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E-Book

Vaterliebe

AutorVictor Chu
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl300 Seiten
ISBN9783608109542
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Der Vater ist - nach der Mutter - nur die zweitwichtigste Bindungsperson des Kindes. Warum ist das so? Warum ist uns Vaterliebe nicht so selbstverständlich wie Mutterliebe? Warum haben wir eher ein Gefühl von Ferne als von Nähe, wenn wir an den Vater denken? Das Vatersein kann den Gipfel in der Entwicklung eines Mannes darstellen. Wie beim Erklimmen eines Berges braucht es Entschlossenheit, Geduld und Durchhaltevermögen. Vater zu sein haben viele Männer nicht am Vorbild ihrer eigenen Väter lernen können, weil diese fehlten oder geistig abwesend waren. Es muss dann mühsam, durch Versuch und Irrtum, erlernt werden. Wenn Victor Chu heute - nach 30 Jahren als Vater - zurückschaut, so fragt er sich: Was würde ich heute als alter Vater dem jungen von damals sagen? Welche Hoffnungen haben sich bestätigt, welche sich als Illusion erwiesen? Wovor würde ich ihn warnen? Was würde ich genauso machen, was anders?

Victor Chu, Dr. med., ist Arzt und Diplom-Psychologe und arbeitet als Psychotherapeut, Tai-Chi-Lehrer und Ausbilder in Gestalttherapie und gestalttherapeutischem Familienstellen.

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Leseprobe

II. Zur Geschichte der Väter seit den Weltkriegen

Mein Vater

Ich möchte im Folgenden die Geschichte meines Vaters erzählen. Ich glaube, sie kann als Beispiel für das Verhältnis zwischen Vätern und Söhnen meiner Generation dienen. Ein zweiter Grund, von meiner eigenen Vatergeschichte auszugehen, liegt in der Überzeugung, dass kein Mann über das Thema Vaterliebe schreiben kann, ohne sich – implizit oder explizit – auf seine eigene Beziehung zu seinem Vater und seinen Kindern zu beziehen. Der wichtigste Grund für mich, von meiner persönlichen Betroffenheit auszugehen, liegt jedoch darin, dass es zum überholten Selbstverständnis von Männern gehört, man sei männlich, wenn man cool und rational bleibt. Wir stehen in einer jahrtausendlangen patriarchalischen Tradition, die vorschreibt, dass Männer stark und autark zu sein haben. Dies ist aber genau der Grund dafür, dass unsere Väter emotional so schwer erreichbar waren. Wenn wir also eine andere Männlichkeit und Väterlichkeit leben möchten, müssen wir transparent, das heißt durchsichtig werden, statt uns abzuschotten. Durchlässigkeit erreichen wir aber erst, wenn wir uns mit unserer persönlichen und unserer kollektiven Geschichte auseinandersetzen.3

Mein Vater wurde 1920 geboren. Da war in China, genau wie in Deutschland, die nachkaiserliche Zeit angebrochen. 1911 fand die Revolution statt, mit der das jahrtausendalte Kaisertum abgeschafft wurde. Die alten Zöpfe wurden buchstäblich abgeschnitten: Männer durften ihre verhassten, von der letzten Manschu-Dynastie vorgeschriebenen Zöpfe endlich abschneiden. Mädchen brauchten ihre Füße nicht mehr ab dem 6. Lebensjahr zusammenzubinden (damit sie die verkrüppelten, von den Manschuren als liebreizend angesehenen »Lotusfüße« bekamen, mit denen sie kaum gehen, geschweige denn weglaufen konnten). Es kamen westliche Filme in die Kinos, durch die die Menschen den westlichen Lebensstil kennen lernten. Mein Vater hat schon früh Anzug und Krawatte anstelle der langen traditionellen Gewänder getragen. Er liebte zeitlebens Armbanduhren.

Jedoch wies seine väterliche Linie schon damals Brüche auf. Sein Großvater, ein chinesischer Maler, war ganz früh verstorben, sodass sein Vater mit drei Jahren zu dessen verheirateten älteren Schwester nach Hangzhou, einer Millionenstadt am Westsee ziehen musste. Als er erwachsen geworden war, lernte mein Großvater bei seinem Schwager das Apotheker-Handwerk. Er stieg auf und leitete schließlich eine große Apothekenkette. Mein Vater erzählte mir, seine eindrücklichste Erinnerung an seinen Vater war, wie dieser an jedem Monatsende in eine Fähre stieg, um bei den Filialen abzurechnen. Also wurde er ebenfalls Apotheker.

Mein Vater war der Jüngere von zwei Söhnen seiner Eltern, die den älteren Bruder bevorzugten. Deshalb wollte mein Vater immer vom Elternhaus weg. Seine große Chance kam, als die Japaner 1937 in China einfielen und die chinesische Armee dringend Nachwuchs suchte. Mein Vater ließ sich anwerben, und als gelernter Apotheker wurde er gleich Offizier. Nun segelte er seinerseits stolz, mit einem Säbel am Gürtel, mit der vor den Japanern zurückweichenden Truppe auf einem Flussschiff gen Osten. Sie machten Station in einer größeren Stadt. Dort baute mein Vater die Garnisons-Apotheke auf. Er hatte gleich, als 17-Jähriger, sechs Untergebene. Er war glücklich.

Aber mein Großvater machte sich Sorgen um ihn. Er befahl meinem Vater, zu seinem älteren Bruder nach Shanghai zu gehen, einer von den europäischen Kolonialmächten besetzten Stadt, die von den Japanern in Ruhe gelassen wurde. Mein Vater gehorchte widerwillig. In der Metropole entdeckte er sein Talent für den Handel. Außer einer Apotheke eröffnete er auch noch einen Uhrenladen. Gegen Ende des Krieges lernte er dann meine Mutter kennen. 1946 wurde ich geboren.

Meine Eltern vertrugen sich jedoch nicht. Mein Vater floh vor den Streitereien ins Ausland. Er ging als Kaufmann nach Korea (da war ich gerade ein Monat alt), später nach Hongkong. Mittlerweile war der chinesische Bürgerkrieg zwischen den Kommunisten (unter Mao Zedong) und der nationalistischen Kuomingtang (unter Chang Kaishek) wieder ausgebrochen, der schon seit den 1920er Jahren getobt hatte und zwischenzeitlich durch die japanische Invasion unterbrochen worden war. Obwohl die Nationalisten massive militärische Hilfe von den USA bekamen, siegten die kommunistischen Truppen, weil diese sich um die Landbevölkerung kümmerten, während die Nationalisten von Großgrundbesitzern und Kapitalisten angeführt wurden. Sie flohen 1949 nach Taiwan. Die Volkrepublik China wurde im selben Jahr ausgerufen.

Als sich die kommunistischen Truppen Shanghai näherten, bekam meine Mutter Panik. Sie wollte eigentlich bleiben, aber sie war mit einem zweiten Kind schwanger. Als ihr von Freunden ein Flugticket in einem der letzten Flugzeuge angeboten wurde, floh sie Hals über Kopf mit mir nach Hongkong zu meinem Vater. Der Bambusvorhang, das Pendant zum Eisernen Vorhang in Europa, fiel. Meine Eltern waren in der britischen Kronkolonie gelandet, zwar in Sicherheit und materiell sorgenfrei, aber von der Heimat abgeschnitten. Immerhin hatte ich endlich meinen Vater wieder.

Ich erlebte ihn als einen lebhaften Geschäftsmann, der früh morgens aus dem Haus ging und erst spät nach Hause kam. Er konnte sich eine gemietete Villa und eine große schwarze Limousine leisten. Er brachte eine wunderschöne Hündin nach Hause, die uns viele kleine Welpen schenkte.

Für mich alleine hatte ich ihn aber kaum. Es sind nur eine Handvoll persönliche Erinnerungen, die ich an meinen Vater habe. Eine meiner wenigen Erinnerungen ist, wie er mir das Fahrradfahren beibringt. Ich fahre stolz im Park auf meinem neuen Zweirad voraus, während er mit einem Geschäftsfreund hinter mir her schlendert. Eine andere Erinnerung: Ich schaue fasziniert zu, wie er beim Frühstück das Dotter eines Spiegeleis ausschlürft, bevor er zur Arbeit aufbricht. Noch eine kostbare Erinnerung: Ich hocke zu seinen Füßen und entdecke seine Haare an den Unterschenkeln. Eine letzte Erinnerung aus der Kinderzeit: Ich bin sehr krank. Mein Vater trägt mich im Arm und geht mit meiner Mutter eine dunkle Holztreppe hoch zum Arzt.

Als ich acht war, nahm er mich in seinem Auto mit zur Schule. Ich war überrascht, weil ich sonst mit dem Bus fuhr. Beim Aussteigen sagte er mir: Er werde für einen Monat nach Deutschland fliegen. Ich solle auf meine Mutter aufpassen. Er blieb sechs Jahre weg.Wir warteten auf meinen Vater. Monat für Monat versicherte er, er werde bald nach Hause kommen. Er habe geschäftlich sehr viel zu tun.

Tatsächlich begann er in Deutschland China-Restaurants aufzubauen – in den 1960er Jahren herrschte ein regelrechter Boom von China-Restaurants. Mein Vater holte Köche aus Hongkong und Taiwan und half ihnen bei der Gründung eigener Gaststätten. Seine dankbaren Angestellten nannten ihn »Papa Chu«. Noch heute ist er, zwanzig Jahre nach seinem Tod, vielerorts bekannt.

Nach sechs Jahren fragte er meine Mutter, ob sie zu ihm nach Deutschland ziehen würde. Da sowieso vorgesehen war, dass wir Kinder ins Ausland studieren gehen sollten, willigte meine Mutter ein und fuhr 1961 mit meinen Schwestern und mir nach Deutschland.

Ich war 14. Ich freute mich auf meinen Vater, den ich als groß und kräftig in Erinnerung hatte. In meinen einsamen Tagen in Hongkong hatte ich mir vorgestellt, wie mein starker Vater den Freund meiner Mutter in die Flucht schlagen würde. Als wir in Genua aus dem Schiff stiegen und mein Vater uns entgegenkam, war ich bestürzt. Da kam ein kleiner Mann auf uns zu, einen halben Kopf kleiner als ich! Meiner jüngeren Schwester musste er wohl noch fremder vorgekommen sein. Sie war gerade ein Jahr alt, als er uns verließ. Nun war sie sieben.

Dennoch freuten wir uns. Auf der Fahrt über die Alpen sahen wir unseren ersten Schnee. Wir stiegen aus und befühlten diesen fremden Stoff. Als wir am Schwarzwald vorbeifuhren, wunderten wir uns, dass er gar nicht schwarz war. Wir akklimatisierten uns schnell. Wir gewöhnten uns daran, dass die Straßen im Gegensatz zu China so menschenleer waren. Wir lernten Deutsch aus dem Fernsehen und staunten, als einige Monate nach unserer Ankunft die ersten Bilder vom Mauerbau über den Bildschirm flimmerten. Wir verstanden nicht, was da vor sich ging.

Unsere Hoffnung auf die ersehnte Familienzusammenführung zerplatzte nach nur drei Monaten. Da nahm mein Vater uns Kinder wieder einmal im Auto mit und erklärte uns während der Fahrt, dass unsere Mutter und er sich doch nicht verstünden und dass er deshalb ausziehen würde. Er zog von Kaiserslautern nach...

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