten (männlich). Und: Essstörungen wurden zu einem beliebten Forschungsgegenstand.
2006 konstituierte sich eine wissenschaftliche Institution, die Deutsche Gesellschaft für Essstörungen (DGESS), um »in unterschiedlichen Fachdisziplinen ausgewiesene wissenschaftliche und klinische Kompetenz« zu bündeln – und vermutlich auch leichter an Forschungsgelder heranzukommen. Die bisherige Fachkompetenz – erfahrene und geschulte Kräfte aus der Praxis, vorrangig damals aus Beratungsstellen – hatte seit 1994 im nun vorübergehend doch leicht...