Einleitung
Es ist Ostersamstag 2014. Ich radele zum Markt und grübele darüber nach, wo ich morgen die Ostereier verstecken werde.
In dem Moment wird mir klar, dass es in den sieben Jahren, die meine Tochter zur Schule geht, noch nie längere Ferien zu Hause gab. Ich habe schon Ostereier vor Schloss Neuschwanstein im Schnee versteckt und beim Osterbrunch in Brooklyn. Im Garten meiner Mutter in Münster und in der Mittelmeermacchia der Felsen bei Marseille. Aber hier, in unsrer süddeutschen Kleinstadt, ist das ein erstes Mal.
Als freiberufliche Reise- und Kulturreporterin und alleinerziehende Mutter hatte ich keine Wahl: Die größeren Arbeitsreisen fanden in den Schulferien statt, was nie erholsam war und manchmal auch an die Grenzen ging. Was aber immer ein Abenteuer war.
Spannendes Kleinstfamilienleben also. Aber war das wirklich alles? Hatte es nicht auch eine »Angst vor Leere« gegeben? Fragte ich mich an diesem Ostersamstag auf dem Fahrrad. Schützte Unterwegssein mich nicht auch davor, mich als »zu wenig« fühlen zu müssen? Denn wir sind zwar Familie – aber sind wir eine »richtige« Familie?
Rund zwei Drittel der ca. 1,6 Millionen Alleinerziehenden in Deutschland haben nur ein Kind. Zwei Millionen Menschen also, die in einer »Ein-Erwachsener-ein-Kind«-Familie leben – der kleinsten Version der Alleinerziehenden-Familie. Hinzu kommen die Ein-Eltern-Familien mit mehr Kindern. In ihrer neuesten Studie beschreibt die Bertelsmann-Stiftung, dass es für 2,3 Millionen Kinder Normalität ist, mit nur einem Elternteil aufzuwachsen; das sind rund 450000 Kinder mehr als noch Mitte der 90er Jahre.1
Ein klarer Trend – und doch: Obwohl sie eine die Gesellschaft immer stärker prägende Gruppe darstellen, werden Alleinerziehende oft als irgendwie »defizitäre« Familie gesehen; als Familie, der »etwas fehlt«. Als bedauerliche Ausnahme, die bestenfalls den Mitleids-Bonus verdient.
Eine Sichtweise, die im Blick auf die Zahlen längst nicht mehr zeitgemäß erscheint – jede fünfte Familie ist alleinerziehend2 – und die auch völlig an der Lebensrealität vorbeigeht. In meiner eigenen zwölfjährigen Erfahrung – und im Blick auf andere – erlebe ich die Minimal-Familie als kreative, hoch vitale und entgegen allen Zuschreibungen als sehr glücksfähige Gemeinschaft. Nicht immer aber ist es leicht, diesem Erfahrungswert mehr zu trauen als gesellschaftlichen Sichtweisen, die sich nur sehr zögerlich verändern und erweitern.3
Über die Jahre hatte ich, meist im Zusammenhang mit meiner Arbeit, etliche andere Kleinstfamilien-Paare in der ganzen Welt kennengelernt und war fasziniert gewesen. »Nicht ganz normal« zu sein, zwingt dazu, einen eigenen Weg zwischen Individualismus und Anpassung zu »erfinden«. Die Spannung, sich aus eigener Kraft tragen und zugleich dauernd offenhalten zu müssen für Angebote der Gemeinschaft, ist so anstrengend wie fruchtbar; eine Provokation, die enorm viel kreative Energie fordert – und freisetzt.
Anders gesagt: Alleinerziehend zu sein, ist eine Lage, von deren erstaunlichem Wachstumspotenzial man noch nichts ahnt, wenn man sich erst einmal, geschwächt von den Strapazen einer Trennung, in ihr vorfindet: Ich erinnere mich noch gut. Obwohl Trennung der einzige Weg war, der aus einer unglücklichen Situation herausführte, fühlte es sich zunächst ganz und gar nicht konstruktiv an.
Zugespitzt ist all das noch, wenn man den Partner oder die Partnerin an den Tod verliert. An einem wundervollen Aprilmorgen 2015 saß ich mit Cornelia Funke im Garten ihres verwunschenen Hauses in Los Angeles. Ich durfte sie zum gerade erschienenen dritten Band ihrer »Reckless«-Bücher interviewen, in denen es um die Sehnsucht des Jungen Jacob nach seinem verschwundenen Vater geht und seine Entschlossenheit, ihm in die vollständig andere Welt »hinter dem Spiegel« zu folgen.
Zehn Jahre lebte Cornelia Funke nun schon in L.A. Ein Jahr, nachdem die Familie nach Los Angeles ausgewandert war, wurde ihr Mann krank und starb: Ihr Sohn war damals elf und ihre Tochter sechzehn, sie selbst siebenundvierzig. Zwei Jahre später fing »Reckless« in ihr an zu entstehen: »Ich war mit meinem Mann zusammen gewesen, seit ich zwanzig war. Jetzt erinnerte ich mich wieder an die, die ich vorher gewesen war. Ich war jung genug, noch ein neues Leben zu beginnen; so stark und selbstständig zu werden, wie ich nie gewesen war.« Die Kinder, sagt Cornelia Funke nachdenklich inmitten des märchenhaft blühenden Gartens, hätten ihr sehr geholfen: »Man hat sie, und sie sind der Sinn des Lebens.« Aber auch ihre Umgebung sei enorm hilfsbereit gewesen, gerade in den Schulen der Kinder, erinnert sie sich an die schwere Zeit vor und nach dem Tod. Inzwischen ist sie gern allein – nein, nicht allein. »Ich fühle mich in einer Art magischem Ring aus vielen Freundschaften geborgen. Jede Freundschaft bringt einen Teil von einem selbst zum Schwingen. Diese Qualität habe ich erst kennengelernt, als ich allein war. Ich glaube, wir Frauen unterschätzen oft, wie viel Aufmerksamkeit Männer verlangen – und wir überschätzen, was uns der Partner geben kann, oder soll.«
Die Gruppe der Alleinerziehenden wird von Jahr zu Jahr größer. Die Hälfte von ihnen lebt acht oder mehr Jahre ohne neuen Partner an ihrer Seite. Hier wird eine neue Form von Familie gelebt – eine, die vielleicht stärker als jeder andere Trend auf eine sich in ihren Tiefenstrukturen verändernde Gesellschaft hinweist.
Lässt sich angesichts dessen das traditionelle Familienmodell denn überhaupt noch als das »normale« oder gar »ideale« halten? Diese Frage beschäftigt mich seit Jahren. Und zunehmend hat mich die nicht nur von Familieneltern, sondern auch von Expert/inn/en – Mediatoren, Beratungsstellen – postulierte »klassische« Position geärgert, Kinder bräuchten beide Eltern, um gesund groß zu werden. Nichts anderes, keine andere Lebens- und Familienform, käme der »vollständigen« Familie gleich. Vielleicht ist ja die aus Vater, Mutter, Kind(ern) bestehende Familie sogar wirklich die »beste aller denkbaren Welten«? Aber machen wir uns, wenn wir das denken, doch auch klar, welches Bild wir dabei vor uns haben.
Wir denken dann an die gute Familie – eine, in der Eltern sich nicht dauernd erbittert streiten oder einander so leid sind, dass sie gar nicht mehr miteinander reden. Eine, in der nicht eine(r) oder beide heimlich fremdgehen. In der über Konflikte hinaus Mann und Frau zu einer Zufriedenheit für sich selbst und mit dem Partner finden. In der Krisen angegangen und nicht geleugnet werden. In der Offenheit erwünscht und Entwicklung willkommen ist. In der alle Beteiligten Stärkung und Schutz erfahren – ohne dass man sich dabei nur auf die »Familienburg« zurückzieht und die übrige Welt außen vor lässt. In der aus Geborgenheit heraus Neugier und Weltoffenheit möglich werden.
So eine Familie ist toll. Nur – so viele davon kenne ich nicht. Ich kenne mehr, von denen ich denke, vielleicht würde die Familienstimmung wieder besser, wenn sich die Eltern endlich trennten. Und Fakt ist ja: Viele tun es auch. Wir leben schon längst nicht mehr in einer Welt, in der Paare traditionell wegen des einmal gegebenen Ja-Worts – oder wegen der Kinder – zusammenbleiben, wenn sie sich denn auf eine Weise entfremdet haben, dass sie sich keine gemeinsame Zukunft mehr geben. In den meisten Ländern, nicht nur der westlichen Welt, sprangen ab den 1990er Jahren die Zahlen von Alleinerziehenden-Familien in die Höhe.
Wieso also gibt es nicht mehr positive Offenheit für die Bandbreite der neuen Familienformen? Wieso wird am Bild der »vollständigen Familie« als Ideal auch dann noch festgehalten, wenn es von der Realität so vielfach überholt ist?
Es ist ein Festhalten auf Kosten der rund vier Millionen Erwachsenen und Kinder, die in Alleinerziehenden-Familien leben und nicht in den Genuss von jenem »Schutz der Familie« kommen, der in der Verfassung verankert ist. Wer nicht davon betroffen ist, weiß oft nicht, dass Alleinerziehende und Alleinverdienende härter versteuert werden als Doppelverdiener und als Verheiratete generell. Als die Steuerberaterin Reina Becker nach dem Tod ihres Mannes plötzlich deutlich mehr Steuern zahlen musste als vorher, ließ ihr diese Ungeheuerlichkeit keine Ruhe. Auch Heiko Haupt aus Leipzig ging es gleich. Seit 2009 klagen beide durch alle Instanzen gegen die finanzielle Benachteiligung der Alleinerziehenden-Familien.4 Dass eine würdige Altersversorgung eine Seltenheit ist und die Armut unter Alleinerziehenden viermal höher als unter gemeinsam Erziehenden, ist schlicht ein Skandal.5
Für die meisten Alleinerziehenden sind die wirtschaftliche Last, die sie stemmen, und die Benachteiligung, die sie in Kauf nehmen müssen, die bei weitem größten Probleme – die die Freude an der kleinsten Familie auch zunichtemachen können. Alleinerziehen ist eine belastete und anstrengende Lebensform. Nur ein Drittel der Alleinerziehenden lebt in wirtschaftlich entspannten Verhältnissen.
Ich selbst gehöre nicht dazu. Trotz langjähriger freiberuflicher Arbeit für einige der besten deutschsprachigen Zeitungen und Radios sind die Ängste und Angstrituale des Lebens im »Prekariat« mein ständiger Begleiter. Die Honorare im Kulturjournalismus – einer Branche, die laufend an Boden verliert und an der ich noch immer mit Leidenschaft hänge – sind nicht gemacht, um davon zu leben; schon gar nicht zu zweit. Ich erhalte Steuerrechnungen, die ich stunden lassen muss, weil ich sie nicht bezahlen kann. Und so bin ich mit meiner spannenden...