Kapitel 3, Die Bundeswehr in Afghanistan
Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan ist der bisher größte und gefährlichste Auslandseinsatz deutscher Streitkräfte. Über 3.000 Soldaten sind in Afghanistan stationiert um, wie der ehemalige Verteidigungsminister Peter Struck verkündet hatte, Deutschland „am Hindukusch zu verteidigen.“ 23 Soldaten sind bei der Mission bisher bei Unfällen und Anschlägen ums Leben gekommen. Deutschland hat als Führungsnation umfassend Verantwortung für Sicherheit und Wiederaufbau im Norden des Landes übernommen. Die Bundeswehr stellt hier die einzigen Aufklärungskapazitäten der NATO und betreibt das regionale Hauptquartier und den Flughafen in Mazar-e-Sharif. Die deutschen Truppen sind verantwortlich für taktischen Lufttransport, logistische Versorgung und medizinische Evakuierung von verletzten oder erkrankten Soldaten aller in der Region eingesetzten 18 Nationen. Die Bundeswehr führt in Kunduz und Feyzabad zwei der fünf regionalen Wiederaufbauteams. Im Bereich der zivil-militärischer Zusammenarbeit wurden bislang mehr als 520 schnell wirksame Vorhaben (Quick Impact-Projekte) realisiert, vom Straßen- und Brückenbau bis zur Errichtung von Schulen und der Verbesserung der Wasserversorgung durch das Bohren neuer Brunnen. Schließlich stellt die Bundeswehr in der Nordregion Ausbildungsteams für die ANA bereit. Die Mentoring and Liaison Teams (OMLT) unterstützen den Aufbau der afghanischen Armee durch weiterführende Ausbildung in Anschluss an die unter Führung der USA erfolgte Grundausbildung der afghanischen Soldaten. Über das Engagement im Norden hinaus unterstützt die Bundeswehr die ISAF landesweit mit Kräften für Lufttransport und taktische Luftaufklärung, medizinische Evakuierung, operative Information und Führungsunterstützung. Etwa 400 Bundeswehrsoldaten sind in Kabul, u.a. im Stab des ISAF-Hauptquartiers, und 21 Fernmeldespezialisten im südafghanischen Kandahar stationiert.
Im Bereich Entwicklung und Wiederaufbau leisten die deutschen Soldaten aller Erkenntnis nach gute und erfolgreiche Arbeit. Doch der Peacekeeping-Einsatz im Norden beschreibt nur die eine Realität der NATO-Operationen in Afghanistan. Die Schutzkomponente, die in der Durchführung von Sicherheitsoperationen besteht, bestimmt den Einsatz im Süden und Osten des Landes. Hier führen die Verbündeten Deutschlands Krieg gegen Taliban, Al-Qaida und weitere Milizen, die gegen die Karzai Regierung und die internationalen Truppen gewaltsam Widerstand leisten. Und die deutschen Soldaten sind bislang nicht oder in nur sehr begrenztem Umfang an solchen Kampfeinsätzen gegen die unter der Bezeichnung OMF zusammengefassten Gegner beteiligt. Es kommen unter den Verbündeten zunehmend Fragen nach der Berechtigung auf, mit der Deutschland diese Einsatzrealität für die Bundeswehr quasi ausschließt. Es offenbart sich hier eine Diskrepanz zwischen den militärischen Anforderungen des Einsatzes in Afghanistan, den politischen Erwartungen innerhalb der NATO und den militärischen Beiträgen, die Deutschland bereit ist zu leisten und die innenpolitisch durchsetzbar sind.
Der Einsatz der Bundeswehr ist zurückhaltend formuliert und betont weniger den militärischen als vielmehr den zivilen Charakter der Operationen in Afghanistan. Gleichzeitig ist Deutschland jedoch in die Bündnisstrukturen und operativen Abläufe der NATO eingebunden, so dass sich das Land nicht vollständig auf Stabilisierungseinsätze beschränken kann. Wenn die Verbündeten im Süden und Osten des Landes in Bedrängnis geraten, ist nicht nur die grundsätzliche Solidarität innerhalb der Allianz berührt, sondern auch der Erfolg der Gesamtmission gefährdet. Die Bundesrepublik Deutschland kann sich, als einer der größten Truppensteller der ISAF und eines der militärisch leistungsfähigsten Mitglieder der NATO, diesen Realitäten nicht entziehen. Ausdruck dieser Erkenntnis war etwa die Entsendung der Aufklärungs-TORNADOS, die aber explizit nicht zur Luftnahunterstützung, also direkt zu Kampfeinsätzen verwendet werden dürfen. Die Bundeswehr soll ihre Verbündeten unterstützen, dabei aber nach Möglichkeit nicht selbst kämpfen. Hierin kommt ein Widerspruch deutscher Sicherheitspolitik zum Ausdruck, die einerseits die militärische Dimension ihrer multilateralen Grundorientierung berücksichtigen muss, aber gleichzeitig auf Grund der inneren Verfasstheit des Landes, aktive Kampfeinsätze deutscher Soldaten als Konsequenz dieser Orientierung zu vermeiden sucht.
Damit offenbart sich in Afghanistan für die Bundesrepublik ein strategisches Dilemma. Die multilaterale Verankerung in der NATO forciert die Ausweitung des deutschen Engagements bis hin zur Teilnahme an Kampfeinsätzen, während die in Politik und Öffentlichkeit immer noch weit verbreitete „Kultur der Zurückhaltung“ als Begrenzung wirkt, die einen Kampfeinsatz des Militärs möglichst auf ein Minimum reduziert. Dieser Gegensatz ist letztlich verantwortlich für Inkonsistenzen und Beschränkungen des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan. Die von Bundeskanzler Schröder einst erklärte „Enttabuisierung des Militärischen“ scheint noch nicht abgeschlossen und der Einsatz des Militärs als Instrument der Politik nicht völlig „normalisiert“. Daher operiert die deutsche Bundeswehr in Afghanistan zwischen zwei Polen, einem grundsätzlich favorisierten „zivilen“ Peacekeeping wie in den PRTs praktiziert und dem militärischen Kampfeinsatz, dem man sich nicht gänzlich entziehen kann und an dem man mit Spezialeinheiten und Aufklärern beteiligt ist. Die Einsatzbeschränkungen, denen das deutsche ISAF-Kontingent unterworfen ist, sollen dabei sicherstellen, dass diese Gewichtung nicht zu sehr in Richtung der militärischen Auseinandersetzung verschoben wird.
Das deutsche PRT-Konzept - Vorrang des Zivilen:
Stabilisierungsoperationen markieren den Schwerpunkt des militärischen Engagements der Bundeswehr in Afghanistan. Nach langer Überlegung hatte die Bundesregierung am 22. September 2003 offiziell beschlossen, das sich im Aufbau befindliche amerikanische PRT im nordafghanischen Kunduz zu übernehmen: Ein Schritt, der auch der Verbesserung der zu dieser Zeit auf Grund der Irakkontroverse stark angespannten deutsch-amerikanischen Beziehungen dienen sollte. Vor allem bedeutete die Übernahme des PRT jedoch eine substantielle Verstärkung des Engagements der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Streitkräfte für Afghanistan angesichts der ausbleibenden Erfolge für Stabilisierung und Wiederaufbau außerhalb Kabuls. Unter Federführung des Außen- und Verteidigungsministeriums und unter Beteiligung des BMI und BMZ war ein Konzept erarbeitet worden, das die sicherheitspolitische Zielrichtung der vernetzten Sicherheit auf das deutsche PRT-Modell übertragen sollte. Im aktuellen Weißbuch der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik lautet der entsprechende Passus:
„Nicht in erster Linie militärische, sondern gesellschaftliche, ökonomische, ökologische und kulturelle Bedingungen, die nur in multinationalem Zusammenwirken beeinflusst werden können, bestimmen die künftige sicherheitspolitische Entwicklung. Sicherheit kann daher weder rein national noch allein durch Streitkräfte gewährleistet werden. Erforderlich ist vielmehr ein umfassender Ansatz, der nur in vernetzten sicherheitspolitischen Strukturen sowie im Bewusstsein eines umfassenden gesamtstaatlichen und globalen Sicherheitsverständnisses zu entwickeln ist“ (BMVG 2006: 25).
Im Gegensatz zur amerikanischen Konzeption betont der deutsche Entwurf folgerichtig die politische und zivile Ausrichtung der PRT‘s. Die Schaffung eines stabilen Umfeldes für Infrastrukturmaßnahmen und institutionelle Reformen steht im Vordergrund, nicht die Durchführung militärischer Operationen, die zivil flankiert sind. Dies widerspricht zum Teil der Definition zivil-militärischer Zusammenarbeit der Bundeswehr, die, analog zur Doktrin der NATO CIMIC explizit als Bestandteil der militärischen Operationsführung ausweist. Doch gerade die militärische Komponente wurde, trotz der im Vergleich höheren Anzahl an Soldaten, im deutschen Modell besonders zurückhaltend formuliert. Das deutsche PRT gilt offiziell als „ziviles Wiederaufbauteam mit militärischer Schutzkomponente“.
Die Führung der deutschen PRT’s ist als einzige als gleichberechtigte zivil-militärische Doppelspitze ausgelegt. Während die militärische Komponente in die ISAF-Struktur integriert ist und der NATO untersteht, ist die zivile Hälfte unter Leitung eines Diplomaten dem AA unterstellt. Die Rules of Engagement (ROE) der deutschen Soldaten sind ausgesprochen eng gefasst und der Waffeneinsatz ist außer zu Zwecken der Selbstverteidigung nur zur Verhinderung schwerer Menschenrechtsverstöße gestattet. Die Bundeswehr überlässt die Durchführung von Sicherheitsoperationen in ihrem Verantwortungsbereich den afghanischen Sicherheitskräften und beschränkt sich hier weitgehend auf den militärischen Eigenschutz. Das Auftreten der deutschen Soldaten wird immer wieder als besonders zivil und kulturell sensibel gelobt. Dies provoziert insbesondere auf amerikanischer und britischer Seite aber auch Kritik an den deutschen Soldaten als „Entwicklungshelfern in Uniform“, die robustes militärisches Auftreten vermissen ließen und etwa beim Drogenanbau lieber in die andere Richtung schauten. Das ISAF-Mandat des Bundestages schließt eine militärische Bekämpfung der Drogenwirtschaft explizit aus. Die Kritik der deutschen PRT’s als „risikoavers“ und „zahnlos“ wird sowohl in den Medien als auch in wissenschaftlichen Publikationen vertreten. „[...] die zu „vorsichtigen“, „ zu wenig robusten“ ROEs schränken den Wirkungsgrad der deutschen Soldaten am Hindukusch ein“. Auch in Deutschland wird die „Beliebtheitsfalle“ thematisiert, durch die der Öffentlichkeit und dem Parlament ein Bild der Bundeswehr als „bewaffnetem THW“ suggeriert wird. Eine Verharmlosung, die den militärischen Einsatzrealitäten in Afghanistan nicht angemessen sei.
Doch ungeachtet aller Kritik wird das deutsche PRT von der Bundesregierung regelmäßig als Modell für die NATO präsentiert, an dem sich der ISAF-Einsatz orientieren sollte. In Deutschland wird in Zusammenhang mit Forderungen der Allianz nach einem stärkeren Engagement der Bundeswehr im umkämpften Süden, immer wieder auf die Erfolge der Wiederaufbaubemühungen im Norden verwiesen. Können also die Einsatzbeschränkungen, die deutsche Kampfeinsätze faktisch ausschließen mit dem Konzept zivil-militärischer Zusammenarbeit begründet werden, wie es die Bundeswehr in Afghanistan praktiziert? Dies muss verneint werden. Ohne Zweifel hat das deutsche PRT-Konzept im Norden gewisse Erfolge aufzuweisen, doch gleichzeitig darf man die relativ günstigeren Begleitumstände, unter denen diese Erfolge zu Stande kommen, nicht unberücksichtigt lassen. Die relative ruhige Sicherheitslage im Norden ist nicht allein Ergebnis einer besonders erfolgreich umgesetzten Strategie vernetzter Sicherheit, wie sie in deutschen PRT‘s zum Ausdruck kommt. Das vergleichsweise stabile Umfeld ist auch Voraussetzung dafür, dass das zurückhaltend formulierte deutsche Konzept überhaupt zur Anwendung kommen kann. Eine Stabilität, die zudem „erkauft“ ist durch das inoffizielle Bündnis mit Drogenbaronen und Warlords wie General Daud, die sich mit der Präsenz der deutschen Truppen arrangiert haben.
Somit kann das deutsche PRT auch als Beispiel für eine Strategie der erfolgreichen Konfrontationsvermeidung angesehen werden. Die Argumentation, die Erfolge der deutschen Wiederaufbaustrategie im Norden sprächen gegen eine Beteiligung der Bundeswehr an Kampfeinsätzen im Süden, scheint daher nicht gerechtfertigt und wirkt, als würden die unterschiedlichen militärischen Herausforderungen in Afghanistan ignoriert. Ohne Bekämpfung derjenigen, die die Bemühungen um einen Wiederaufbau des Landes zunichte machen wollen, ist keine nachhaltige Stabilisierung möglich. Dies ist ein Auftrag der gesamten NATO, wie die Bundesregierung in ihrem Antrag zur Ergänzung des ISAF-Mandats des Bundestages um den Einsatz der Tornados wieder ausdrücklich erklärt hat: „Nur wenn die ISAF-Erweiterung auf ganz Afghanistan erfolgreich gestaltet wird, ist eine landesweite politische Stabilisierung möglich. Zur Bewältigung dieser Herausforderung ist die Allianz als Ganzes gefordert.“ Dabei geht die Unterstellung der PRT’s unter die Verantwortung der Allianz und die damit verbundene Ausweitung des Einsatzraumes der ISAF wesentlich auf Initiativen aus Berlin zurück, das über diese multilaterale Verankerung auch die Akzeptanz für die Ausweitung des deutschen Einsatzes zu Hause erhöhen wollte...