Einleitung
Als die Deutsche Lufthansa AG am 6. Januar 2001 75 Jahre alt wurde, fiel die lange geplante Feier aus. Erst kurz vorher war entdeckt worden, dass die Lufthansa im Zweiten Weltkrieg Tausende von Zwangsarbeitern beschäftigt hatte, darüber hinaus manches in der gepflegten Tradition eines der größten Luftverkehrskonzerne der Welt geschönt und vieles ganz verdrängt worden war. Obwohl die Lufthansa sonst keineswegs Chancen für ihr Marketing ausließ, erfuhren selbst die über einhunderttausend Beschäftigten nur durch eine Sonderausgabe der Werkszeitung und die Neuauflage einer bereits in den 1980er-Jahren entstandenen Unternehmenschronik, dass ihr Unternehmen 75 Jahre alt geworden war. Nach außen bestritt die Lufthansa ganz und gar, dass sie so alt war – der wahre Geburtstag werde erst in einigen Jahren gefeiert. 2005 wurde deshalb mit großem Echo der 50. Jahrestag des ersten Fluges der Lufthansa nach dem Zweiten Weltkrieg als ihr eigentliches Jubiläum begangen. Das war kein Jugendwahn oder der Versuch, das Alte ganz abzustreifen, sondern Ausdruck eines einzigartig schwierigen Verhältnisses zur eigenen Geschichte. Dieses schwierige Verhältnis aufzuklären ist Ziel dieses Buches.
Adler und Kranich ist die erste Geschichte der Deutschen Lufthansa AG von 1926 bis 1955. Während andere Darstellungen entweder nur Ausschnitte der Geschichte der ersten Lufthansa oder – seltener – der zweiten präsentieren, wird mit diesem Buch eine historische Brücke geschlagen. Erzählt wird die Geschichte der Lufthansa von der Gründung 1926 bis zum ersten Flug nach dem Zweiten Weltkrieg 1955. Das Buch ist damit auch eine Erklärung des abgesagten Jubiläums 2001. Denn es wird gezeigt, dass die für ein deutsches Großunternehmen mittlerweile einzigartige Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit schon bei der Gründung der zweiten Lufthansa in der jungen Bundesrepublik programmiert war. Die Lufthansa wurde teils bis in die 1960er-Jahre hinein von Männern – Bankiers, aber vor allem Regierungsbeamten – beherrscht, die sie 1926 gegründet hatten und auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht von ihrem Pfad abweichen wollten.
1999 stellte Joachim Wachtel eine Festschrift fertig, die zum Jubiläum am 6. Januar 2001 präsentiert werden sollte. Zehn Jahre hatte er an der »Geschichte der Lufthansa von den Anfängen bis 1945« gearbeitet. Im Zeichen des Kranichs sollte die Festschrift heißen; sie war auf 313 Seiten angewachsen, weitere zwanzig Seiten, auf denen Günter Ott die »Flugzeuge im Dienst der Deutschen Lufthansa bis 1945« aufzählte, nicht mitgerechnet. Wachtels Buch war als Summe der heroischen Tradition der ersten Lufthansa gedacht. Die bekannten Geschichten sollten ansprechend, vor allem mit vielen Illustrationen präsentiert werden. Wachtel hatte durch den langen Vorlauf Zeit genug gehabt, die Tradition der ersten Lufthansa an den Quellen zu prüfen. Bei dieser Prüfung war er an einer Zahl hängen geblieben, die er nicht erklären konnte: 7 654 – so viele ausländische Arbeiter beschäftigte die Lufthansa im Juni 1944.
Diese Zahl brachte die geplante große Jubiläumsfeier 2001 in Gefahr. Seit Sommer 1998 war über den deutschen Großunternehmen in den Vereinigten Staaten eine Klagewelle zusammengeschlagen. Anwaltsfirmen hatten Forderungen von Überlebenden des Holocaust gesammelt und traten medienwirksam mit Sammelklagen auf.1 Es war sicher, dass die Lufthansa gefragt werden würde, wenn sie denn ihr Jubiläum feierte: Wozu brauchte eine Luftverkehrsgesellschaft, die während des Krieges nur einen Teil ihres Europadienstes absolvierte, mehr Arbeiter, als sie je zuvor beschäftigt hatte? Und da der größte Teil ihrer ausländischen Arbeiter nicht freiwillig bei der Lufthansa war – warum ließ sie sich auf dieses Verbrechen ein? Da ich kurz vorher ein Buch über die Geschichte der deutschen Luftfahrtindustrie veröffentlicht hatte, in dem es auch um die Lufthansa und nicht nur am Rande um die Beschäftigung von Zwangsarbeitern ging, wurde ich im September 1999 beauftragt, eine Studie zu verfassen, in der Antworten auf die kritischen Fragen zur Zwangsarbeiterbeschäftigung gegeben wurden und die gemeinsam mit dem Buch von Wachtel veröffentlicht werden sollte. Das Ergebnis war noch viel belastender als erwartet. Es stellte sich heraus, dass die besondere Rolle der Lufthansa bei der Beschäftigung von Zwangsarbeitern keine Verirrung war, eine Handlungsweise, die ihr von den Nationalsozialisten aufgezwungen war oder gar Folge eines nationalsozialistischen Moralkodex,2 sondern ein sehr bewusst in Kauf genommenes Ergebnis ihrer Wirtschaftlichkeitsstrategie, um nach dem Ausfall der eigentlichen Einnahmequelle Kapital für eine grundstürzende Modernisierung ihrer Flotte für den Luftverkehr der Nachkriegszeit zu sammeln. Und es stellte sich heraus, dass die erste Lufthansa sich als ein politisches Unternehmen verstanden hatte. Christoph Weber, der 2009 einen Dokumentarfilm über die »verdrängte Geschichte der Lufthansa« drehte, fand sogar einen Filmausschnitt von 1942, auf dem der Aufsichtsratsvorsitzende Emil Georg von Stauss stolz bekundete, der Nationalsozialismus sei in der Lufthansa schon seit der Gründung »wirkungsvoll« gewesen.
Auf diese Eröffnung reagierte die Lufthansa in einer Weise, mit der kaum deutlicher gezeigt werden konnte, wie sehr es Teil der Unternehmensstrategie der zweiten Lufthansa gewesen war, sich mit der bunt schillernden Tradition der ersten zu schmücken. Ebenso wenig wie die Feier zum 75. Jahrestag stattfand, wurde das fertige Buch von Wachtel veröffentlicht. Meine Studie verschwand zwar nicht ganz in der Schublade, wurde aber nur als Manuskript vervielfältigt und auf explizite Nachfrage verschickt. Stattdessen bereitete sich die Lufthansa fortan auf das 50. Jubiläum des ersten Flugs nach dem Zweiten Weltkrieg vor und legte sich darauf fest, dass sie zwar einen gemeinsamen Namen, aber keine gemeinsame Geschichte mit ihrer Vorgängerin habe. Die Tradition der ersten Lufthansa wurde aber nicht völlig abgespalten, sondern weiterhin genutzt, um ihren vermeintlichen Glanz auf die zweite abzulenken, etwa durch das Traditionsflugzeug Ju 52 der Deutsche Lufthansa Berlin-Stiftung – ein Muster, das nicht bei der neuen Lufthansa, aber bei der alten und überwiegend bei der Luftwaffe des nationalsozialistischen Deutschland zum Einsatz gekommen war. Selbst in einem wissenschaftlichen Aufsatz wurde 2007 gespottet, dass die Lufthansa zwei Gründungsdaten habe, deren sie sich nach Bedarf und unbekümmert um Widersprüche bediene.3 Immerhin entschloss sich die Lufthansa nach der Ankündigung von Adler und Kranich dazu, die erwähnte 17 Jahre alte Festschrift von Joachim Wachtel – ergänzt um meine Studie zur Zwangsarbeiterbeschäftigung – veröffentlichen zu lassen. Doch abermals grenzt sie sich mit dieser »Geschichte der Lufthansa von den Anfängen bis 1945« von der ersten Lufthansa ab. Adler und Kranich versteht sich insoweit auch als Beitrag zur jüngsten Debatte, wie sich Unternehmen und Unternehmer in der Nachkriegszeit zu ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit stellten.
Gerald Feldman hielt schon 2002 fest, dass die Lufthansa im Umgang mit ihrer Geschichte recht einzigartig unter den deutschen Großunternehmen dastehe.4 Etliche deutsche Unternehmen mussten sich in den letzten dreißig Jahren in einem teils quälenden Prozess von dem überschüssigen nationalen Sinn befreien, der ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit während der Weimarer Republik, erst recht aber in der Zeit des nationalsozialistischen Deutschland zugeschrieben worden war. Meist waren diese Selbstbilder gemeinsam mit der nationalsozialistischen Vergangenheit verdrängt worden, oft genug aber in harmlose Unternehmenstraditionen eingeflossen. Das Selbstbild der deutschen Luftfahrt hingegen speist sich bis heute nahezu ungebrochen aus den Utopien, die in den 1920er- und 1930er-Jahren in sie hineingelesen wurden. Zu Tradition gewendet, beweist die Luftfahrteuphorie dieser Zeit bis heute ihre Stärke. Die Lufthansa ist nur ein Beispiel dafür, wenn auch ein wichtiges.
Mein Buch zeigt: Die Lufthansa hatte von Anfang an eine besondere Bedeutung für den deutschen Staat, obwohl sie als mehrheitlich privates Unternehmen getarnt wurde. Die Geschichte der Lufthansa wird von mir deshalb einerseits als klassische Unternehmensgeschichte, andererseits als politische Geschichte erzählt. In den 1920er- und frühen 1930er-Jahren erfüllte sie Aufgaben in der geheimen Wiederaufrüstung. Als die Lufthansa 1926 entstand, war klar, dass sich der größte Teil ihrer Erträge aus Subventionen speisen würde. Und es war auch klar, dass dies auf unabsehbare Zeit so bleiben würde. Begründet wurden die Subventionen in erster Linie mit dem im Versailler Friedensvertrag verfügten Verzicht auf Luftstreitkräfte. In den Subventionen für die Lufthansa bündelten sich die Mittel, die in anderen Ländern für die Luftwaffe ausgegeben wurden, vorgeblich, um mit ihrer Nachfrage die deutsche Flugzeugindustrie zu erhalten. Luftverkehr suggerierte, dass Deutschland trotz des verlorenen Weltkriegs das Zentrum technischer und wirtschaftlicher Modernisierung geblieben war, dass die deutsche Geltung in der Welt durch Luftfahrt erneuert würde. Die Luftgeltung war zwar eine kollektive Idee, die sich unsichtbar in die Haltung zum Luftverkehr einprägte, aber hinter ihr standen Akteure, die eigennützig handelten: Institutionen, an erster Stelle die Reichswehr, Reichsministerien und Reichsregierung, Länder wie Preußen, aber auch Kommunen und Unternehmen; zudem unbeirrte ehemalige...