Einleitung
Meine Recherchen über die Kokainmeere begannen im Jahr 2004. Ich untersuchte damals für mein Buch Camisas azules, manos negras (»Blaue Hemden, schwarze Hände«) die im halbstaatlichen mexikanischen Ölkonzern Pemex grassierende Korruption, die bis in höchste Regierungskreise reicht. Hierfür fuhr ich mit dem Schiff in das Zentrum der mexikanischen Erdölindustrie, in die Bucht von Campeche im Golf von Mexiko. Auf dieser abenteuerlichen Reise in eines der am stärksten boomenden Erdölfördergebiete der Welt war ich nicht allzu überrascht, zu erfahren, dass auf den Bohrinseln – Plattformen aus Stahl und Glasfaser neunzig Kilometer vor der Küste – Kokain konsumiert wird. Die Tatsache, dass Männer, die über lange Zeit von der Außenwelt abgeschnitten auf einer Plattform arbeiteten und sich dabei einem hohen Risiko aussetzten, auch während der Arbeitszeit zu Stimulantien griffen, verblüffte mich weniger als die Art und Weise, wie das Rauschgift auf die Bohrinseln gelangte.
Die Ölplattformen sind staatliches Sperrgebiet. Um sie zu betreten, muss man strenge Sicherheitskontrollen passieren. So gut wie jeder Neuankömmling wird komplett durchleuchtet, ebenso die Gegenstände, die er mit sich führt. Es sind abgeschirmte, von Armee und Polizei mit moderner Hightech-Ausrüstung minutiös überwachte Einrichtungen. Trotzdem ist hier Rauschgift erhältlich, vor allem Kokain. Ich fragte mich damals, wie das funktionierte und wer dahintersteckte.
Wieder auf dem Festland angekommen, skizzierte mir ein Kapitän, der Einsätze gegen den Rauschgifthandel koordinierte, in groben Zügen, wie der Drogenschmuggel auf See funktioniert. Er war darauf spezialisiert, Kokainladungen aufzuspüren, die von einem südamerikanischen Mutterschiff angeliefert werden, bevor sie an bestimmten Koordinaten entweder »zurückgelassen« und von Rauschgifthändlern mit Schnellbooten aufgefischt oder auf kleinere Schiffe umgeladen und dann in den Hafen gebracht werden. »Das läuft perfekt koordiniert ab«, sagte er.
Später erfuhr ich, dass Rauschgift auf denselben Tankern in die Bucht von Campeche gelangt, die auch die Kabotage erledigen, oder aber auf Schiffen versteckt wird, die im Auftrag des Staates die Plattformen errichten und warten; manchmal sogar mit den Fährbooten, die Arbeiter zur Plattform bringen. Einzelne Arbeiter fungieren in diesem Fall als Mulis, das heißt, sie schmuggeln Kokainplomben an oder in ihrem Körper.
Mir war schnell klar, dass ich auf die logistischen Strukturen eines der einträglichsten und bestorganisierten Geschäfte krimineller Kartelle gestoßen war – des Kokainschmuggels im großen Stil –, auf eine Infrastruktur, die Süchtige diesseits und jenseits des Atlantiks, ja bis in den hintersten Winkel des Pazifiks mit dem begehrten Rauschmittel versorgt. Auch der Tauschhandel zwischen den Rauschgiftschmugglern in Mexiko und Südamerika und ihren Kollegen im Mittleren Osten und in Asien wird, wie ich bald herausfand, von hier aus organisiert: Drogenausgangsstoffe und Waffen gegen weiterverarbeitetes Kokain und Heroin, das die bitterarme Bevölkerung der afrikanischen Länder vom Golf von Guinea bis zum Maghreb ebenso süchtig macht wie die Konsumenten des entlegenen, weitläufigen und finanzstarken Kontinents Australien, wo ein Gramm Kokain bis zu 785 Dollar kosten kann – während in Produzentenländern wie Kolumbien oder Peru ein Kilogramm aus erster Hand oft für achthundert Dollar zu haben ist.
Ich ging davon aus, dass hier wie zu allen Zeiten diejenigen, die die Seewege kontrollierten, die über die Mittel verfügten, um die Meere zu befahren und die Häfen zu infiltrieren, auch den Handel dominierten, da in dieser Phase – verglichen mit Anbau und Herstellung – die höchsten Profite erzielt werden. Um dies zu belegen, wagte ich mich über das Meer zu den dunklen Abgründen und Mechanismen des weltweiten Rauschgifthandels vor, jenes Mafia-Apparats, der Partner unterschiedlichster Gesinnung, Herkunft, Nationalität, Muttersprache und sozialer Stellung in einem lukrativen Geschäft vereint, bei dem es weder Konjunkturflauten und Börsencrashs noch politisches Lagerdenken gibt und an dem sich Sozialisten und Kapitalisten gleichermaßen beteiligen.
Je länger ich mich mit der Schifffahrt als dem Rückgrat des Welthandels – und damit auch des Rauschgifthandels – beschäftigte, desto gründlicher konnte ich mich davon überzeugen, dass sie eine Welt für sich ist, die ihren eigenen, den meisten Menschen völlig unbekannten Gesetzen gehorcht. Es ist eine Welt am Rande der staatlichen Aufmerksamkeit und der behördlichen Kontrolle. Die Ozeane und ihre Häfen sind rechtsfreie Zonen, und das organisierte Verbrechen profitiert davon. Die zahllosen Häfen dieser Welt, in denen Kokainschmuggler ungehindert durch den Zoll kommen, sind die Drehscheiben, die den weltweiten Vertrieb und Konsum des Rauschgifts überhaupt erst möglich machen. Für diese Organisationen, die weder Sprachbarrieren noch gesetzliche Schranken kennen, ist die Welt klein und überschaubar: Sie besteht nur aus Routen für die Übergabe von Drogen, aus Häfen und Zollstellen mit Beamten, die auf ihren Gehaltslisten stehen, aus den halcones genannten Spähern, die ihre Ladungen überwachen, und sonstigen Informanten, die für sie arbeiten – weil die kriminellen Organisationen die finanziellen Möglichkeiten haben, Beamte zu schmieren, auch in Ländern, in denen man stolz auf niedrige Korruptionsraten ist.
Als ich meine Nachforschungen anstellte, erlebte Mexiko gerade eine der turbulentesten Phasen seiner Geschichte, den »Krieg gegen die Drogen«: ein brutales, törichtes und sinnloses Blutbad als Folge der Entscheidungen eines gescheiterten Präsidenten, in dessen Regierungszeit die mexikanischen Mafiakartelle zu den Herrschern des weltweiten Kokainhandels aufgestiegen sind. Die Mexikaner konnten die noch in den achtziger Jahren dominierenden Kolumbianer ablösen, indem sie die Seerouten für den Rauschgiftschmuggel organisierten, kontrollierten und ausbauten. Seither ist ihre Herrschaft ungebrochen, auch wenn einige bekannte Anführer verhaftet wurden.
Auf dem Seeweg haben die mexikanischen Kartelle – in Kooperation mit galicischen, kolumbianischen, venezolanischen, peruanischen, britischen, italienischen, chinesischen, türkischen und russischen Mafiosi – entlegene Weltgegenden wie den australischen Kontinent, die Marshallinseln und die Häfen Asiens erobert. Unter ihrem Einfluss sind Guinea-Bissau zum ersten Drogenstaat der Welt, Spanien zur Rauschgiftbörse Europas, Panama zum wichtigsten Drehkreuz für den interozeanischen Drogenschmuggel, der Amazonas zum Zubringerfluss und verschiedene mexikanische Häfen zu wahren Drogenparadiesen geworden.
Investigativer Journalismus ist nie ganz risikolos. Für das vorliegende Buch aber musste ich von Anfang an mit den Haien schwimmen – weil mich die Recherchen in ein Milieu führten, in dem es oberstes Gebot ist, zu schweigen, wenn man am Leben bleiben will. Der angesehene Reeder, dem man gegenübersitzt, gehört womöglich einer kriminellen Organisation an, ohne dass man etwas davon ahnt. In einem solchen Umfeld kann jeder falsche Schritt tödlich sein – doch ich lernte, nur den Leuten zu vertrauen, die von meinem Vorhaben wussten und es unterstützten.
Um die Seerouten des Rauschgifthandels zu skizzieren, besuchte ich sowohl die Länder, in denen das Rauschgift verarbeitet und verschifft wird, als auch die Länder, für die es bestimmt ist. Nach der Veröffentlichung meines Buchs El cártel negro (»Das schwarze Kartell«), in dem ich die Aktivitäten des organisierten Verbrechens innerhalb der mexikanischen Erdölindustrie und internationaler Konzerne aufgedeckt hatte, musste ich Mexiko 2012 zu meiner eigenen Sicherheit verlassen. Als Stipendiatin der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte und später des internationalen Autorenverbandes PEN ließ ich mich in Deutschland nieder. Es sah damals ganz nach einer langen Flaute für mein Rechercheprojekt aus, so als wäre der Plan aufgegangen, sich einer Journalistin zu entledigen, die gierige Geschäftsleute und eine korrupte Regierung für die Stärkung der mexikanischen Mafia verantwortlich gemacht hatte. Doch neuer Wind kam auf und brachte es wieder auf Kurs. Denn auf dem eurasisch-afrikanischen Festland schließt sich der Kreis des Kokainhandels. Seine Häfen und sein Markt für den Drogenkonsum – der zweitgrößte nach den USA – machen ihn für die Rauschgiftschmuggler zu einem wichtigen Bestimmungsort für ihre Lieferungen und zum Umschlagplatz für Waffen, Grundstoffe und Geld. Seine Banken, Konsortien und Konzerne sind nicht nur Teil einer sauber bilanzierten Wirtschaft, sondern auch Orte, wo Schwarzgeld gewaschen wird. Und nicht zuletzt befinden sich hier ebenso die Schifffahrts- und Ermittlungsbehörden, die am besten darüber Bescheid wissen, wie die Mafia ihre Geschäfte über das Meer abwickelt.
Dieses Buch enthüllt, wie der organisierte Rauschgifthandel und seine wirtschaftlichen Strukturen den internationalen Handel unterwandert haben. Ich konnte es nur schreiben, weil mir Seeleute und andere Kenner der Materie Zugang zu ihren Kreisen verschafften. Weil sie gegen die omertà, die Schweigepflicht, verstießen, um die Öffentlichkeit wissen zu lassen, wie lang der Arm der Mafia tatsächlich ist. Nur mit ihrer Hilfe konnte ich erfahren, in welchem Ausmaß die Seeverkehrs- und Hafenwirtschaft von kriminellen Vereinigungen durchsetzt ist, nur mit ihrer Hilfe konnte ich verstehen, wie das Rauschgift auf See transportiert wird, und auch den Modus Operandi der großen Schifffahrtsunternehmer kennenlernen, die wissentlich oder unwissentlich am Drogenschmuggel beteiligt sind....