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E-Book

Das Leben Goethes

AutorGeorg Witkowski
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl284 Seiten
ISBN9783844869064
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Goethe erwacht neu! Ad fontes! - So lautete der Wahlspruch der Renaissance; gemeint waren die antiken Quellen. Zurück zur Antike - das war auch für Goethe und seine Mitstreiter oft genug die Rettung, wenn die Verspieltheit des Rokoko, die heroische Verklärung patriotischer Gefühle der Revolutionszeit und der Befreiungskriege oder mittelaltertümelnde, verschwommene Romantik den Dichtern und ihren Lesern den klaren Blick auf die Wahrheit und das Wesentliche zu verstellen drohten. Dabei war es Goethes Stärke, wie Witkowski überzeugend ausführt, die Antike neu und zeitgemäß zu interpretieren und sich von ihr inspirieren zu lassen. Seine Begeisterung für diese Epoche war also keineswegs restaurativ. Ad fontes - zu den Quellen! - das ist aber auch das Motto der Neuherausgabe des Klassikers 'Das Leben Goethes' von Georg Witkowski. Die Lebensbeschreibung und Werkanalyse des größten deutschen Dichters wurde von der altertümlichen Frakturschrift befreit und in moderner Optik ansprechend und leserfreundlich gestaltet. So kann die jüngere Generation an das Wissen der Älteren anknüpfen, es neu bewerten und zur Diskussion stellen.

Georg Witkowski, geboren 1863 in Berlin und verstorben 1939 in Amsterdam, war Germanist und Literaturhistoriker. Der Sohn eines jüdischen Kaufmanns konvertierte später zur protestantischen Kirche. Er lehrte deutsche Sprache und Literatur an der Universität Leipzig und veröffentlichte zahlreiche bis heute geschätzte Werke zu seinem Fachgebiet. 1932 wurde er vom Reichspräsidenten mit der Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft geehrt. Ab 1933 von den antisemitischen Maßnahmen der NS-Herrschaft betroffen, ging er ins Exil.

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Leseprobe

Einleitung


Seit Goethe sterbend unter die Unsterblichen einging, ist ein Jahrhundert verflossen. Für die Mehrzahl der Großen genügt dieser Zeitraum, um ihre Gestalt den Nachlebenden in festem, kaum mehr veränderlichem Umriss vor Augen zu stellen. Mag das Bild der geschichtlichen Wahrheit gemäß sein oder der Legende entstammen, es hat die Gewähr der Echtheit, nicht mehr von dem wechselnden Lichte des Zeitgeistes anders gefärbt und geformt.

So einheitlich erblicken wir unter Goethes Lebensgenossen Schiller, Mozart, Beethoven, Napoleon, Lord Byron, Shelley in den Grundlinien ihrer Wesenheiten schon seit langem. Was Ergebnisse der Forschung, vertiefte Seelenkunde, reichere Kenntnis der Umwelt hier zuwege gebracht haben, bedeutet für sie nur vermehrte Farbigkeit; aber selbst dort, wo die Geschichte dem Mythos die Gewähr rauben müsste, besiegt sie ihn nicht mehr, löscht die volkstümlichen Überlieferungen nicht aus.

Auch für Goethe gab es einst einen solchen Mythos. Seiner eigenen Zeit und noch dem größten Teile des 19. Jahrhunderts galt er als einer der Dichter, in deren Schaffen, wie man meinte, der gesamte geistige Aufstieg Deutschlands gipfelte. In Schillers und Goethes Werken sah die Nation stolz und freudig ihre Eigenart mit hohem Künstlervermögen ausgeprägt. Sie gewährte ihnen dankbar den Kranz, den beide auf dem Weimarer Doppeldenkmal als gemeinsamen Besitz halten.

Dieses Symbol birgt noch für uns den bescheideneren Sinn, dass die Lebenswege der beiden Großen eine beträchtliche Strecke in gleicher künstlerischer Hauptrichtung liefen, während Land und Stadt Weimar der Schauplatz ihrer Geistestaten war. Aber uns bedeutet jene Epoche der Gemeinschaft mit Schiller nicht mehr deshalb den Höhepunkt von Goethes Wollen und Können, weil er damals dem klassischen Formideal am nächsten kam. Die einseitige, durch den Werdegang der neueren deutschen Dichtung bedingte Kunstanschauung ist jetzt überwunden; Realismus, Romantik, neueste Formweisen stehen gleichberechtigt neben klassischer Idealkunst. Wir erblicken in Hauptstilen nicht mehr den Ablauf historischer Entwicklungsfolgen, sondern die Kennzeichen typischer Stimmungen, von denen das Innenleben des Künstlers und sein Verhältnis zur Umwelt, Stoffwahl und Form bedingt werden.

Kein deutscher Dichter, kein Künstler hat den gesamten Kreis dieser Grundstimmungen und Stilwelten so vollständig durchlaufen wie Goethe, keinem war es wie ihm gegeben, mit unerschöpflicher Kraft und in immer neuen Gestaltungen sein eigenstes Wesen und das allgemeingültig Menschliche in einer langen Reihe verschiedenartiger Kunstwerke von hohem absoluten Wert zu versinnlichen. Götz von Berlichingen, Iphigenie, der zweite Teil des Faust – Heidenröslein, Erlkönig, Westöstlicher Divan, Marienbader Elegie – Werther, die beiden Wilhelm Meister und die Wahlverwandtschaften –, wüssten wir nicht, dass alle diese Schöpfungen demselben Geiste entsprungen sind, wir wären versucht, sie einer Anzahl von Verfassern und weit getrennten Zeitaltern zuzuschreiben.

Und so tritt immer wieder, gemäß den Wandlungen des jeweiligen Zeitempfindens, die eine Gruppe stärker hervor, die andere zurück. Der klassische Goethe gilt den Mitlebenden seiner zweiten Lebenshälfte und fast dem ganzen 19. Jahrhundert als der allein mustergültige Dichter, ausgenommen den kurzen Zeitraum des Jungen Deutschlands, das den Stürmer und Dränger auf den Schild erhebt, wie es dann wieder die jungen Naturalisten gegen das Jahrhundertende hin tun. Aber je näher wir der Gegenwart kommen, umso höher steigt das Ansehen der Altersdichtungen, des Westöstlichen Divans und des zweiten Fausts. Drei Sehweisen, gleich auf derselben Platte festgehaltenen Lichtbildern sich mischend zu einem für das ungeübte Auge widerspruchsvollen, schwer klärbaren Gesamteindruck.

Es kommt hinzu, dass Goethes Denk- und Formweise der heutigen Menschheit fern steht, dass schon die Fülle seiner Dichterwerke die Annäherung erschwert, dass zu den poetischen Schöpfungen die Schriften wissenschaftlicher und autobiographischer Art, die literarischen und kunstkritischen Aufsätze, die Tagebücher und Briefe als notwendige Ergänzungen hinzutreten. Aus allen diesen Bausteinen wächst das Riesenbild empor, dass der große Mensch Goethe sich selbst gesetzt hat. Kaum bedarf es der ergänzenden Schilderungen und Urteile von Zeitgenossen und Nachlebenden. Wer mit liebevoller Hingabe Goethes eigene der Nachwelt überlieferten Worte in ihrer Gesamtheit in sich aufnimmt, an dem bewährt sich das prophetische Wort: die Menschen würden staunen, dass je solch ein Mensch gelebt.

Solcher Hingabe löst sich auch das Rätsel dieser einzigen Existenz in der Erkenntnis ihrer Voraussetzungen. Die Umstände, die das Wachstum bis zum letzten erreichbaren Punkte menschlichen Werdens gedeihen ließen, erhellen sich, freilich immer nur so weit, wie überhaupt die geheimnisvollen inneren Wandlungen und das Sein einer großen Menschenseele aus Zeugnissen erschließbar sind. Beschränkt ist auch aller Forschung zum Trotz die Erkenntnis von Goethes Künstlertum. Die Übergänge vom Erlebten zum Gestalteten, die wichtigsten Werdeprozesse bleiben überall dort schattenhaft, wo der Dichter nicht selbst Kunde von ihnen gab.

Goethe hat uns reiche Nachrichten über sein Schriftstellerdasein gegeben. Die Jugendgeschichte Dichtung und Wahrheit besagt durch ihren Titel, dass sie das Verhältnis des Erdichteten zum Erlebten schildern, die Werke des ersten großen Zeitraums durch die Biographie erläutern will. Goethe spürt den Wurzeln seiner Wesenheit bis in die feinsten Endfasern nach, die aus dem breiten umgebenden Erdreich seiner Jugend Nahrungssäfte gesogen haben. Der reife Mann senkt in das Innere des Knaben und des Jünglings einen Blick, so tief, wie Erinnerung und Meisterschaft der Seelenkunde irgend vermag, in rücksichtslosem Streben nach Klarheit die Schleier der Selbstliebe, der Scham und der Reue fortziehend, wo nicht das Andenken schon Dahingegangener oder das Gefühl der Lebenden geschont werden musste.

Trotz diesem fast ungehinderten, durch die günstigsten Voraussetzungen unterstützten Streben, volles Licht über den eigenen Werdegang zu verbreiten, bleibt doch in vielen Beziehungen der Erfolg hinter der Absicht zurück. Auch das glänzendste Aufgebot biographischer Forschungs- und Darstellungsmittel genügt dem Wunsche restloser Erkenntnis nicht vollkommen. Vollends für die langen Weimarer Jahre hat Goethe auf die ursprünglich geplante Fortführung des Unternehmens in demselben Stile verzichtet und nur mit bescheidenerer Absicht die an äußeren Eindrücken reichsten Episoden auf Grund von Tagebüchern und Briefen oberflächlich abgerundet den Lesern dargeboten. Die ergänzende Zusammenstellung der Tag- und Jahreshefte will nur als Leitfaden durch die Zeit von der Rückkehr aus Italien bis 1822 gelten.

Nur scheinbaren Ausgleich dieses Mangels bieten die ausführlichen Tagebücher der letzten Jahrzehnte, geringere Ausbeute als der Umfang erhoffen lässt die zahlreichen Briefbände, weil in ihnen weit mehr der Wunsch von anderen zu empfangen als das Bedürfnis sich selbst mitzuteilen vorherrscht.

Nehmt nur mein Leben hin in Bausch

und Bogen, wie ich‘s führe;

Andre verschlafen ihren Rausch,

Meiner steht auf dem Papiere.

Wenn er sagt wie oben zitiert, so zielt er auf das, was bis ins höchste Alter hinein das Hauptthema seiner Poesie war, den Kampf mit den dunklen Gewalten in der eigenen Brust. Dadurch werden die späten Dichtungen zur wichtigsten Quelle der Lebensgeschichte, sofern eine Biographie gerade den Katastrophen nachzuspüren hat, die das fortdauernde innere Glühen unter der allmählich erkaltenden Außenfläche bezeugen.

Goethes Fühlen scheint sich ja immer enger auf den nächsten Bezirk zusammenzuziehen, je weiter er den Bereich seines Geistes erstreckt. Wir müssen fürchten, den Menschen und den Dichter aus dem Auge zu verlieren, wenn wir ihm in die breiten Gefilde seiner naturwissenschaftlichen Studien, seiner kunstkritischen Betrachtungen, seiner staatsmännischen Tätigkeit folgen. Er scheint uns zu entschwinden.

In Wahrheit gehen alle Strahlen von dem einen Mittelpunkt aus, der Persönlichkeit. Goethe hat sie das höchste Gut der Erdenkinder genannt, zu anderen Zeiten freilich auch die ererbten und erworbenen Hemmnisse freien Flügelschlags schmerzhaft empfunden. Sowohl die Heroenanbeter wie die Jünger einer Geschichtsauffassung, die den Einzelnen im Strome des Geschehens treiben sieht, dürfen Goethe zu den ihrigen rechnen. Seine Naturanschauung sieht alles zu Ketten verbunden, in denen ein Glied das andere hält; doch nicht in der Weise, dass die Einzelerscheinung durch Naturgesetz und Vorgänger darwinistisch determiniert wäre. Am Ausgangspunkt steht für ihn der Typus, die Urform der Gattung, und aus seinen möglichen unzähligen Variationen bildet die Natur ihren Zwecken entsprechende Gestalten, in Freiheit, von immanentem Bildungstrieb und Schönheitssinn beseelt. Dabei wirken im körperlichen...

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