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E-Book

Ethik

Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod

AutorWolfgang Huber
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783406693557
FormatPDF/ePUB
KopierschutzDRM/Wasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Der renommierte Theologe Wolfgang Huber behandelt zwanzig ethische Grundfragen, mit denen wir in einer pluralistischen, durch Technik, Migration und Globalisierung bestimmten Welt konfrontiert sind: von der Zeugung und Geburt eines Menschen über Partnerschaft und Familie, Medien und Arbeit bis hin zum Altern und zum Tod. Ein wunderbar klar geschriebenes Vademecum der Ethik, das uns die wirklich wichtigen Fragen unseres Lebens bewusst macht.

Wolfgang Huber, Professor für Theologie in Berlin, Heidelberg und Stellenbosch (Südafrika), war u.a. Vorsitzender des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland und Mitglied des Deutschen Ethikrats. Wolfgang Huber ist zusammen mit Hans-Richard Reuter und Torsten Meireis Herausgeber des Handbuchs der Evangelischen Ethik (2015).

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Leseprobe

2. Zusammenleben


Hat die Familie Zukunft?


Der Fotograf Thomas Struth hat einen wichtigen Teil seines künstlerischen Schaffens dem Thema «Familienleben» gewidmet. In verschiedenen Ländern fotografierte er Familien, mit denen er aus beruflichen oder privaten Gründen vertraut war. Seine Bilder sollen nicht das ganze Panorama möglicher Familienkonstellationen wiedergeben, aber sie lassen die Vielfalt erkennen, in der Familie gelebt wird – und sie machen die Intensität persönlicher Beziehungen anschaulich, die sich in Familien entfaltet. Thomas Struth erklärt seine anhaltende Beschäftigung mit diesem Thema aus dem Wunsch, «mich selbst zu analysieren und zu verstehen, meine eigene Familie, den Platz der Familie innerhalb meiner westlichen Kultur». Entscheidend ist für ihn, darüber nachzudenken, «warum wir sind, wer wir sind» (Struth 2010: 194).

Der Mensch – ein Beziehungswesen


Die intuitive Konzentration des Künstlers auf die Familie weist auf den elementaren Sachverhalt hin, dass der Mensch ein Beziehungswesen ist. Sein Leben vollzieht sich in der Beziehung zu sich selbst, zu anderen Menschen, zu der Welt, in der er lebt, und – soweit er sich als ein selbsttranszendentes Wesen begreift – zu Gott. Den Kern dieser Beziehungsnatur des Menschen hat Martin Walser in folgende Worte gefasst: «Das wichtigste Menschenverhältnis ist die Liebe, und die ist abhängig vom Glauben. Dass man geliebt wird, muss man glauben.» (Mangold 2011)

Im Verständnis des Menschen als Beziehungswesen klingt somit ein grundlegendes religiöses Motiv an. Die biblischen Schöpfungserzählungen kennzeichnen den Menschen als das Gott entsprechende Wesen: Er wird von Gott als sein Ebenbild angesprochen und kann ihm antworten (1. Mose 1,26). Zugleich wird das Miteinander von Mann und Frau als menschliche Grundsituation beschrieben, denn der Mensch ist nicht dazu geschaffen, allein zu sein. Mann und Frau werden füreinander als Gegenüber und wechselseitige Hilfe geschaffen (1. Mose 2,18ff.). Diese gleichberechtigte Zusammengehörigkeit wird in der biblischen Schöpfungserzählung, wie in vielen Texten aus patriarchalisch geprägten Kulturen, mit Motiven verknüpft, die eine Dominanz des Mannes voraussetzen; sie gewinnt aber an Klarheit, wenn man ihre Intention mit der Überzeugung verbindet, dass Menschen einander gleichberechtigt zugeordnet sind und sich wechselseitig beistehen können.

Was ist «Familie» heute?


Familienbilder zeigen eine Grundsituation des menschlichen Lebens. So einleuchtend dieser Eindruck auch zu sein scheint, hat er doch seine Selbstverständlichkeit weithin verloren. Das hat vor allem drei Gründe:

1. Das relationale Bild vom Menschen konkurriert schon historisch und erst recht in unserer Gegenwart mit einem Menschenbild, das von der isolierten Einzelperson ausgeht. Das im 4. Jahrhundert v. Chr. von dem griechischen Philosophen Aristoteles formulierte Verständnis des Menschen als Gemeinschaftswesen (als «Lebewesen in der Polisgemeinschaft», griechisch zoon politikon) wird in der abendländischen Entwicklung überboten von der Auffassung vom Menschen als Vernunftwesen (als «Vernunft besitzendem Lebewesen», griechisch zoon logon echon). Bei Aristoteles ergänzen sich diese beiden Sichtweisen, doch in der Entwicklung des europäischen Menschenbildes treten sie immer stärker auseinander. Der Konflikt zwischen einer relationalen und einer auf die Einzelperson gerichteten Anthropologie setzt sich bis in die Gegenwart fort. Dabei waren die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts durch die Vorherrschaft eines individualistischen Menschenbildes geprägt; deshalb galt es zumindest in der westlichen Welt eher als befremdlich, von den Beziehungen auszugehen, in denen Menschen leben.

2. Tiefgreifende Veränderungen in der Gestaltung sexueller Beziehungen und in der sozialen Funktion der Familie haben Zweifel an der grundlegenden Bedeutung von Ehe und Familie geweckt. Die neuen Möglichkeiten von Geburtenkontrolle und Familienplanung führten zu einer sexuellen Revolution; die auf Dauer angelegte Ehe zwischen Mann und Frau verlor ihre bestimmende Bedeutung. Die Formen des Zusammenlebens wurden vielgestaltiger. Ehen werden häufiger geschieden; nichteheliche Lebensgemeinschaften treten neben sie; es entwickeln sich Patchwork-Familien. Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften wurden anerkannt. Die Zahl der Geburten ging in den entwickelten Ländern zurück; für Deutschland gilt das in besonders starkem Maß. Der wachsende Umfang der weiblichen Berufstätigkeit beeinflusst die Rollenmuster von Frauen und Männern sowie ihre Aufgabenverteilung in der Familie. Mediale Darstellungen schwanken zwischen einer Romantisierung der Liebe – auch in der Darstellung prominenter Hochzeitspaare – und der selbstverständlichen Hinnahme häufiger Trennungen; sie setzen damit die Ehe mit einer Partnerschaft auf Zeit gleich und lassen die Familie oft wie eine Zweckgemeinschaft erscheinen. Wer von der Familie her zu verstehen versucht, wer wir sind und warum wir sind, wer wir sind, scheint einem rückständigen Menschenbild anzuhängen.

3. Schließlich verengte sich der Familienbegriff. In der soziologischen und der politischen Debatte geht es vor allem um die Kernfamilie, in der Eltern mit ihren nicht volljährigen Kindern zusammenleben und für sie Verantwortung übernehmen. Weitere Verwandte werden am ehesten dann der Familie zugerechnet, wenn sie mit Eltern und Kindern zusammen einen gemeinsamen Haushalt bilden. Wenn man Familie nur dort sieht, wo Kinder leben, trägt das auf der einen Seite der Vielfalt der Familienformen Rechnung: Nichteheliche Lebensgemeinschaften oder alleinerziehende Mütter (und auch Väter) mit ihren Kindern sind in dieses Familienverständnis einbezogen. Das Verhältnis zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern oder die Verantwortung für alt gewordene oder pflegebedürftige Angehörige tritt demgegenüber in den Hintergrund. Wenn man von einem derart verengten Familienbegriff ausgeht, lässt sich nicht sagen, dass sich an der Zugehörigkeit zu einer Familie wesentliche Aspekte des Menschseins erkennen lassen. Denn für diejenigen, die nie für das Heranwachsen von Kindern verantwortlich waren, trifft es nicht zu.

Jeder hat Familie


Doch zu den Gesichtspunkten, unter denen die Familie problematisiert wird, lassen sich auch Gegenargumente geltend machen. Ich gehe deshalb die gerade erörterten Themen noch ein zweites Mal durch.

1. Jeder Mensch ist ein Individuum, eine unteilbare Einheit; doch jeder Mensch lebt zugleich in Beziehungen und ist auf sie angewiesen. Eine individuelle Person zu sein bedeutet gerade nicht, eine isolierte Person zu sein. Gewiss ist das Individuum dadurch bestimmt, dass es zu sich selbst in Beziehung treten kann, aber für niemanden ist dies die einzige konstitutive Beziehung seines Lebens. Individualität und Sozialität des Menschen lassen sich nicht gegeneinander ausspielen. Eine einseitige Orientierung am Individuum und seinen Entfaltungsmöglichkeiten kann sich leicht mit einer biologistischen Vorstellung von der Durchsetzung des Stärkeren verbinden; sie mündet unversehens in ein Menschenbild, das ganz vorrangig von der Selbstbezogenheit des Individuums geprägt ist. Eine Orientierung am Vorrang der Gemeinschaft aber ist in hohem Maß dafür anfällig, Eingriffe in die Freiheit und in die aus ihr abgeleiteten Freiheitsrechte des Einzelnen mit den vermeintlichen Interessen der Gemeinschaft zu legitimieren. Will man diese beiden Einseitigkeiten vermeiden, so muss man auf der einen Seite den Gemeinschaftsbezug des menschlichen Lebens so verstehen, dass er die unantastbare Würde des Einzelnen und die sich aus ihr ergebenden Rechte nicht relativiert; auf der anderen Seite darf die Anerkennung der menschlichen Individualität die menschliche Person nicht zu einem isolierten, ausschließlich auf sich selbst bezogenen Individuum verkürzen.

2. Es ist nicht zu leugnen, dass der Begriff der Familie häufig mit einem konservativen Bild von Mensch und Gesellschaft verbunden wurde. An das Leitbild der Familie knüpften sich über lange Zeit Rollenzuweisungen: der nach außen tätige und nach innen bestimmende Mann, die im Innern wirkende, zum Dienen bereite Frau und die auf Fürsorge angewiesenen und zum Gehorsam verpflichteten Kinder. Doch die Familie hat sich im Lauf der Geschichte als außerordentlich wandlungsfähig erwiesen. Ursprünglich war sie vor allem eine Wirtschaftsgemeinschaft; schon Aristoteles entwickelt eine Ökonomie des «Hauses» (oikos, oikia), in dem er die wichtigste wirtschaftliche Grundlage der polis sieht. Auch im Mittelalter gehören zur bäuerlichen Familie die Knechte und Mägde ebenso selbstverständlich wie die Lehrlinge und Gesellen zur Handwerkerfamilie. Zu einer wichtigen Aufwertung der intimen Liebesbeziehung innerhalb dieses Hauswesens kommt es mit der Reformation. Während die Kirche vorher eine Überordnung der ehelosen Lebensformen über Ehe und Familie vertrat, genießt der «geistliche» Stand nun keinen Vorrang mehr vor dem «weltlichen». Das evangelische Pfarrhaus fördert die neue Hochschätzung der Familie auf seine Weise, es stabilisiert freilich zugleich eine patriarchalische...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel3
Impressum4
Inhalt5
1. Einleitung: Worum geht es in der Ethik?9
Warum ist Ethik so umstritten?9
Was bedeutet persönliche Freiheit?11
Freiheit und Gerechtigkeit12
Die Freiheit und ihre Grenzen13
Religion und Ethik15
Was ist richtiges, was gutes Handeln?17
Das Beispiel Sexualethik20
Grundfragen des Lebens als Grundfragen der Ethik22
2. Zusammenleben: Hat die Familie Zukunft?23
Der Mensch – ein Beziehungswesen23
Was ist «Familie» heute?24
Jeder hat Familie26
Die ethische Bedeutung der Familie28
Familienpolitische Aufgaben32
3. Menschliche Würde: Gibt es eine «Schwangerschaft auf Probe»?39
Schwangerschaftskonflikte39
Die Vergegenständlichung des Embryos40
Der moralische Status des Embryos42
Entwicklung als Mensch oder zum Menschen?43
Die verantwortungsethische Betrachtung des Embryos46
Verantwortung in Schwangerschaftskonflikten48
4. Behinderung: Wollen wir den perfekten Menschen?53
Keine Kinder mehr mit Trisomie 21?53
Leid vermindern – Perfektion anstreben?55
Spannungsvolles Menschenbild56
Die Unterscheidung zwischen Gott und Mensch57
Chancen und Herausforderungen der Lebenswissenschaften59
Jeder Mensch hat seine eigene Würde60
5. Grundbedürfnisse: Gehört das Essen nicht zur Moral?63
Was sind Grundbedürfnisse?63
Grundbedürfnisse und Moral64
Erst das Fressen, dann die Moral?66
Die Bitte um das tägliche Brot68
Wasser ist Leben69
Fleischkonsum und Tierhaltung71
Vergeudung von Lebensmitteln72
Probleme der Welternährung73
6. Armut: Wie lässt sich Ungerechtigkeit abbauen?76
Absolute und relative Armut77
Was ist Gerechtigkeit?78
Soziale Gerechtigkeit81
Bildungsförderung: Potenziale oder Talente?84
Bildung für alle!87
7. Kultur: Gibt es auch kulturelle Grundnahrungsmittel?89
Was ist Kultur?90
Die ethische Bedeutung der Kultur94
Die zentrale Stellung der Sprache95
Spiel als Kulturphänomen96
Sport: Kult oder Kultur?96
Kunst selbst machen100
8. Gewissen: Lässt sich Gewissensfreiheit lernen – und schützen?103
Gewissensfreiheit als Menschenrecht104
Was ist mit dem Gewissen gemeint?106
Elemente des Gewissens: Urteilsfähigkeit und Verbindlichkeit109
Wie entsteht Gewissen?110
Wie weit reicht die Gewissensfreiheit?113
9. Verantwortung: Wie wird man ein Weltbürger?117
Aufwachsen in einer vernetzten Welt117
Was heißt Verantwortung?118
Die Menschenrechte als Orientierungsrahmen121
Die Haltung des Weltbürgertums124
Verantwortung lernen127
10. Informationszeitalter: Beherrschen uns die Medien?129
Medienethik als Professionsethik130
Medienethik als Mediennutzungsethik133
Medienethik als Institutionsethik137
11. Arbeit: Leben wir, um zu arbeiten?140
Youth at Risk140
Vom Normalarbeitsverhältnis zur Pluralisierung der Arbeitsformen141
Erwerbsarbeit ist nicht alles143
Stationen der Arbeitsethik144
Die Geschichte des Wortes «Beruf»146
Erfolgreiche Arbeit als Zeichen der Erwählung durch Gott148
Neues Arbeitsethos und Beteiligungsgerechtigkeit149
12. Profit: Was ist der Zweck der Wirtschaft?153
Ein wirtschaftsethischer Neuansatz154
Der Zweck der Wirtschaft156
Ebenen der Verantwortung158
Eine Wertordnung wirtschaftlichen Handelns160
Wirtschaftsethische Klärungsprozesse165
Ethische Maßstäbe und die Dynamik des Finanzkapitalismus166
13. Wissenschaft: Dürfen wir alles, was wir können?169
Folgenabschätzung und Würdeschutz170
Forschung und Freiheit172
Am Resultat orientierte Forschung174
Wissenschaft als Wahrheitssuche176
Wissenschaft im Dienst des Lebens177
Wissenschaft und die Verführbarkeit des Menschen179
Sich im Leben orientieren181
14. Medizin: Gibt es ein Menschenrecht auf Gesundheit?182
Neue Herausforderungen der Medizinethik184
Knappe Ressourcen im Gesundheitswesen185
Hauptsache gesund187
Medizinischer Fortschritt und personalisierte Medizin190
Gerechtigkeit im Gesundheitswesen191
Noch einmal: Organtransplantation197
15. Politik: Lassen sich Macht und Moral verbinden?200
Die Pflicht zur Wahrheit als ethisches Thema200
Ist Moral Privatsache?203
Wiederkehr der Tugenden204
Politische Ethik als Professionsethik207
Politische Ethik als Institutionsethik210
16. Toleranz: Wie viel Verschiedenheit halten wir aus?214
Die Beschneidung als Toleranztest214
Toleranz, Achtung, Anerkennung216
Neue Religionskonflikte219
Toleranz aus Überzeugung220
Persönliche, gesellschaftliche, politische Toleranz224
17. Krieg und Frieden: Wie weit reicht unsere Verantwortung?228
Das Konzept des gerechten Krieges229
Die Vorstellung des gerechten Friedens231
Gewalt im Dienst des Rechts234
Neue Kriege und Schutzverantwortung236
18. Generationengerechtigkeit: Was hinterlassen wir unseren Nachkommen?241
Wie weit reicht die Inklusion?242
Bewahrung der Schöpfung?243
Gegenwartsschrumpfung und Nachhaltigkeit245
Ist unser Wohlstand zukunftsverträglich?249
Das Vorsichtsprinzip251
Energieproduktion und Energiekonsum als ethische Herausforderung256
19. Alter: Was heißt «Vater und Mutter ehren»?260
Das vierte Gebot heute261
Leben mit dem «Methusalem-Komplott»265
Die Kreativität des Alters267
Demenz als Grenzerfahrung269
20. Sterben: Wann ist es Zeit für den Tod?271
Sterben und Tod272
Sterben und Selbstbestimmung274
Heilen und Helfen275
Sind Leben und Tod gleichwertig?276
Begleitung und Beistand im Sterben278
Nachwort283
Ethik im 21. Jahrhundert283
Integrative Ethik286
Jekyll and Hyde289
Dank292
Anhang294
Literaturhinweise294
Personenregister313
Sachregister316

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