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Hathor und Re II

Die altägyptische Religion - Ursprünge, Kult und Magie

AutorHarry Eilenstein
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl396 Seiten
ISBN9783738679243
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Das alte Ägypten ist auch noch heute eine faszinierende Kultur - die Pyramiden, die Hieroglyphen, die Pharaonen, die blühende Niloase inmitten der Sahara ... Fast tausend Jahre lang war Ägypten das einzige Königreich auf der Erde, während es ringsum nur einige kleine Stadtstaaten gab. Aber das Alte Ägypten ist nicht nur von historischem Interesse, die ägyptische Religion beschreibt Erlebnisse, die auch noch heute jeder Mensch haben kann wie z.B. die Astralreise, bei der man mit seiner Seele seinen materiellen Körper verläßt und ihn unter sich liegen sieht. Dieses Schweben wurde im Alten Ägypten durch viele Bilder dargestellt - z.B. durch den Horusfalken, der über der Mumie schwebt. Eine solche Astralreise durch den Priester ist auch das Kernstück des ägyptischen Bestattungsrituals, bei dem der Priester die Seele des Verstorbenen zurück in seine Mumie oder Statue holt, damit sie weiterhin ihren Nachkommen mit Rat und Hilfe beisteht. Die ägyptische Religion zeigt auch, wie ein Volk kollektiv in der Geborgenheit der Muttergöttin Hathor ruhen bleibt und trotzdem die Eigenständigkeit erlangt, die der Sonnen- und Königsgott Re darstellt - sowohl ein Vorbild für die Loslösung jedes einzelnen Kindes von den Eltern ohne dabei den Halt in der Familie zu verlieren als auch eine Anregung dafür, wie wir unsere heutige Kultur heilen können, die an der Einsamkeit und dem Mangel an Geborgenheit der Menschen leidet ... Osiris, die Gottheit, mit der sich jeder Ägypter und jede Ägypterin nach ihrem Tod identifizierte, ist das Ideal der Ägypter auch während ihres Leben: auf die Muttergöttin vertrauen, in der eigenen Mitte ruhen und die "Gottheit im eigenen Herzen" kennen, in Besonnenheit und Stärke und in Harmonie leben - und ohne Furcht vor dem Tod.

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Leseprobe

VII A Die Kannibalismushymne


Die Pyramidentexte sind die die älteste Sammlung von Texte über die religiösen Vorstellungen der Ägypter und der älteste größere religiöse Text überhaupt. Wie die ältesten Bücher anderer Völker wie z.B. der Zend-Avesta der Perser, das Rig-Veda der Inder oder das Popul Vuh der Mayas befassen sich auch die Pyramidentexte vor allem mit der Reise ins Jenseits. Daneben finden sich in den Pyramidentexten auch neue Motive, die sich vor allem auf den König und sein Verhältnis zu Re und zu Osiris beziehen. Aber auch alte Vorstellungen wie das Himmelsmeer, die Totenbarke mit dem Jenseitsfährmann (Schamanen), die Sternenseelen, die von der Himmelsgöttin geboren werden, die Symbolik der roten Farbe, die Seelenvögel und der Weltenbaum erschienen hier zum ersten mal in der menschlichen Geschichte in geschriebener Form.

Von diesen Texten ist besonders die Kannibalismushymne interessant, da sie zum einen der längste zusammenhängende Text in den Inschriften in den Pyramiden ist, und da er zum anderen ein Thema beschreibt, das zwar schon aus der Altsteinzeit her bekannt ist, aber dessen so deutliches Überleben zumindest als mythologisches Motiv bis in die späte Jungsteinzeit hinein sonst nicht faßbar gewesen wäre – zumal man die ägyptische Religion im allgemeinen nicht gerade mit Kannibalismus assoziiert.

Es ist auch aus den archäologischen Funden in Ägypten kein Fall von Kannibalismus bekannt, aber diese Hymne zeigt doch deutlich, daß diese archaische Form der Erhaltung der Lebenskraft innerhalb einer Sippe offenbar zumindest als Vorstellung noch sehr lebendig sein mußte, um sich als Bild für den Pharao eignen zu können, der sich in der Kannibalismushymne durch das Verspeisen aller Götter selber zu dem wichtigsten Gott machte.

Da sich der Kannibalismus auf das Verspeisen eines sehr geschätzten verstorbenen Ahnen bezieht, zeigt dieses Motiv wieder einmal, daß die Götter aus sozusagen vergrößerten und standartisierten Ahnen entstanden sind. Der Pharao wollte offenbar dadurch, daß er alle bisherigen Ahnen (zumindest in seiner Vorstellung) verspeiste, selber der wichtigste Ahn werden. Man sieht hier auch deutlich das Streben des Königtums nach Zentralisierung auf allen Ebenen, das sich eben nicht nur in der Politik, sondern auch in der Religion zeigte. Beim Lesen dieses Textes sollte man bedenken, daß er für den Schutz des Pharaos im Jenseits verfaßt wurde, daß die magische Macht dieses Textes also den Pharao vor allen Gefahren im Jenseits schützen sollte.

Der Kannibalismus ist in gewisser Weise die älteste und archaischste Methode, um sich mit einem anderen Menschen zu identifizieren. Sie ist damit der Vorläufer der Invokationen, also der späteren Methoden, sich durch Imaginationen und Anrufungen mit einem Ahn, einem spirituellen Lehrer, einem Heiligen oder einer Gottheit zu identifizieren und dadurch auf magische Weise die Qualitäten der invozierten Person zumindest in kleinerem Maßstab zu übernehmen.

Der Pharao wird in diesem Text zu dem größten Lebewesen überhaupt, aber es gab in den Pyramidentexten auch andere Töne wie z.B. in dem 272. Pyramidenspruch, in dem der Pharao zu einem Gott spricht: „O Tor der Unterwelt, ich bin zu dir gekommen; laß dies für mich geöffnet werden.“ und in dem dem Pharao von einem Gott geantwortet wird: „Ist dieser Kleine dort der König?“ Die Anrede „dieser Kleine dort“ findet sich in den Texten des Alten Reiches des öfteren, wenn ein Gott zu dem Pharao spricht.

Interessant an diesem langen Text ist auch, daß er für die Pharaonen neu verfaßt wurde und alle zeitgenössischen religiösen Motive benutzt, um die neue Idee, daß der Pharao der größte aller Ahnen ist, zu illustrieren - und dadurch nebenher eine große Zahl an Details über die damaligen religiösen Vorstellungen verrät.

In diesem Text kann man auch die Macht der Pharaonen und die Begeisterung der Pharaonen über die Macht spüren, die in ihren Händen lag – sie regierten viele hundert Jahre lang das einzige Königreich auf der ganzen Welt, das mehr als ein oder zwei Städte umfaßte.

Pyramidentexte in der Pyramide des Teti

- - - - -

Kannibalismushymne

(Pyramidenspruch 273-274, um 2.800 v.Chr.)

Der Himmel ist bedeckt, (1)

Die Sterne sind verdunkelt,

Die Weite des Himmels bebt,

Die Knochen des Erdgottes erzittern,

Die Planeten bleiben stehen, (5)

Denn sie haben den König in seiner Macht erscheinen sehen

Als einen Gott, der seine Väter verspeist

Und seine Mutter frißt;

Der König ist der Herr der Weisheit,

Dessen Mutter nicht seinen Namen kennt. (10)

Der Ruhm des Königs ist am Himmel,

Seine Macht ist am Horizont

Wie sein Vater Atum, der ihn zeugte.

Er zeugte den König,

Aber der König ist mächtiger als er. (15)

Die Mächte des Königs sind um ihn,

Seine Hemsut sind unter seinen Füßen, Seine Götter sind über ihm,

Seine Uräusschlangen sind auf der Krone seines Kopfes,

Die Führerschlange des Königs ist an seiner Stirn, (20)

Sogar sie, die die Seele sieht,

Die zum Verbrennen geeignet ist;

Der Hals des Königs ist auf seinem Leib.

Der König ist der Stier des Himmels,

Der erobert, wie er will, (25)

Der sich von dem Wesen aller Götter ernährt,

Der ihre Eingeweide ißt,

Selbst die, die mit ihren Körpern voller Magie

von der Flammeninsel kommen.

Der König ist gerüstet, (30)

er versammelt seine Geister;

Der König ist als dieser Große erschienen,

Er besitzt Helfer;

Er sitzt mit seinem Rücken an Geb gelehnt,

Denn es ist der König, der richtet (35)

Zusammen mit dem, dessen Name verborgen ist

an jenem Tag, an dem die Ältesten geschlachtet werden.

Der König besitzt Opfergaben und er verknotet den Strick

Und er bereitet sich selbst ein Mahl;

Der König ißt Menschen und ernährt sich von Göttern, (40)

Er besitzt Läufer, die seine Botschaften eilig überbringen;

Er ist der „Ergreifer des Haarknotens“, der Kehau heißt,

Der sie mit seinem Lasso für den König einfängt;

Es ist die Schlange mit erhobenem Kopf,

Die sie für ihn bewacht (45)

Und sie für ihn gefangenhält;

Es ist der „Herr des Rotfärbens“,

Der sie für ihn bindet;

Es ist Chons, der die Herren schlachtete,

Der sie für den König erdrosselte (50)

Und für ihn herausholte, was in ihren Körpern ist,

Denn er ist ein Bote, den der König zur Gefangennahme sendet.

Es ist Schezmu, der sie für den König aufschneidet

Und für ihn einen Teil von Ihnen kocht

Auf seinen Abend-Herdsteinen; (55)

Es ist der König, der ihre Magie ißt

und ihre Seelen verschlingt;

Die großen von Ihnen sind für sein Morgenmahl,

die mittelgroßen sind für sein Abendmahl,

Die kleinen sind für sein Nachtmahl, (60)

Die alten Männer und die alten Frauen unter ihnen sind zum Verbrennen seines Weihrauchs bestimmt;

Es sind die Großen im Norden des Himmels,

Die das Feuer für ihn entzünden

Und die Glut unter den Kesseln entfachen

Mit den Schenkeln der Ältesten unter ihnen. (65)

Die, die am Himmel sind, dienen dem König,

Und die Herdsteine werden für ihn gefegt

Mit den Füßen ihrer Frauen.

Er ist um die ganze Weite der beiden Himmel gereist,

Er hat die beiden Ufer umkreist, (70)

Denn der König ist eine große Macht,

Der Macht hat über die Mächte;

Der König ist ein heiliges Bild,

Das heiligste der Heiligen Bilder des Großen,

und jeden, den er in seinem Weg findet, (75)

den zerreißt er in kleine Stücke.

Der Platz des Königs ist an der Spitze

All der Erhabenen, die am Horizont sind,

Denn der König ist ein Gott,

Älter als die Ältesten. (80)

Tausende dienen ihm,

Hunderte opfern ihm,

Es ist ihm eine Bürgschaft, eine Große Macht zu sein, gegeben worden

von Orion, dem Vater der Götter.

Der König ist wieder am Himmel erschienen, (85)

Er ist gekrönt als Herr des Horizonts;

Er hat die Wirbelsäulen der Götter zerbrochen

Und sich ihre Herzen genommen;

Er hat die Rote Krone gegessen,

Er hat die Grüne verschlungen. (90)

Der König ernährt sich von den Lungen der Weisen,

Und ist zufrieden damit, Herzen und ihre Magie zu essen;

Der König wehrt sich dagegen, an den Sebschu zu lecken,

Die in der Roten Krone sind.

Er genießt, daß ihre Magie in seinem Bauch ist; (95)

Die Würden des Königs sollen nicht von ihm genommen werden,

Denn er hat den Geist aller verschluckt.

Die Lebenszeit des Pharaos ist die...

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