Einleitung
Unbekannte Untermieter
Der Tod beginnt im Dickdarm.
Ilja Metschnikow (1845–1916)
Als Arzt muss ich seit vielen Jahren mehrmals pro Woche Patienten oder deren Angehörigen klarmachen, dass es für eine schlimme neurologische Erkrankung, die das Leben dieser Patienten unausweichlich zerstören wird, kein mir bekanntes Heilmittel mehr gibt. Ich muss dann passen, denn die Krankheit hat sich verselbstständigt, und ihr rasches Fortschreiten lässt sich weder aufhalten noch hinauszögern. Solche Worte zerreißen auch einem Arzt das Herz, egal wie oft er sie überbringen muss. Man gewöhnt sich nie daran. Was mich mittlerweile mit neuer Hoffnung erfüllt, ist die wachsende Zahl an Studien, die mir endlich revolutionäre Ansätze ermöglichen, das Leid zu lindern. In diesem Buch geht es um solche faszinierenden, neuen Erkenntnisse und wie man sie für die eigene Gesundheit nutzen kann.
Denken Sie einmal kurz darüber nach, wie sehr sich unsere Welt dank der Medizinforschung im Laufe des letzten Jahrhunderts verändert hat. Pocken, Ruhr, Diphtherie, Cholera und Scharlach haben viel von ihrem Schrecken verloren. Auch bei anderen lebensbedrohlichen Krankheiten sinkt die Sterberate, sogar bei HIV und AIDS, manchen Krebsarten und Herzerkrankungen. Denkt man jedoch an Erkrankungen des Gehirns, so zeigt sich ein ganz anderes Bild. Bei der Prävention, Behandlung und Heilung für schwere neurologische Krankheiten – von Autismus und Aufmerksamkeitsdefizit mit Hyperaktivität (ADHS) bis hin zu Migräne, Depressionen, Multipler Sklerose (MS), Parkinson-Krankheit und Alzheimer-Krankheit – sind praktisch keine Fortschritte zu verzeichnen. Im Gegenteil, die Fallzahlen steigen, und wir scheinen uns auf verlorenem Terrain zu bewegen.
Betrachten wir dazu ein paar Zahlen: In den zehn reichsten westlichen Ländern und insbesondere in den USA ist der Anteil der Gehirnerkrankungen (in der Regel Demenz) als Todesursache in den letzten 20 Jahren dramatisch angestiegen. Laut einer britischen Studie aus dem Jahr 2013 haben sich die Todesfälle aufgrund von Gehirnerkrankungen in Amerika um atemberaubende 66 Prozent bei den Männern und 92 Prozent bei den Frauen erhöht. Woraus der federführende Autor der Studie, Professor Colin Pritchard, folgerte: »In diesen Zahlen geht es um reale Menschen und deren Familien, und wir müssen [erkennen], dass es sich um eine ›Epidemie‹ handelt, die eindeutig von Umweltveränderungen und gesellschaftlichen Veränderungen beeinflusst ist.« Die Forscher registrierten auch, dass dieser Anstieg, der immer jüngere Menschen erfasst, in scharfem Kontrast zur erheblichen Risikominderung bei allen anderen Todesursachen steht.1 2013 veröffentlichte das New England Journal of Medicine einen Bericht, demzufolge die Pflegekosten für Demenzpatienten bei über 50 000 Dollar pro Kopf und Jahr liegen.2 Das sind insgesamt etwa 200 Milliarden Dollar jährlich – doppelt so viel, wie wir für Herzpatienten ausgeben und fast das Dreifache der Ausgaben für Krebskranke.
Angststörungen und affektive Störungen nehmen ebenfalls zu und können das Leben genauso massiv beeinträchtigen wie andere neurologische Erkrankungen. In den Vereinigten Staaten ist jeder vierte Erwachsene von einem Krankheitsbild betroffen, für das es eine medizinische Diagnose gibt.3 Über 40 Millionen (etwa 13 Prozent) haben eine Angststörung, und fast zehn Prozent der erwachsenen US-Bürger benötigen wegen einer affektiven Störung starke Medikamente.4 In Deutschland sind die Zahlen, die allerdings noch aus dem Jahr 1998 stammen, ähnlich: 14 Prozent der Bundesbürger zwischen 18 und 65 Jahren erfüllten im Befragungszeitraum von 12 Monaten die Diagnosekriterien für eine Angststörung, für Depressionen waren es 12 Prozent. Die Lebenszeitprävalenz für eine Depression lag 1998 in Deutschland sogar bei 19 Prozent.5 In den USA ist jeder Zehnte von Depressionen betroffen (bei den Frauen zwischen 40 und 60 sogar jede Vierte), und weltweit sind sie ein führender Grund für Behinderungen. Die Diagnosen nehmen in erschreckendem Tempo zu.6 Medikamente gegen psychische Störungen zählen in den USA zu den am häufigsten verschriebenen Arzneimitteln, doch diese Mittel behandeln nicht die sträflich vernachlässigten Ursachen einer Depression, sondern lediglich die Symptome. Menschen mit schweren psychischen Krankheiten, beispielsweise bipolaren Störungen oder Schizophrenie, sterben rund 25 Jahre früher als der Durchschnitt der Bevölkerung.7 (Was teilweise daran liegt, dass die Betroffenen vermehrt rauchen, Alkohol und Drogen konsumieren und häufiger übergewichtig sind, sodass übergewichtsbedingte Erkrankungen zu den psychischen Problemen hinzukommen.)
Kopfschmerzen und Migräne zählen zu den häufigsten Beschwerden des Nervensystems. Fast die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung hat mindestens einmal im Monat damit zu kämpfen. Dabei sind Kopfschmerzen nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, denn sie beeinträchtigen Aktivitäten und Lebensqualität und sind auch ein Kostenfaktor.8 Die meisten betrachten Kopfschmerzen als harmloses Übel, was unter anderem daran liegt, dass Kopfschmerzmittel leicht zugänglich und erschwinglich sind (was zumindest auf ASS, Paracetamol oder Ibuprofen zutrifft). Laut der Schmerzstiftung National Pain Foundation (NPF) gehen allerdings 160 Millionen verlorene Arbeitstage pro Jahr und 30 Milliarden Dollar an Behandlungskosten auf das Konto von Kopfschmerzen.9
Von der Autoimmunkrankheit Multiple Sklerose, die über eine Schädigung der Nervenverbindungen zu Behinderungen führt, sind weltweit inzwischen schätzungsweise 2,5 Millionen Menschen betroffen, und die Fallzahlen steigen weiter.10 Die lebenslangen Behandlungskosten bei MS betragen im Durchschnitt über 1,2 Millionen Dollar pro Patient.11 Ein Heilmittel ist laut Aussage der Schulmedizin bisher nicht zu erwarten.
Hinzu kommt Autismus, der in den letzten 15 Jahren um das Sieben- bis Achtfache zugenommen hat, was dieses Erscheinungsbild zu einer modernen Epidemie macht.12
Obwohl wir für diese und andere stark einschränkenden Krankheiten mit Gehirnbeteiligung Millionen ausgeben, sind die Fortschritte beklagenswert gering.
Doch nun die gute Nachricht: Bahnbrechende neue Erkenntnisse aus den renommiertesten Forschungseinrichtungen auf der ganzen Welt belegen inzwischen, dass die Gesundheit des Gehirns – und umgekehrt auch Gehirnerkrankungen – unter dem Diktat unserer Darmtätigkeit stehen. Doch, wirklich: Was aktuell in Ihrem Darm geschieht, bestimmt maßgeblich Ihr Risiko für diverse neurologische Erkrankungen. Mir ist bewusst, dass dies schwer nachvollziehbar erscheint – wenn Sie Ihre Ärzte fragen, welche Heilmittel gegen Autismus, MS, Depressionen oder Demenz bekannt sind, würden diese nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und einräumen, dass es keine gibt und vermutlich auch nie geben wird.
An dieser Stelle widerspreche ich den meisten meiner Kollegen (aber glücklicherweise nicht allen). Neurologen lernen, sich möglichst ausschließlich auf das Nervensystem, insbesondere das Gehirn, zu konzentrieren. Andere Körpersysteme wie der Magen-Darm-Trakt werden dabei automatisch als weniger wichtig eingestuft, weil sie nicht direkt mit dem Gehirn zu tun haben. Mit Magenschmerzen gehen wir schließlich nicht zum Kardiologen oder zum Neurologen. Das Gesundheitssystem hat sich in verschiedene Spezialisierungen für einzelne Körperteile oder Organsysteme aufgespalten. Darum sagen die meisten meiner Kollegen: »Was im Darm passiert, geht nur den Darm etwas an.«
Diese Sichtweise blendet allerdings aktuelle wissenschaftliche Forschungsergebnisse aus. Das Verdauungssystem hat nämlich durchaus eine enge Verbindung zu dem, was im Gehirn vor sich geht. Und der vielleicht wichtigste Aspekt des Darms, der für das allgemeine Wohlbefinden und die psychische und geistige Gesundheit von größter Bedeutung ist, ist dessen inneres ökologisches System: die vielen Mikroorganismen darin (vornehmlich die Bakterien).
Darf ich vorstellen? Ihr Mikrobiom
Bakterien wurden lange als Quelle allen Übels betrachtet. Immerhin hat die Beulenpest zwischen 1347 und 1352 ein Drittel der europäischen Bevölkerung ausgelöscht, und manche bakteriellen Infektionen sind heute noch weltweit eine todbringende Gefahr. Doch es ist an der Zeit, auch die andere Seite der Medaille anzuerkennen. Wir müssen uns klarmachen, dass manche Keime nicht schädlich, sondern lebenswichtig sind.
Im dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung sagte der griechische Arzt und Begründer der modernen Medizin, Hippokrates: »Jede Krankheit beginnt im Darm.« Damals gab es keinerlei Beweis oder begründete Theorie, um diese Worte zu erklären. Bis der holländische Kaufmann und Arzt Antonie van Leeuwenhoek im späten 17. Jahrhundert durch ein selbstgebautes Mikroskop seine eigenen Zahnbeläge betrachtete und die verborgene Welt der Animalcules (»kleine Tierchen«) entdeckte, wussten wir nicht einmal von der Existenz der Bakterien. Heute gilt van Leeuwenhoek als Vater der Mikrobiologie.
Im 19. Jahrhundert erkannte der russische Biologe und Nobelpreisträger Ilja Metschnikow die verblüffende Verbindung zwischen einem langen Leben und einem gesunden bakteriellen Gleichgewicht im menschlichen Körper und bestätigte die Aussage: »Der Tod beginnt im Dickdarm.« Seit seinen Entdeckungen (zu einer Zeit, als Aderlässe noch beliebt waren) schält sich immer deutlicher heraus, dass bis zu 90 Prozent aller bekannten Krankheiten...