Der Tag vor der Geburt meines Sohnes war der erste warme Tag des Frühlings. Schon in den Wehen ging ich bis ans Ende des Piers, wo die Eisschollen auf dem Lake Michigan in der Morgensonne brachen. Mein Mann hatte eine Videokamera dabei und wollte, dass ich einen Toast auf die Zukunft ausbrachte, aber der Ton ging nicht, weswegen das, was ich dann sagte, unwiederbringlich verloren ist. Man sieht meinem Gesicht aber an, dass ich keine Angst hatte. Während der langen Geburt im Anschluss an diesen sonnenbeschienenen Moment stellte ich mir immer wieder vor, wie ich im See schwamm – erst war es ein See aus Finsternis, dann ein See aus Feuer und schließlich ein See ohne Horizont. Als mein Sohn spät am folgenden Tag geboren wurde, fiel ein kalter Regen, und ich hatte ein neues Reich betreten, in dem ich nicht länger angstfrei war.
In jenem Frühjahr breitete sich ein bislang unbekannter Stamm von Grippeviren von Mexiko aus über die Vereinigten Staaten auf den Rest der Welt aus. Die ersten Meldungen dazu entgingen mir, weil ich viel zu beschäftigt damit war, meinem Sohn nachts beim Atmen zuzuhören. Und tagsüber war ich vollkommen davon in Beschlag genommen, ob er trank oder nicht trank und wie viel er schlief bzw. nicht schlief. Die Einträge in meinem damaligen Notizbuch – lange Listen mit Uhrzeiten, manche der Einträge nur wenige Minuten voneinander entfernt –, kann ich schon heute nicht mehr entschlüsseln. Geheimnisvolle Kürzel neben Uhrzeiten stehen, vermute ich, für Wachsein, Schlafen, Trinken und Weinen. Ich war auf der Suche nach einem Muster, ich wollte einfach wissen, warum mein Baby so untröstlich weinte. Es weinte, erfuhr ich sehr viel später, weil es eine Kuhmilch-Intoleranz hatte. Unverträgliche Proteine aus der Milch, die ich zu mir nahm, landeten über meine Milch bei ihm – eine Möglichkeit, die mir so nicht in den Sinn gekommen war.
Im Spätsommer zeigten die Nachrichten Bilder von Menschen mit weißen Atemschutzmasken an Flughäfen. Zu diesem Zeitpunkt war das neuartige Influenzavirus schon ganz offiziell eine Pandemie. Die Kirchen verteilten geweihte Oblaten auf Zahnstochern, und die Fluggesellschaften entfernten Kissen und Decken aus den Flugzeugen. Heute überrascht es mich, wie unbedeutend mir all das damals vorkam. Es wurde einfach ein Teil der Landschaft einer jungen Mutter, in der so alltägliche Gegenstände wie Kissen oder Decken ohne Weiteres in der Lage sind, ein Neugeborenes umzubringen. An den Colleges wurden Tag für Tag alle »berührungsintensiven« Oberflächen sterilisiert, während ich Nacht für Nacht jeden Gegenstand abkochte, den sich mein Kind in den Mund steckte. Es war, als ob sich mir die ganze Nation in meiner Säuglingspflegeparanoia angeschlossen hätte. Wie viele andere Mütter auch hatte ich von einer Krankheit gehört, die Säuglinge befällt, keinerlei Warnzeichen gibt und keine anderen Symptome kennt als eben den plötzlichen Tod. Vielleicht ist das der Grund, warum ich mich trotz allem nicht daran erinnern kann, besondere Angst vor der Grippe gehabt zu haben – sie war einfach nur ein weiterer Grund zur Sorge. An meinen Wänden war Bleifarbe, so viel wusste ich, und in meinem Wasser sechswertiges Chrom, und in den Büchern, die ich las, stand, ich solle einen Ventilator laufen lassen, während mein Baby schlief, denn sogar stehende Luft könne zur Erstickung führen.
[13] Als ich nach Synonymen für das Wort schützen suche, schlägt mir mein Thesaurus nach Schutz bieten, absichern und abschirmen noch eine letzte Möglichkeit vor: schutzimpfen. Und genau diese Frage stellte sich mir, sobald mein Sohn geboren war: Sollte ich ihn impfen lassen, ihn sämtlichen empfohlenen Impfungen unterziehen? Bei dieser Frage ging es für mich damals nicht so sehr darum, ob ich ihn schützen wollte oder nicht, sondern, ob eine Impfung tatsächlich das Risiko wert ist, das man mit ihr eingeht. Würde ich mich nicht auf ein viel zu riskantes Lotteriespiel einlassen, ähnlich wie Thetis, die ihr Baby in den Styx taucht?
Lange bevor es überhaupt den entsprechenden Impfstoff gab, fingen die Mütter in meinem Bekanntenkreis schon an, darüber zu debattieren, ob wir die Kinder gegen das neuartige Grippevirus impfen lassen sollten oder nicht. Es hieß, dieser spezielle Virenstamm sei deswegen gefährlich, weil er beim Menschen neu auftrete, genau wie das Virus, das 1918 die Spanische Grippe ausgelöst hatte, eine Pandemie, der über 50 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Andererseits hörte man aber auch, der Impfstoff sei übereilt hergestellt und möglicherweise noch nicht ausreichend getestet worden.
Eine Mutter erzählte, sie habe eine Fehlgeburt erlitten, nachdem sie eine ganz normale Wintergrippe gehabt habe, weswegen sie sich jetzt aus lauter Vorsicht gegen einfach jede Grippe impfen lassen wolle. Eine andere berichtete, ihre Tochter habe nach der ersten Impfung eine ganze, fürchterliche Nacht durchgeschrien, weswegen sie keine weitere Impfung mehr riskieren würde. Jede Unterhaltung über den neuen Grippeimpfstoff weitete sich zu einer Diskussion über das Impfen im Allgemeinen aus, zu dieser schon so lange geführten Debatte, in der alles, was man über Krankheiten weiß, gegen alles aufgefahren wird, was man über Impfstoffe nicht weiß.
[14] Als sich das Virus ausbreitete, hörte ich von einer Bekannten aus Florida, dass sie und ihre gesamte Familie gerade die Schweinegrippe gehabt hätten, und das sei nicht schlimmer gewesen als eine starke Erkältung. Eine andere Mutter in Chicago erzählte mir, dass der gesunde neunzehnjährige Sohn ihrer Freundin einen Schlaganfall erlitten habe, nachdem er mit der Grippe im Krankenhaus gelandet war. Ich glaubte beide Geschichten, aber beide erzählten mir nichts anderes als das, was mir die Gesundheitsbehörden offenbar sowieso schon zu erzählen versuchten: In manchen Fällen verlief die Grippe harmlos, in anderen schwer. Unter den gegebenen Umständen schien die Impfung zunehmend vernünftig. Mein Baby war erst sechs Monate alt, und ich hatte gerade wieder begonnen zu arbeiten, an einer großen Universität, wo die Mehrheit meiner Studenten spätestens in der letzten Semesterwoche husten würde.
In jenem Herbst schrieb Michael Specter in einem Artikel im New Yorker, dass Grippe zu den zehn häufigsten Todesursachen in unserem Land gehört und sogar relativ schwach verlaufende Erkrankungswellen Millionen von Menschen getötet haben. »Und auch wenn dieses H1N1-Virus neuartig ist«, schrieb er, »lässt sich das so über den Impfstoff nicht sagen. Er ist hergestellt und getestet worden, wie Grippeimpfstoffe schon immer hergestellt und getestet worden sind.« Einigen meiner Bekannten und Mit-Müttern passte der Tonfall dieses Textes gar nicht. Sie fanden ihn aus genau dem Grund unverschämt, aus dem ich ihn beruhigend fand: weil er kein Argument für Skepsis der Impfung gegenüber gelten ließ.
Die Presse sei doch wirklich keine verlässliche Informationsquelle, das war genauso ein wiederkehrender Refrain in den Gesprächen mit anderen Eltern wie: Die Regierung sei unfähig, und die großen Pharmakonzerne stellten absichtlich schlechte Arzneimittel her. Ich konnte all diese Sorgen > nachvollziehen, war aber doch irritiert von der Weltanschauung, die sich darin offenbarte: Man kann einfach niemandem vertrauen.
Es war insgesamt keine gute Saison für das Vertrauen. Die Vereinigten Staaten führten zwei Kriege, von denen außer den Rüstungskonzernen niemand zu profitieren schien. Die Leute verloren ihre Häuser und ihre Jobs, während die Regierung den als »too big to fail« deklarierten Finanzinstituten aus der Patsche half und Banken mit Steuergeldern unterstützte. Es schien nicht komplett unwahrscheinlich, dass unserer Regierung Unternehmensinteressen wichtiger waren als das Wohlergehen der Bürgerinnen und Bürger.
Während der ersten Nachbeben des Crashs war viel die Rede von »der Wiederherstellung öffentlichen Vertrauens«, obwohl auch hier die Betonung meist eher auf der Zurückgewinnung von positivem Konsumklima und Verbrauchervertrauen lag. Der Begriff Verbrauchervertrauen gefiel mir gar nicht, und jedes Mal, wenn ich dazu aufgefordert wurde, mir »als Mutter« zu vertrauen, sträubte sich etwas in mir. Vertrauen, egal ob als Verbraucherin oder sonst wie, hatte ich nicht allzu viel, neigte aber zu der Annahme, dass es sowieso weniger um Selbstvertrauen ging als um einen blinden Glauben an etwas, das das Selbst übersteigt. Sogar heute noch, Jahre nach der Geburt meines Sohnes, interessieren mich die Bedeutungsebenen des Begriffs trust (Erstbedeutung: Vertrauen; Anm. d. Übers.), vor allem die juristischen (Treuhand, Treuhandverhältnis; Anm. d. Übers.) und ökonomischen (Unternehmenszusammenschluss, Konzern, Fonds; Anm. d. Übers.). Ein Vermögenswert, der jemandem, dem er im Grunde gar nicht gehört, zu treuen Händen anvertraut wird, umreißt mehr oder weniger das, was es für mein Verständnis bedeutet, ein Kind zu haben.
Ende Oktober unterhielten sich die Eltern, die immer noch [16] über den Grippeimpfstoff sprachen, hauptsächlich über die Schwierigkeit, ihr Kind überhaupt geimpft zu bekommen. Mein Sohn hatte bei seinem Kinderarzt über einen Monat auf der Warteliste gestanden. Andere...