1 Tag X
Draußen herrschen knackige minus 15 Grad. Die Sonne scheint. Immerhin. Das Jahr 2014 hat den Januar noch nicht einmal hinter sich gelassen, und doch weiß Johanna schon sehr genau, wie sich die kommenden Monate hauptsächlich gestalten werden. Sie wird viel mit Ärzten zu tun haben. Und sehr viel mit sich selbst. Denn Johanna ist wieder krank.
Welche Ironie des Schicksals. Das sind ihre ersten Gedanken, als sie vor einer Woche die neue, extrem doofe Nachricht erhalten hat. Und das sind ihre Worte am Telefon, als sie mir davon berichtet: »Welch bitterböse Ironie.«
Bei Johanna kommt der K. zurück. Genauer gesagt: Es kommt ein neuer K. Denn sie war geheilt. Das, was jetzt in ihr wütet, ist ganz anders als beim ersten Mal. Und es ist schlimmer. Viel, viel schlimmer.
Johanna steht mir sehr nah. Sie und ich, wir sind im wahrsten Sinne des Wortes Hand in Hand durch unser bisher herausforderndstes Lebensjahr 2008 gegangen. Sie war ebenso an dem K-Ding (ich nenne den Krebs nicht gerne beim Namen, immer noch nicht) erkrankt wie ich. Auch sie war jung und eigentlich kein »typischer Fall«. Aber das half uns auch nicht weiter; wir mussten da durch. Und wir gingen da durch. Gemeinsam. Weinend, verzweifelt, wütend, Kraft schöpfend, lachend und zusammen das Erreichen der magischen Fünf-Jahres-Grenze feiernd. Das ist die zeitliche Hürde, die genommen werden will, bevor sich ein K-Patient auch offiziell als geheilt bezeichnen darf. Endlich nicht mehr zur Nachsorge. Ab jetzt heißt es wieder Vorsorge. Wie bei jedem anderen Gesunden auch. Olé, olé.
Aus Schicksalsgefährtinnen wurden Freundinnen. Frauen mit verwandten Seelen und einem ähnlichen Leben. Johanna hat ein Kind – wie ich auch – und einen sonnigen Blick auf das Leben. Sie ist das, was andere vermutlich als »Stehauf-Frauchen« bezeichnen würden. Sie meistert ihren Alltag als Alleinerziehende mit einer bewundernswerten Leichtigkeit. Und dann kommt dieser Tag, der plötzlich wieder alles schwer macht. Schier unerträglich schwer.
Johanna weint am Telefon. So bitterlich, dass ich einmal mehr verfluche, einen Beruf zu haben, der mich so oft in andere Städte bringt. Ich kann nicht bei ihr sein. Dabei scheint sie mich gerade jetzt sehr zu brauchen.
»Ich habe Angst. Eine richtige Scheiß-Drecks-Angst.«
»Nun warte doch erst mal das Ergebnis der Gewebeprobe ab.« Ich spreche die Worte aus und ärgere mich sofort darüber. Weiß ich doch nur zu genau, dass ein solcher Satz zwar gut gemeint ist, aber wenig hilft. Zumindest nicht, wenn einen der Teufel Angst gerade fest im Griff hat. Und er hat Johanna in beiden Händen und droht, sie zu zerquetschen. Johanna nimmt mir meinen missglückten Versuch, ihr Mut zuzusprechen, dankenswerterweise nicht übel. Ach, die Tapfere.
»Gut wird es nicht mehr, Miri. Es kommt nur darauf an, wie schlecht genau das Schlechte werden wird.«
»Was macht dich da so sicher?«
Johanna schluchzt. »Aaach … ich hab die Gesichter gesehen. Ich kenne diesen Blick. DU kennst diesen Blick. Wärst du dabei gewesen, du wüsstest, was ich meine. Diese Mischung aus Keine-Panik-schüren-Wollen, aber auch nicht zu viel Hoffnung machen. Eigentlich wissen ja alle schon, dass der Knoten wieder bösartig ist. Hoffentlich wenigstens dieses Mal ein kleiner Böser.« Die letzten Worte flüstert sie.
Ich kann nur betroffen nicken und räuspere mich. »Ich komme mit zum nächsten Termin. Soll ich?«
»Kannst du das, Miri? Kriegst du das irgendwie hin?«
»Natürlich. Wenn alles gut ist, dann trage ich dich danach Halleluja rufend und singend durch die Straßen … und wenn nicht … dann … dann auch. Und das Halleluja schreie ich noch etwas lauter. Damit wir da oben von dem Monsieur in den Wolken auch gehört werden.«
Johanna lacht. Kurz nur, aber sie lacht.
»Übermorgen um 11 im Brustzentrum der Klinik. O.k.?«
»Natürlich, Jo. Ich hole dich ab.«
Zwei Tage später stehen wir vor der Tür, die wir beide nur allzu gut kennen. Ich merke, wie mich die Situation beklommen macht. Doch ich versuche, dieses Gefühl wegzuschieben. Es geht nicht um mich. Es geht um Johanna.
Wir setzen uns ins Wartezimmer. Wie schrecklich lang eine sehr kurze Zeit sein kann, wenn einem die Frage nach »Leben oder todbringende Krankheit?« den Atem raubt. Ich erinnere mich nur zu gut. Ich leide mit. Auch wenn das nicht zählt. Nicht zählen soll. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit (vermutlich waren es kaum mehr als fünf Minuten), öffnet sich die Tür zum Besprechungszimmer.
Unser Lieblingsarzt aus dem Jahr 2008 huscht an uns vorbei: »Ich bin sofort wieder da.« Ein schlechtes Zeichen, denke ich. Kein »Es ist alles gut, Details besprechen wir gleich« aus Dr. Joachims Mund. Verdammt. Egal, nicht verzagen. Ich drücke Johannas Hand. Augenblicke später ist er wieder da. Immerhin. Er bittet uns herein. Wir begrüßen uns. Er lächelt aufmunternd. Ein gutes Zeichen. Etwas in mir frohlockt.
Während sich Johanna etwas umständlich aus ihrer dicken Jacke schält und ich versuche, ihr dabei zu helfen, bemerke ich aus dem Augenwinkel, wie der Doktor Unterlagen auf seinem Schreibtisch hin- und herschiebt und beiläufig Visitenkärtchen in die Hand nimmt. Scheiße, schießt es mir durch den Kopf. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Es ist also doch Krebs. Mit Sicherheit stehen auf den Kärtchen die Namen von Spezialisten, an die er Johanna weiterverweisen wird.
Ich nehme Johanna die Jacke ab. Sie hat das mit den Visitenkarten zum Glück nicht mitbekommen, sie starrt nur ängstlich auf den Boden. Als wir uns an den kleinen Tisch gesetzt haben, sieht Dr. Joachim Johanna mit mildem Blick an.
»Frau Orly, die Gewebeprobe hat bedauerlicherweise ein eindeutiges Ergebnis geliefert. Die Zellveränderungen sind nicht gutartig.«
Wumms. Stille. Johanna starrt Dr. Joachim an. Er legt seine Hand auf ihre. Ich blicke geschockt zwischen beiden hin und her. Irgendetwas in mir hatte gehofft, dass Johanna grandios unrecht haben würde. Dass ihr Gefühl und ihre Vermutung falsch gewesen wären. Dass es eben doch nur ein harmloser Knubbel in der Brust wäre, auch wenn alles auf das K-Ding hindeutete. Ein Knubbel, den man einfach rausschneidet und fertig ist das gesunde Johanna-Mädchen. Irgendetwas in mir hatte sich bis zu diesem Moment geweigert, überhaupt nur in Betracht zu ziehen, dass der vermaledeite Herr K. zurückgekommen sein könnte.
Als Johanna Tränen aus den Augen schießen, merke ich: Irgendetwas in ihr hatte genauso gefühlt, gehofft wie ich. Trotz aller gegenteiliger Anzeichen. »Nicht schon wieder. Nein. Bitte. Nicht schon wieder«, flüstert sie.
Jetzt bin ich gefragt. Das spüre ich. Ich küsse Johanna aufs Haar und wende mich dem Arzt zu. »Was heißt das denn genau? Wenn ich richtig informiert bin, ist der Knoten noch verhältnismäßig klein. Soll heißen: Sie operieren, eventuell medikamentöse Therapien danach, und dann hat sie eine gute Chance auf erneute Heilung, richtig?«
Dr. Joachim zögert. »Nun … ja und nein. Der Knoten ist klein, operabel, das ja. Aber die rötlichen Stellen auf der Brusthaut … Wir haben eine Gewebeprobe entnommen und festgestellt, dass diese Hautveränderungen auch nicht gutartig sind. Und die lassen sich nicht so leicht mit dem Skalpell entfernen. Nicht … ohne massive ästhetische Einbußen.«
Mir ist sofort klar, was er meint, auch wenn er sich nicht deutlich ausgedrückt hat. Nämlich dass man Johanna die Brust ganz abschneiden muss, um dem K-Ding den Garaus zu machen. Ganz abschneiden. Also nicht nur innen alles raus und ein Silikonkissen rein. Sondern alles weg. Mit hässlicher Narbe. Und hässlichem Selbstwertgefühl – für den Rest des Lebens. Mir wird kalt.
Johanna ist noch nicht einmal Mitte dreißig. Ich ahne, dass mir die Moral und der Kämpfergeist meiner sonst so starken Freundin unter den Händen wegflutschen wird, wenn sie realisiert, dass nur die radikale Amputation eine lebensrettende Lösung ist. Ich sehe sie an. Und verkneife mir ein »Alles o.k.?«. Noch scheinen die Worte des Arztes nicht wirklich zu ihr vorgedrungen zu sein.
Mein Hirn rattert, mein Kopf ist heiß, und ich höre mich sagen: »Verstehe, Dr. Joachim. Aber könnte man nicht auch bestrahlen? Oder es mit einer Chemotherapie gegen die Hautauffälligkeiten versuchen?«
»Versuchen könnte man das, aber …«
Ich unterbreche ihn, weil ich nichts ungefragt lassen will: »Im schlimmsten Fall, was ist mit einem Wiederaufbau der Brust? Gibt es da Möglichkeiten?«
Jo blickt mich verängstigt an. Unfähig, etwas zu sagen.
Dr. Joachim wirkt fast erleichtert ob meiner Nachfrage. Beim Stichwort »Wiederaufbau« verändert sich seine Körperhaltung. Er wirkt wieder stärker. Absurd und großartig zugleich, dass auch erfahrene Ärzte – also im Verkünden schlechter Nachrichten erfahrene Ärzte – noch so offensichtlich Mitgefühl hegen. Ich lächele ihn vorsichtig an.
»Ja. Das geht in der Tat. Und das sieht wirklich sehr gut aus heutzutage. Aber darüber müssen wir jetzt noch nicht sprechen. Frau Orly?«
Johanna hebt den Kopf. Ihr Gesicht ist rot und nassgeweint. Die Augen sind müde, der Blick ist auf eine Art erschreckend leer. Meine kleine, großherzige Freundin. Ihre Stimme ist leise und ein wenig rau. »Ja? Was muss ich tun?«
»Vor allem nicht verzweifeln, Frau Orly. Wir müssen jetzt einfach nur ausschließen, dass sich sonst noch etwas in Ihrem Körper befindet …«
Johanna schreckt auf: »Sonst...