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E-Book

Leonard Bernstein

Unendliche Vielfalt eines Musikers

AutorPeter Gradenwitz
VerlagSchott Music
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl440 Seiten
ISBN9783795785536
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Seit jenem New Yorker Konzert vom 14. November 1943, an dem der 25jährige Leonard Bernstein für Bruno Walter einsprang, ist eine Musikerpersönlichkeit ganz besonderer Art in den Kreis der Meister des Taktstocks getreten. Obschon seine Eltern jüdische Emigranten aus Russland waren, ist er der erste große Dirigent, den die USA hervorgebracht haben und der ganz dort aufgewachsen ist. Wie kein anderer hat er sich für die amerikanische Musik unserer Zeit eingesetzt und sie an unzähligen Konzerten in New York zur Aufführung gebracht. Er hat auch selber viel komponiert; davon wurde vor allem die Musik zur 'West Side Story' zu einem Welterfolg. Aber auch andere seiner Kompositionen, die z.T. von altem jüdischem Musikgut beeinflusst sind, zeugen von einer besonderen Begabung auf diesem Gebiet. Seine Vorträge und Erläuterungen zur Musik, die er aufführt, machen ihn zu einem besonders populären und beliebten Interpreten, der vor allem auch die Jugend zu gewinnen vermag. Als Pianist schuf er sich noch eine weitere künstlerische Ausdrucksmöglichkeit. Vor allem aber gehört er zu den ganz großen Dirigenten unserer Zeit, der in Oper und Konzert, in Europa wie in Amerika, immer wieder aufs Neue faszinierte. Peter Gradenwitz, der Bernstein seit Jahrzehnten gut kennt und seine Karriere genau verfolgt hat, legt hier die erste umfassende Biographie des außergewöhnlichen Musikers vor, die für die aktuelle Ausgabe bis zum Tode des großen Künstlers ergänzt und erweitert wurde. Er schildert alle Seiten von Bernsteins Begabung und lässt auch Künstler zu Wort kommen, die mit ihm zusammengearbeitet haben. Vorzügliche, zum Teil bisher unveröffentlichte Bilder ergänzen diese Biographie einer der faszinierendsten Musikerpersönlichkeiten unserer Zeit.

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Leseprobe

Musik in Amerika – Amerikanische Musik


» Wir schreiben hier in diesem Lande erst seit fünfzig Jahren Musik, und die Hälfte dieser Zeit Musik, die direkt von Brahms und Kompanie entliehen ist.«

Leonard Bernstein, November 1954

Als Leonard Bernstein zum ersten Mal nach Europa kam – ein junger amerikanischer Musiker, von dem man kaum mehr wusste, als dass er anstelle des erkrankten Bruno Walter fast unvorbereitet die Leitung eines Konzerts der New Yorker Philharmoniker in New Yorks Carnegie Hall übernommen und einen sensationellen Erfolg errungen hatte –, war über Musik und Musiker des nordamerikanischen Kontinents in Europa fast nichts bekannt. Die meisten in Amerika wirkenden Dirigenten hatten ihre Karriere in Europa begonnen: im vorrevolutionären Russland und in den anderen Ländern des europäischen Ostens, in Italien, in Frankreich, im Deutschland der zwanziger und frühen dreißiger Jahre. Von Zeit zu Zeit erfuhr man zwar etwas über gebürtige amerikanische Dirigenten und Komponisten, aber keiner von ihnen hatte außerhalb Amerikas wirklich einen Namen. Sinfonie- und Kammermusik amerikanischer Komponisten war in europäischen Konzertsälen kaum je zu hören; »amerikanische Musik« – das bedeutete für den europäischen Musiker und Musikliebhaber: Negro Spirituals, Jazz und George Gershwins »Rhapsody in Blue«, die Paul Whiteman mit seinem Orchester 1924 nach Europa gebracht hatte. George Antheils Oper »Transatlantic« war 1930 in Frankfurt uraufgeführt worden, bald aber vom Spielplan verschwunden. Namen anderer amerikanischer Komponisten erschienen hier und da höchstens als Autoren von Filmmusiken.

So erregte das fast kometenhafte Erscheinen eines nicht in Europa ausgebildeten Dirigenten, der dazu für sein erstes Auftreten in der »Alten Welt« auch eine ganze Reihe neuester Werke amerikanischer Komponisten – darunter eigene Musik – mitbrachte, ganz besonders Aufsehen. Bei seinem New Yorker Debüt war Leonard Bernstein 25 Jahre alt gewesen. Seine ersten Konzerte in »Old Europe« dirigierte er im Frühjahr 1946 27jährig in Prag und London. Seine Programme enthielten Musik von William Schuman, Samuel Barber, Roy Harris, Aaron Copland, George Gershwin sowie seine eigene erste Sinfonie »Jeremiah«.

Die von Leonard Bernstein für diese Konzerte ausgewählten Kompositionen waren – mit Ausnahme des Gershwin-Werks – in den Jahren von 1936 bis 1942 entstanden, und die Mehrzahl der Musiker und Hörer erlebte hier wahrhaftig Musik aus einer »Neuen Welt«. Der älteste der Komponisten war Roy Harris (1898 – 1979); seine Dritte Sinfonie, eines der bedeutendsten Werke der neuen amerikanischen Musik, war 1938 vollendet worden. Aaron Copland und William Schuman waren 1900 bzw. 1910 geboren; Coplands »El Salón México« (1936) und Schumans »American Festival Overture« (1939) trugen charakteristische, auf den amerikanischen Ursprung hinweisende Züge. Samuel Barbers »Second Essay for Orchestra« (1942) war die Komposition eines 32jährigen amerikanischen Lyrikers. Keinen dieser in Europa vorgestellten Komponisten – und gewiss nicht George Gershwin, der seine »Rhapsody in Blue« 25jährig geschrieben hatte – zählte Leonard Bernstein zu den in seinem Essay »Was wurde aus der großen amerikanischen Sinfonie?« (1954) erwähnten Schöpfern einer »Musik, die direkt von Brahms und Kompanie entliehen ist«. Wenn er in dieser Schrift den Beginn der Musik Amerikas fünfzig Jahre zurückverlegt, so blickt er auf eine Komponistengeneration zurück, die etwa durch Namen wie John Knowles Paine (1839 – 1906), George W. Chadwick (1854 – 1931), Edgar Stillman Kelley (1857 – 1944), Arthur Foote (1853 – 1937), Horatio Parker (1863 – 1919), Mrs. H. H.A. Beach (1867 – 1944) und Henry F. Gilbert (1868 – 1928) charakterisiert ist – die sogenannte Boston oder New England Group.

Zu dieser Altersgruppe gehörte auch Edward MacDowell (1861 – 1908), der – als »Amerikas Grieg« bezeichnet – der erste amerikanische Komponist war, dessen Musik in Europa bekannt wurde. Die den »Bostoners« folgenden Komponisten – Frederick Shepherd Converse (1871 – 1940), Henry Hadley (1871 – 1937), Daniel Gregory Mason (1873 – 1953), David Stanley Smith (1877 – 1949) etwa – waren Spätromantiker wie die »Bostoner«. Auf sie folgten amerikanische Impressionisten, deren bedeutendste Charles Martin Löffler (1861 – 1935) und Charles Tomlinson Griffes (1884 – 1920) waren. Erst mit den Werken des spät entdeckten Charles Ives (1874 – 1954) und der gegen Ende des 19. Jahrhunderts geborenen amerikanischen Komponisten nahm die in Amerika geschaffene Musik eigenständige Züge an.

Der Hinweis Leonard Bernsteins auf den Beginn einer amerikanischen Musik und seine Wahl charakteristischer Werke für die von ihm dirigierten Konzerte zwingen Historiker wie Analytiker, einmal mehr die Frage zu stellen: Gibt es eine nationale Musik – eine Musik, die ein bestimmtes Volk kennzeichnet und in den Schöpfungen seiner Komponisten zum Ausdruck kommt? Man hat zwischen einer geistig-nationalen und einer folkloristisch-nationalen Einstellung bei Komponisten unterschieden, hat versucht, in der Musik solcher Komponisten, die sich kosmopolitisch und universal zu zeigen bemüht sind, nationale Eigenheiten nachzuweisen, und hat in vielen Werken national bewusster Musiker vergeblich nach Echos von Volksmusik gesucht. Die Frage wirkt heute fast anachronistisch, in einer Zeit, in der die Medientechnologie Musik aller Zeiten, Länder und Völker überall in der Welt bekanntmacht, in einer Zeit, in der musikalische Stil- und Ausdrucksmittel, Formen, Strukturen, Techniken und Tendenzen von Komponisten aller Nationen und Generationen akzeptiert und aufgearbeitet werden. Jedoch haben nationalmusikalische Bestrebungen zu verschiedenen Epochen in der Vergangenheit eine große Rolle gespielt, bedingt vor allem durch das Erwachen nationalen Bewusstseins in Gemeinschaften und bei Völkern, die in der Kulturgeschichte der Welt bislang noch keinen Platz gefunden hatten.

Die Romantik und die nationale Romantik sind eng miteinander verbunden und vor allem für Länder von Bedeutung, die wie die Vereinigten Staaten als Schmelztiegel von Zivilisationen und Kulturen nach einer eigenen, einigenden Identität suchen.

Die Frage nach einer charakteristischen amerikanischen Musik haben amerikanische Komponisten selbst des Öfteren gestellt, und jeder von ihnen hat sie anders beantwortet. Virgil Thomson, der bedeutende Kritiker, Chronist und Komponist sagte: »Es ist ganz einfach, amerikanische Musik zu schreiben. Alles was man zu tun hat, ist Amerikaner zu sein und dann jene Art von Musik zu komponieren, die man will.« Ähnlich hat sich Aaron Copland ausgedrückt, der in seinen frühen Kompositionen folkloristische Einflüsse und Elemente des Jazz verwendet hat, später aber erklärte: »Ich fühle nicht länger die Notwendigkeit, nach einem bewussten Amerikanismus zu suchen. Weil wir hier in Amerika leben und arbeiten, können wir sicher sein, dass unsre Musik, wenn sie reif ist, auch amerikanische Qualität haben wird.« Zu den treffendsten Beiträgen zum Problem einer nationalen Musik gehört eine Bemerkung des brasilianischen Komponisten Heitor Villa-Lobos: »Ein wahrhaft schöpferischer Musiker kann aus seiner eigenen Phantasie heraus Melodien erfinden, die authentischer sind als Folklore selbst.« Leonard Bernstein ist in seiner Meinung über echte amerikanische Musik mit dem Romantiker Edward MacDowell einig, der um die Jahrhundertwende schrieb: »Bevor eine Nation einen Musikschöpfer findet, der ihren Genius widerhallen lässt, muss sie vorerst Männer finden, die ihn repräsentieren, d. h. die als Teile ihrer Nation ihr Land lieben. Wir müssen die jugendfrische, optimistische Vitalität, die zähe Unerschrockenheit und Stärke des amerikanischen Menschen darstellen können. Dies hoffe ich in der amerikanischen Musik zu finden.« Und Bernstein in einem seiner Fernsehkonzerte »für junge Hörer«: »Denkt daran, wie viele Rassen und Menschen aus allen Teilen der Welt unser Land ausmachen … Unsere Komponisten wurden von der reichsten, der vielfältigsten Volksmusik der Welt genährt … Da sind alle die verschiedenen Akzente, die wir in unserer Sprache haben: etwas Mexikanisches in manchen Texas-Akzenten, ein bisschen Schwedisch im Akzent von Minnesota, etwas Slawisches im Brooklyn-Akzent und ein bisschen Irisch im Bostoner Akzent. Aber alles dies ist Amerikanisch … Und wenn ihr alle diese ›Akzente‹ (in der Musik) hört, dann fühlt ihr deutlich, was es heißt, Amerikaner zu sein – ein Abkömmling aller Völker der Welt« (in »Was macht Musik amerikanisch?«, 4. Fernsehsendung für junge Hörer).

Mit den New Yorker Philharmonikern, deren Chefdirigent er 40jährig...

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