2. Europäisches Mittelalter
Von der Spätantike ins frühe Mittelalter
Während es im 1. und 2. Jahrhundert nur zu sporadischen Schauprozessen gegen bekennende Christen und zu vereinzelt aufflackernden größeren Verfolgungen (so zum Beispiel unter Kaiser Nero) gekommen ist, war das 3. Jahrhundert von langandauernden, schweren Christenverfolgungen geprägt. Von den Rändern des Reiches her drangen fremde Völker auf römisches Territorium vor: die beginnende Völkerwanderung. In dieser Situation versuchte man der Staatskrise mit einer Beschwörung des alten heidnischen Glaubens zu begegnen. Das musste die inzwischen auf knapp zehn Prozent der Reichsbevölkerung angewachsene Gemeinschaft der Christen hart treffen. Aber schon am Anfang des 4. Jahrhunderts hörten die offenen Verfolgungen auf, und es begann sich das Schicksal der Christen entscheidend zu wenden. Unter den Kaisern Galerius und Konstantin wurde der christliche Glaube toleriert. Konstantin erwies sich sogar als ausgesprochener Förderer des Christentums, indem er den Bau von Kirchen zugelassen und unterstützt hat («konstantinische Wende»). Schon 361 hatten sich die Verhältnisse völlig umgekehrt: Jetzt mussten die heidnischen Kulte durch ein Toleranzedikt geschützt werden. Ein knappes Jahrhundert nach dem Ende der Verfolgungen wurde das Christentum 391 zur Staatsreligion erklärt. Das allmähliche Erlöschen der heidnischen Antike begann. 394 fanden zum letzten Mal die olympischen Spiele statt. Kurze Zeit später wurden alle heidnischen Kulte verboten.
Hand in Hand mit dem Siegeszug des Christentums vollzog sich der Niedergang des römischen Schulwesens. Solange die Christen noch eine ihrer hohen moralischen Ansprüche wegen beargwöhnte, sich bewusst von ihrer Umwelt distanzierende und häufig unterdrückte Minderheit gewesen waren, hatten sie sich mit dem Argument der Schule entzogen, sie wollten ihren Kindern mit Hilfe der christlichen Bibel, nicht jedoch an Hand der abgelehnten heidnischen Autoren, das Lesen und Schreiben lehren. Zwar hat der Kirchenlehrer Hieronymus (347–420) erst kurz vor der Wende zum 5. Jahrhundert die ganze Bibel aus dem hebräischen (Altes Testament) und griechischen Urtext (Neues Testament) ins Lateinische übersetzt. Gleichwohl waren auch zuvor schon zahlreiche, wenn auch unvollständige und voneinander abweichende lateinische Bibelversionen im Umlauf gewesen, so dass es für die urchristlichen Gemeinden ein Leichtes und bis zum Verbot des Privatunterrichts auch erlaubt war, die Kindererziehung selbstorganisiert und nach eigenen Vorstellungen zu besorgen. Für eine weiter wachsende Distanz zur Welt der Spätantike sorgte der Umstand, dass das Bibellatein in vieler Hinsicht den Charakter einer Sondersprache mit ganz eigenen Wortschöpfungen und Bedeutungsumprägungen besaß und die Christen auch auf diese Weise im Begriff waren, sich aus dem antiken Bildungshintergrund herauszulösen. Gleichwohl dürften – besonders in Italien, wo das Netz der Schulen schon immer dichter als in den Provinzen gewesen ist – nicht wenige Christenkinder weiterhin die nichtchristlichen Elementar- und höheren Schulen besucht haben. In bemerkenswerter Zahl treffen wir Christen sogar als Lehrer in diesen Schulen an. Zwar zerstörten die vordringenden Germanenstämme in den Provinzen, keineswegs aber in Italien das bestehende Schulwesen. Unter den Langobardenkönigen sollen diese Schulen dort vielmehr noch einmal zu großer Blüte gekommen sein.
Nun stellte sich jedoch bald heraus, dass das Christentum, so wie es sich zu entwickeln begann, nachdem es zur Staatsreligion geworden war, funktionierender Schulen im Grunde gar nicht bedurfte. War es in der vorkonstantinischen Zeit der von den Verfolgungen ausgehende Druck gewesen, der die Einrichtung christlicher Schulen verhindert hat, so zeigte sich jetzt, dass die christliche Glaubenspraxis von den Gläubigen keine Literalität verlangte. Die Messfeier wurde in Abkehr von der urchristlichen Glaubenspraxis zu einem Reservat der Kleriker. Als äußeres Zeichen dieser Entwicklung rückte der Altar in den Hintergrund des Chores. Das Heilige wurde – wie früher vor den Heiden, deren Zahl inzwischen stark geschrumpft war – nunmehr vor dem Christenvolk verhüllt. So ist es nicht etwa zur Übernahme des römischen Staatsschulwesens durch die Christen, sondern zu einem wenn auch nicht völligen, so doch weitgehenden Verschwinden desselben gekommen. Die Kenntnis des Lesens und Schreibens, in der römischen Antike unter der Bevölkerung weit verbreitet, verlor sich im Übergang zum frühen Mittelalter – und zwar praktisch vollständig nördlich der Alpen, weitgehend aber auch in Italien. Einrichtungen, die bis heute gelegentlich als ‹Schulen› bezeichnet werden, nämlich die im Mittelmeerraum ab dem 3. und 4. Jahrhundert an verschiedenen Orten entstehenden so genannten Katechetenschulen, sind nicht als Versuch zu verstehen, ein christliches elementares Schulwesen aufzubauen. Vielmehr handelte es sich dabei um sporadisch auftretende Gruppen von Glaubensaspiranten, die sich unter Anleitung von theologischen Lehrern (Katecheten) in einem mehrjährigen gestuften Gang von Unterweisung und Bewährung auf die Taufe vorbereiteten. In dem Maße wie die Erwachsenentaufe an Bedeutung verlor, verschwanden auch die Katechetenschulen wieder.
Während also – wie in der Frühgeschichte Roms – elementare Bildung, so sie überhaupt nachgefragt wurde, wieder zu einer Sache der Familie wurde, lebten Reste höherer Bildung auch außerhalb des Privaten zunächst fort. Ein wichtiges Zentrum, von dem die Lehre der artes liberales bis zuletzt Impulse empfangen hatte, fiel mit dem Verbot aller nichtchristlichen Bildungseinrichtungen durch Kaiser Justinian zwar weg: 529 wurde in Athen die von Platon gegründete Akademie aufgelöst. Aber noch im Übergang zum frühen Mittelalter boten in den Städten Italiens, Spaniens, Galliens und des Rheinlands ansässige Grammatiker und Rhetoriklehrer ihre Dienste an. Im griechisch geprägten oströmisch-byzantinischen Reich lagen die Verhältnisse ohnehin anders, die Schriftkultur war dort nie bedroht. Das weitere Schicksal der höheren Bildung im Westen jedoch hing entscheidend von der Haltung ab, die die römische Kirche den ihrer Herkunft nach heidnischen artes liberales gegenüber einnehmen würde.
Besonders unter den frühen Kirchenlehrern waren die Anhänger der artes durchaus zahlreich. So hatte schon Clemens von Alexandrien (145–215) dafür geworben, sich nicht allein auf den Glauben zu verlassen, sondern vom gebildeten Christen verlangt, dass er von den artes etwas verstehe, um damit die Inhalte des neuen Glaubens auch wissenschaftlich begründen zu können. War es nicht Jesus Christus selbst gewesen, der den Teufel durch dialektische Kunst überwunden hat? Ähnlich argumentierte Tertullian (160–220), zuerst Rhetor und später einflussreicher Kirchenlehrer. Auch Origenes (185–254) wollte den Christen dazu befähigen, die christliche Lehre wissenschaftlich verteidigen zu können. Und immerhin war, um nur ein besonders prominentes Beispiel zu nennen, der aus Numidien gebürtige Kirchenvater und Bischof Augustinus (354–430) selbst ein Absolvent des antiken Bildungswesens, ein hervorragender Kenner der artes und vor seiner Taufe ebenfalls als Rhetoriklehrer tätig gewesen.
Schließlich kam ein sehr handfester Grund hinzu: Bis um 400 war der Priesterstand noch längst nicht fest etabliert. Vielfach lebten die Priester von einem Gewerbe, zum Beispiel vom Handel, und da konnte es ebenfalls nicht schaden, über profundes säkulares Wissen zu verfügen. Am Ende war es Flavius Magnus Cassiodorus (490–583), der mitten im Untergang der antiken Welt durch die Synthese von heidnischer Wissenschaft und christlichem Glauben zum Bewahrer ihres Erbes und zum eigentlichen Schöpfer des christlichen mittelalterlichen Lehrplans geworden ist. Cassiodor, unter dem Germanenkönig Theoderich (453–526) Leiter der Zivilverwaltung des Ostgotenreiches in Italien und auf dem Balkan sowie Besitzer einer umfangreichen Sammlung antiker Schriften, hat zwischen 551 und 562 in zwei großen Werken, in denen er die artes behandelte, die Verbindung von antiker und christlicher Bildung hergestellt. Cassiodor stand damit nicht allein. Sein Zeitgenosse Manlius Boethius (480–526) zum Beispiel, ein Kenner und Vermittler der griechischen Philosophie, verfasste als erster Christ Lehrbücher zu den artes. So gerüstet konnte man den nicht wenigen und vor allem einflussreichen Kritikern der artes in der Kirche entgegentreten, darunter keinem Geringeren als Papst Gregor I. (540–604). Diesem galt trotz eigener Gelehrsamkeit der Glaube als wichtiger, denn jede Wissenschaft. Verstehen könne nur, wer glaube. Folglich hielt Gregor wenig davon, die artes, und sei es auch nur als Glaubenspropädeutik, zu nutzen. Hinzu kam die auch von anderen theologischen Lehrern ausgesprochene Warnung vor den «Fabeln und Irrtümern», den Frivolitäten der antiken Schriftsteller. Der Besuch von Zirkusspielen und Theatern zum Beispiel war den auf ein asketisches Lebensideal verpflichteten Christen streng verboten. Obwohl sie in der Kirche immer wieder Unterstützung fand, konnte...