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E-Book

Die Poesie der Naturwissenschaften

Autobiographie

AutorRichard Dawkins
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl800 Seiten
ISBN9783843713153
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Richard Dawkins erzählt die Geschichte seines Lebens - von der Kindheit im kolonialen Afrika über sein Studium in Oxford bis zur Karriere als einer der einflussreichsten Wissenschaftler weltweit. Er berichtet von seiner Ankunft im Flower-Power-Kalifornien der 60er Jahre, von der Party zum 42. Geburtstag seines Freundes Douglas Adams, den freundschaftlichen Streitgesprächen mit dem Erzbischof von Canterbury, von bahnbrechenden Erkenntnissen in der Evolutionsbiologie und seiner großen Liebe zur Lyrik. Richard Dawkins ist nicht nur ein herausragender Naturwissenschaftler, er ist auch ein begnadeter Erzähler. Anhand seines weitverzweigten Familienstammbaums erklärt er die Vererbungslehre, und die Entwicklung der Theorie des egoistischen Gens wird bei ihm zum Wissenschaftsthriller. Wenn er beschreibt, wie er vom Gläubigen zum Atheisten wurde, versteht man, welche Rolle Religion für den Menschen spielt. Großer Erkenntnisgewinn wird

Richard Dawkins, 1941 geboren, ist Evolutionsbiologe. Von 1995 bis 2008 hatte er den Lehrstuhl für Public Understanding of Science an der Universität Oxford inne. Sein Buch Das egoistische Gen gilt als zentrales Werk der Evolutionsbiologie. Seine Streitschrift Der Gotteswahn ist ein Bestseller.

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Leseprobe

1
Gene und Tropenhelme


»Schön, Sie kennenzulernen, Clint.« Der freundliche Beamte an der Passkontrolle war offenbar nicht darüber im Bilde, dass manche Menschen in Großbritannien einen Familiennamen erhalten, und erst dann folgt der Name, den sie nach dem Willen der Eltern benutzen sollen. Ich hieß immer Richard, wie mein Vater immer John war. Unseren ersten Namen Clinton hatten wir so gut wie vergessen, und das war auch die Absicht unserer Eltern gewesen. Für mich war er nie mehr gewesen als eine lästige Belanglosigkeit, auf die ich mit Vergnügen verzichtet hätte (und das trotz der Zufallserkenntnis, dass ich damit die gleichen Initialen hatte wie Charles Robert Darwin). Aber leider hatte niemand mit dem Heimatschutzministerium der Vereinigten Staaten gerechnet. Dort hatte man sich nicht damit zufriedengegeben, unsere Schuhe zu durchleuchten und unsere Zahnpasta zu rationieren, sondern auch die Vorschrift erlassen, dass jeder unter seinem ersten Namen in das Land einreisen musste, und zwar genau so, wie er im Pass steht. Also musste ich meine lebenslange Identität als Richard aufgeben und mich in Clinton R. Dawkins umbenennen, wenn ich in die Vereinigten Staaten reisen wollte – und natürlich auch, wenn ich jene wichtigen Formulare ausfüllte, in denen man ausdrücklich erklärt, man habe nicht die Absicht, nach der Einreise in die USA die Verfassung mit Waffengewalt zu stürzen (»einziger Zweck des Besuchs«, schrieb der britische Radiomoderator Gilbert Harding auf diese Frage; heute würde ihn solcher Leichtsinn teuer zu stehen kommen).

Clinton Richard Dawkins – so lautet also der Name in meiner Geburtsurkunde und meinem Reisepass, und mein Vater hieß Clinton John. Wie es der Zufall will, war er nicht der einzige C. Dawkins, dessen Name in der Times als Vater eines Jungen genannt wurde, der im März 1941 im Eskotene Nursing Home in Nairobi zur Welt gekommen war. Der andere war Reverend Cuthbert Dawkins, ein anglikanischer Missionar und nicht mit uns verwandt. Meine verblüffte Mutter wurde mit Glückwünschen von Bischöfen und Geistlichen aus England überhäuft, die ihr völlig unbekannt waren, aber ihrem gerade geborenen Sohn freundlichst Gottes Segen wünschten. Ob die fehlgeleiteten Segnungen, die eigentlich für Cuthberts Sohn bestimmt waren, auf mich einen positiven Effekt hatten, wissen wir nicht, er wurde jedoch Missionar wie sein Vater und ich wurde Biologe wie meiner. Bis heute sagt meine Mutter im Scherz, ich sei vielleicht der Falsche. Ich selbst dagegen kann voller Freude erklären: Nicht nur die äußerliche Ähnlichkeit mit meinem Vater (siehe die erste Seite des Bildteils) gibt mir die Gewissheit, dass ich kein Wechselbalg bin und nie für die Kirche bestimmt war.

Clinton wurde erstmals zu einem Namen der Familie Dawkins, als mein Urururgroßvater Henry Dawkins (1765–1852) Augusta heiratete, die Tochter des Generals Sir Henry Clinton (1738–1795), der von 1778 bis 1782 Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte war und demnach eine Mitverantwortung dafür trug, dass der amerikanische Unabhängigkeitskrieg verlorenging. Die Umstände der Eheschließung lassen die Tatsache, dass die Familie Dawkins sich diesen Namen zulegte, ein wenig dreist erscheinen. Das folgende Zitat stammt aus einer historischen Darstellung der Great Portland Street, in der General Clinton wohnte.

Im Jahre 1788 brannte seine Tochter in dieser Straße in einer Mietdroschke zusammen mit Mr Dawkins durch, welcher sich der Verfolgung entzog, indem er ein halbes Dutzend andere Mietdroschken an den Ecken der Straße postierte, die zum Portland Place führt. Die Droschken hatten Anweisung, so schnell wie möglich davonzufahren, und zwar jede in eine andere Richtung …1

Am liebsten würde ich behaupten, dieser Schnörkel der Familiengeschichte sei die Anregung für Stephen Leacocks Lord Ronald gewesen, der »sich auf sein Pferd schwang und in alle Richtungen davongaloppierte«. Außerdem stelle ich mir gern vor, ich hätte etwas von Henry Dawkins’ Erfindungsreichtum geerbt, von seinem Feuereifer ganz zu schweigen. Das ist allerdings unwahrscheinlich, stammt doch nur der 32. Teil meines Genoms von ihm. Ein Vierundsechzigstel kommt von General Clinton selbst, und doch ließ ich nie militärische Neigungen erkennen. Tess von den d’Urbervilles und Der Hund von Baskerville sind nicht die einzigen literarischen Werke, in denen erbliche »Rückgriffe« auf entfernte Vorfahren vorkommen, wobei man vergisst, dass sich der Anteil gemeinsamer Gene in jeder Generation halbiert und deshalb exponentiell dahinschwindet – oder dahinschwinden würde, gäbe es nicht die Verwandtenehe, die immer häufiger wird, je weitläufiger das Verwandtschaftsverhältnis ist; letztlich sind wir alle mehr oder weniger weit entfernte Vettern und Basen.

Eine bemerkenswerte Tatsache kann man sich klarmachen, ohne dass man aus dem Sessel aufstehen müsste: Würden wir mit einer Zeitmaschine nur weit genug in die Vergangenheit reisen, so muss jeder, von dem heute überhaupt noch Nachkommen leben, ein Vorfahre aller sein, die heute noch leben. Hat uns die Zeitmaschine weit genug gebracht, so ist jeder, der uns begegnet, entweder ein Vorfahre aller 2015 lebenden Menschen oder niemandes Vorfahre. Mit der bei Mathematikern so beliebten Reductio ad absurdum erkennt man, dass dies für unsere fischförmigen Vorfahren im Devonzeitalter ebenso gelten muss (mein Fisch muss auch dein Fisch sein, denn sonst gelangt man zu der absurden Alternative, dass die Nachkommen deines und meines Fisches über mehr als 300 Millionen Jahre keusch getrennt geblieben sind und sich trotzdem heute noch kreuzen können). Die Frage ist nur, wie weit man sich in die Vergangenheit begeben muss, damit die Argumentation zutrifft. Bis zu unseren Fischvorfahren sicher nicht, aber wie weit? Gehen wir über die genaue Berechnung einmal großzügig hinweg, dann kann ich sagen: Wenn die Queen von William dem Eroberer abstammt, dann gilt das wahrscheinlich auch für jeden anderen (und dass es auf mich – von der einen oder anderen illegitimen Abstammung einmal abgesehen – genauso zutrifft wie für fast jeden mit aufgezeichnetem Stammbaum, weiß ich).

Clinton George Augustus Dawkins (1808–1871), der Sohn von Henry und Augusta, war in der Familie Dawkins einer der wenigen, die tatsächlich den Namen Clinton trugen. Wenn er etwas von der Leidenschaft seines Vaters geerbt hatte, dann hätte er es 1849 fast verloren: Damals wurde Venedig, wo er britischer Konsul war, von den Österreichern beschossen. In meinem Besitz befindet sich eine Kanonenkugel – sie liegt auf einem Sockel, an dem eine Messingplatte mit einer Inschrift befestigt ist. Ich weiß weder, von wem sie stammt, noch, wie wahrheitsgetreu sie ist, aber wozu es auch gut sein mag, hier meine Übersetzung (aus dem Französischen, damals die Sprache der Diplomatie):

Eines Nachts, als er im Bett lag, drang eine Kanonenkugel durch die Bettdecken und ging zwischen seinen Beinen hindurch, fügte ihm aber glücklicherweise nur oberflächliche Verletzungen zu. Zuerst hielt ich dies für eine Lügengeschichte, aber dann erfuhr ich mit Sicherheit, dass sie auf der reinen Wahrheit beruht. Sein Schweizer Kollege begegnete ihm später im Leichenzug für den amerikanischen Konsul, und als er ihn danach fragte, bestätigte er lachend die Tatsachen und erklärte, genau aus diesem Grunde würde er hinken.

Die lebenswichtigen Körperteile meines Vorfahren kamen also mit knapper Not davon, bevor er sie nutzbringend verwenden konnte, und ich bin versucht, meine eigene Existenz auf einen ballistischen Glücksfall zurückzuführen. Ein paar Zentimeter näher an der Gabelung von Shakespeares Rettich, und … Aber in Wirklichkeit hängt meine Existenz und deine und die des Briefträgers an einem noch viel dünneren seidenen Faden. Wir verdanken sie der Tatsache, dass seit Anbeginn des Universums alles zur richtigen Zeit am richtigen Ort geschehen ist. Der Zwischenfall mit der Kanonenkugel ist nur ein besonders dramatisches Beispiel für ein viel allgemeineres Phänomen. Oder, wie ich es früher einmal formuliert habe: Hätte der zweite Dinosaurier links von dem großen Cycadeenbaum nicht zufällig geniest und wäre ihm deshalb nicht der winzige, spitzmausähnliche Vorfahre aller Säugetiere entwischt, keiner vor uns wäre heute hier. Wir können uns selbst als etwas höchst Unwahrscheinliches betrachten. Und doch sind wir – Triumph des Rückblicks – da.

Clinton (später Sir Clinton) Edward Dawkins (1859 –1905), der Sohn von C. G. A. (»Kanonenkugel«) Clinton, war eines der vielen Mitglieder der Familie Dawkins, die das Balliol College in Oxford besuchten. Er war dort gerade zur richtigen Zeit, um in den Balliol Rhymes unsterblich gemacht zu werden, die erstmals 1881 als Bänkellieder unter dem Titel The Masque of Balliol veröffentlicht wurden. Am berühmtesten ist die Strophe, die den Collegevorsteher Benjamin Jowett verherrlicht; gedichtet wurde sie von H. C. Beeching, dem späteren Superintendenten der Kathedrale von Norwich:

First com I, my name is Jowett.

There’s no knowledge but I know it.

I am Master of this College,

What I don’t know isn’t knowledge. |1|

Weniger witzig ist die Strophe über Clinton Edward Dawkins:

Positivists ever talk in s-

Uch an epic style as Dawkins;

God is naught and Man is all,

Spell him with a capital.|2|

Freidenker waren in viktorianischer Zeit eine Seltenheit, meinen Urgroßonkel Clinton hätte ich gern kennengelernt. (Als Kind traf ich tatsächlich noch zwei seiner jüngeren Schwestern; sie waren hochbetagt, und eine von ihnen...

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