Einführung
Das Anliegen
Im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern sehen Menschen vermeintlich Dinge, die nicht existieren. Dem Koran widerfährt ein gegenteiliges Geschick. Etliche seiner Worte und Verse, schwarz auf weiß gedruckt, werden nicht wahrgenommen. So stellt es sich jedenfalls dar – dass mit dem Aufstieg orthodoxer Auslegung seit einem Jahrtausend auf Dogmen beharrt wird, die zentrale Aussagen des Koran zum Glauben, dem Kern der Religion, ignorieren.
Glaubt ihr denn nur an einen Teil des Buches und leugnet den anderen?1 zürnte Gott bereits zu Zeiten der Offenbarung. Wie bei anderen heiligen Schriften war die Neigung abzusehen, sich des Koran gleich eines Buffets zu bedienen, von dem man nimmt, was behagt. Und mit der Verfestigung derartiger Haltungen wurden - und werden - jene Teile mit dem Bann der Nichtwahrnehmung belegt, die dem Geschmack der jeweiligen Dogmatik widersprechen.
Nun ist der Islam als Religion des Koran alles andere als ein monolithisches Gebilde. Nicht geringer als das Christentum in schier unzählige Gemeinschaften und Gruppen zersplittert, stellen sie sich - um im Bild zu bleiben - aus dem Koran ein je eigenes "Menü" zusammen.
Die unterschiedliche Rezeption des Buches wird exemplarisch sichtbar in den Ausdeutungen des Dschihad als Aufforderung zum Kampf versus die Anstrengung zur persönlichen Vervollkommnung. Bestimmte Kernannahmen, so das Bild des einzigen Gottes als allmächtiger Schöpfer oder die ewige Existenz im Jenseits, sind jedoch eherner Bestand der gesamten Religionsgemeinschaft.
Nicht zuletzt die in den letzten Jahrzehnten von den islamischen Kulturen ausgehenden Dynamiken hatten im Autor das Interesse entfacht, das zentrale Werk dieser Weltreligion zu lesen, den Koran. Eine gewaltige Herausforderung, wie sich rasch erwies. Bietet er sich doch dem unbefangenen Leser gleich einem schwer zugänglichen Gebirge von Worten dar, in dem einiges verständlich ist und noch mehr zunächst unverständlich bleibt: fragmenthaft, zerschnitten und wie anschließend absichtslos zusammengefügt, vielsagend und mehrdeutig. Ein Irrgarten der Lettern, der wohl manchen gutwilligen Leser aus der Suche nach der Essenz seiner Wirkmächtigkeit ratloser entlässt als er es eingangs war.
Aber vielleicht gibt es einen Schlüssel, der zum Verständnis führt, müssen geistige Siegel gebrochen werden, um sein Wesen erfassen zu können? Und so ist dieses Buch entstanden: Ergebnis einer zunehmend gerichteten Erkundung mit keinem geringeren Ziel, als die inneren Zusammenhänge sowie eine in sich stimmige und folgerichtige Vorstellung zum Glaubenskern aufzuspüren − einen Ariadnefaden zu finden, der durch das Labyrinth der Verse führt. Im Zentrum steht also das Buch mit seinen Zeichen, im mehrfachen Sinne des Wortes.
Es konnte allerdings nicht ausbleiben, einen Blick auf seine Entstehung zu werfen und auf seinen Verkünder, ebenso auf seine Bedeutung in der heutigen Zeit und damit auf den Islam und dessen Vermögen, dem Koran in seinen tiefsten Absichten zu folgen. Grundsätzlich blieb es jedoch bei der Konzentration auf den Koran. Er allein verkörpert Gottes vollendetes Wort zur Religion der Araber, zum Islam.
„Die grundlegende Botschaft des Koran sind Richtlinien und Anweisungen, durch die er dem Menschen Rechtleitung gibt, (sie) sind universeller Art. Sie gelten für alle noch kommenden Zeiten und in allen Situationen. Diese Offenbarung entspricht der Stellung des Menschen auf der Erde und in der Geschichte. Der Mensch hat in seiner Entwicklung das Stadium erreicht, in dem universelle Grundsätze angewandt werden müssen, um seine zweckvolle Existenz zu gewährleisten.”
Die alles überragende Bedeutung sieht von Denffer2 darin,
„dass der Koran Sprache von Allah ist, die in ihrer genauen Bedeutung und Wortwahl über den Engel Gabriel offenbart wurde, durch viele unabhängige Überliefererketten übermittelt, unnachahmlich und einzigartig und geschützt durch Allah selbst gegen jedwede Verfälschung”.
Was immer an fundamentaler Einsicht erworben und noch zu gewinnen ist, muss auf diesem Werk fußen.
Um den unbefangenen Zugang nicht zu verstellen, wurde auf eine Auswertung von Korankommentierungen und -exegesen zunächst verzichtet. Die eingangs verwendete Sekundärliteratur nutzte vornehmlich der Hinführung zum Gegenstand, dem Ertrag konnte sie kaum dienen. Vielmehr erwies sich, dass wichtige Fragen bisher ungestellt sind oder doch nicht öffentlich wurden. Zudem sind einige Befunde der Erkundung so überraschend, dass sie gewiss Verbreitung gefunden hätten, wären sie bereits anderenorts formuliert worden. Dies mit einer Einschränkung: In der mehr als tausendjährigen Rezeptionsgeschichte des Koran im Islam wird Etliches von dem, was dem Autor ins Auge stach, bereits betrachtet worden sein und vermutlich weitere Dinge, die ihm nicht auffielen oder nicht als relevant erschienen.
War es dann sinnvoll, dieses Buch zu schreiben? Existiert doch seit mehr als einem Jahrtausend ein Kanon unumstrittener Dogmen:
- Gott ist „erster Grund” und allmächtige Schöpfer.
- Der Koran ist Gottes Wort, in dem alle Dinge festgelegt sind.
- Die Propheten sind des Herrn Verkünder und Mohammed ist ihr Siegel.
- Die Gläubigen unterwerfen sich dem einzigen Gott, um seiner Barmherzigkeit willen.
- Sie dürfen auf das Jenseits hoffen und auf ewige Existenz in einer künftigen Welt.
- Die „Buchbesitzer” sind verdammt, weil sie Gottes Wort verfälscht haben.
Dennoch, Verschiedenes von dem, was sich eröffnet hat, konnte erst aus der Sicht heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis deutlich werden. Zudem gilt das Sprichwort, dass man drinnen oft den Wald vor Bäumen nicht sieht. Dass also der Blick auf eine Kultur durch den Außenstehenden zu Einsichten führen kann, die von innen schwerlich gelingen. Schließlich erwiesen sich manche Folgerungen, die Vorhandenem ähnlich anmuten, im Näheren als recht verschieden.
So hat sich letztlich der Eindruck gebildet, dass selbst muslimische Reformer in manchem den kongenialen, zukunftsweisenden Gehalt des Koran verfehlen. Daher mutet es eigenartig an, wenn Kritiker der Orthodoxie3
„über die Schizophrenie beunruhigt (sind), zu der die Muslime bei ihrer Denkweise neigen, wenn sie einerseits damit einverstanden sind, in manchen Bereichen Bezug auf die Vernunft zu nehmen, es andererseits ablehnen, diese zu Hilfe zu nehmen, wenn es um die Religion und vor allem um das Verstehen des Koran geht,”
jedoch zuweilen demselben Phänomen zu erliegen scheinen. Welcher Art mögen die Widerstände sein, die es Muslimen verwehren, das Buch vollständig zu verstehen und anzunehmen? Fanden sich darin doch überraschende Einsichten und Hinweise zu Fragen wie
- Ist Gott Urschöpfer der Welt?
- Wer gelangt in die Gärten, unter denen Bäche fließen?
- Wie lange währt die Ewigkeit?
- Was erwartet Gott wirklich vom Menschen?
Für Muslime sind die Antworten von eminenter Bedeutung. Und auch den Leser aus westlichen Kulturen wird etwa die Feststellung, dass selbst jene, die sich als Märtyrer verstehen und das eigene Leben opfern, nicht ins verheißene Paradies gelangen, aufmerken lassen.
Erstaunlich ist, wie unzulänglich sich die westliche Sicht auf den Koran vielfach bis heute darstellt. Sie würdigt die literarische Qualität, sieht auch eigenständige spirituelle Elemente, erschöpft sich aber zumeist noch darin, das Werk an der Tora und am Evangelium zu messen und ist irritiert ob seiner Wirkmacht.
Ja, aus Tora und Evangelium ist dem Koran vieles eigen, ist doch ein gutes Wort [...] wie ein guter Baum: Fest steht seine Wurzel, und sein Gezweig reicht in den Himmel. Sure 14:Vers 24] Und so strebt auch der Koran aus diesen Wurzeln empor − höher, als gemeinhin wahrgenommen wird. Ja, er ist in Vielem irritierend. Jedoch, erschließt sich der "Code", wird verstehbar, dass scheinbar wirre Versfolgen nicht zuletzt seiner komplexen Rolle geschuldet sind. Und des treibenden Momentums der Eingebung, die ihn einst zustande brachte. Erst dann offenbart sich wahre spirituelle Kern der Religion, erschließt sich aus der nun erkennbaren Geradlinigkeit des Textes seine höhere Absicht. Gedankliche Ebenen und Perspektiven schimmern im Licht einer Einsicht von faszinierender visionärer Kraft.
Das also erwartet den Leser, und es ist wohl nicht zu viel gesagt, dass sich mit der Lektüre die zumeist unzureichenden Vorstellungen zum Koran und auch zum Islam verändern können. Muslime mögen zur überraschenden Entdeckung gelangen, dass der Atem des Buches sich bis zu einem Horizont ausdehnt, den der Islam bislang nicht abschreiten konnte. Der Autor aber hat zum Koran von dem geschrieben, was er darin vorgefunden hat.
Vorgehen
So steht also der Koran im Zentrum der Erkundung, zunächst in textlogischer Hinsicht und im sinngerechten Verstehen der Aussagen. Wichtige Themen, Widersprüche und spirituelles Potenzial sind Ansatzpunkte der Betrachtung. Dabei kam es darauf an, das Wesen des Buches aus dem Blickwinkel der Verkündung zu...