Vorwort
Der Irak, das Land zwischen den Strömen Euphrat und Tigris, war im 20. Jahrhundert für viele Jahrzehnte zumeist Zaungast der Geschichte. In der Regel wussten nur Spezialisten mit den verwirrenden Namen und Geschehnissen in diesem Land etwas anzufangen. Die einzigen größeren Gruppen, die sich dem Irak mit dauerhaftem Interesse zuwandten, waren Polit- und Militärstrategen des Kalten Krieges und Geschäftsleute. Selbst als Saddam Hussein kurz nach seiner Machtübernahme 1979 einen achtjährigen blutigen Krieg gegen das Nachbarland Iran begann, schaute die Welt meist weg. Erst als sich der irakische Diktator 1990 anschickte, mit seiner Annexion Kuwaits die politische Landkarte und die ökonomischen Besitzverhältnisse in der für die Weltwirtschaft lebenswichtigen Golfregion zu verändern, geriet er und mit ihm der Irak in die Schlagzeilen der internationalen Medien. 1990/91 sorgten die USA für die umfangreichste logistische Operation seit dem Koreakrieg, stellten sich an die Spitze einer nie zuvor dagewesenen Staatenkoalition und propagierten den Beginn einer «Neuen Weltordnung». Damit erhielt der Zweite Golfkrieg, die internationale Befreiungsaktion Kuwaits, eine wichtige Symbolfunktion: Er manifestierte – historisch eher zufällig – den endgültigen Ausbruch aus dem Prokrustesbett des bipolaren Weltsystems und das Ende des Ost-West-Konflikts.
Kaum waren die letzten Schüsse der Operation «Wüstensturm» verhallt und der Emir von Kuwait erneut auf den Thron gehievt, ließ auch das Interesse am Irak wieder abrupt nach. Darstellungen und Analysen der Diktatur Saddam Husseins und des Leidens des irakischen Volkes durch das internationale Sanktionsregime fanden sich in der Fachliteratur und einschlägigen Bulletins, kaum aber in den Massenmedien – und wenn doch, dann zum spätesten Sendetermin beziehungsweise auf den hinteren Seiten. Zehn Jahre dieser «Funkstille» wurden nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 gegen das World Trade Center und das Pentagon jäh unterbrochen. Teile der US-Administration verdächtigten den Irak, in die Anschläge verwickelt zu sein. Obwohl eine überzeugende Beweisführung ausblieb, nahm Präsident George W. Bush den Irak am 29. Januar 2002 in sein Konstrukt einer «Achse des Bösen» auf und erklärte das Land damit zum legitimen Ziel im Krieg gegen den Terror. Danach wurde die Forderung nach einem «Regimewechsel» in Bagdad ein Mantra seiner Reden.
Nur mühsam konnte Bush im Sommer 2002 überzeugt werden, die Lösung der Krise zunächst im Rahmen der UNO zu suchen. Er machte in seiner Rede vor der Vollversammlung am 12. September aber klar, dass er amerikanische Interessen gegenüber dem Irak notfalls auch ohne UNO-Mandat durchsetzen würde. Damit drohte er einen gefährlichen Präzedenzfall an, weil sich so ausgerechnet eine Supermacht über grundlegendes kodifiziertes Völkerrecht hinwegsetzen und Nachahmer einladen würde. Die Einstimmigkeit, mit der der UNO-Sicherheitsrat seine Resolution Nr. 1441 am 8. November 2002 annahm, täuschte über den grundlegenden internationalen Dissens hinweg. Die Resolution forderte Saddam Hussein im Kern auf, frühere Verpflichtungen gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft umgehend zu erfüllen, insbesondere sein Programm von Massenvernichtungswaffen offenzulegen und diese Waffen unter internationaler Kontrolle zu vernichten. Obwohl die Waffeninspekteure unter Führung von Hans Blix und Mohammad el-Baradei am 27. November mit ihren Kontrollen im Irak begannen, konnten ihre Zwischenberichte bis Anfang März 2003 die vorgefassten Meinungen im Sicherheitsrat nicht ändern.
Die USA und Großbritannien zeigten sich außerstande, ihr substantielles Misstrauen gegenüber Saddam Hussein abzulegen, und bewerteten seine Kooperation mit der UNO und ihren Waffeninspekteuren als «Spiel auf Zeit» und nicht als strategische Kehrtwende. Die Abrüstung Iraks und – kaum verhüllt – der Sturz Saddam Husseins müssten daher mit militärischen Mitteln erzwungen werden. Vor allem für Washington galt ein Feldzug gegen den Irak durchaus als logische Fortsetzung des gegen das Taliban-Regime in Afghanistan begonnenen Krieges gegen den Terror. Zu diesem Zweck stationierten die USA bis Anfang März 2003 ein gewaltiges Militärarsenal und knapp 250.000 Soldaten an den Grenzen des Irak, wobei sie von 45.000 britischen Soldaten unterstützt wurden. Nachdem Saddam Hussein ein Ultimatum von US-Präsident George W. Bush vom 18. März, den Irak binnen 48 Stunden zu verlassen, hatte verstreichen lassen, fielen am 20. März die ersten Marschflugkörper auf Bagdad, um den Regimewechsel zu erzwingen. Der Dritte Golfkrieg hatte begonnen.
Das überlegene Kräfteverhältnis der von den USA geführten «Koalition der Willigen» gegenüber den irakischen Gegnern führte rasch zu Ergebnissen. Saddam Hussein wurde gestürzt und das Baʿthregime hinweggefegt. Die eigentliche Überraschung für die Weltöffentlichkeit ergab sich erst aus den Versuchen der USA und ihrer Verbündeten, den Irak unter neuen Vorzeichen wiederaufzubauen. Der schnelle militärische Sieg über Saddam Hussein hatte die US-Regierung in ihrem – durch positive Erfahrungen bei ähnlichen Fällen in Grenada und Panama untermauerten – Plan bestärkt, die Macht unverzüglich an namhafte irakische Exilpolitiker zu übertragen. Die tief gespaltene, weitgehend entwurzelte Exilopposition zeigte sich aber außerstande, den Plan umzusetzen: Chaos und Anarchie griffen um sich, die USA liefen Gefahr, den militärischen Sieg umgehend auf politischem Terrain zu verspielen. In Gestalt der «Coalition Provisional Authority» (CPA) übernahmen sie die Direktherrschaft über den Irak. Jetzt zeigte sich auf eklatante Weise das Fehlen eines fundierten Wiederaufbauplans; die Vorkehrungen waren faktisch nicht über das beschriebene Szenario einer Machtübergabe an pro-amerikanische Exilpolitiker hinausgegangen. In ihrer Not besann sich die CPA auf das Instrumentarium der Briten, der faktischen Herren im Irak zwischen 1920 und 1958, womit sie – wenn auch unfreiwillig – die irakische Wahrnehmung einer erneuten Fremdherrschaft verstärkte.
Die mit Abstand folgenschwerste Parallele zum britischen Vorgehen manifestierte sich in dem Versuch, die Teile-und-herrsche-Politik entlang ethnischer und konfessioneller Trennlinien wiederzubeleben. Als seien Jahrzehnte folgenlos vergangen, besetzte die CPA fortan alle irakischen Regierungs- und Verwaltungsstellen nach einem strikten ethnisch-konfessionellen Proporz. Der unmittelbar intendierte Zweck, das gegeneinander Ausspielen der ethnischen und konfessionellen Gruppen für die eigene Machtsicherung zu nutzen, funktionierte – im Gegensatz zur britischen Mandatszeit – nicht einmal in Ansätzen. Die von den Briten favorisierten arabischen Sunniten (etwa 20 %) hatten das gerade gestürzte Baʿthregime getragen; die arabischen Schiiten waren ob ihrer numerischen Überlegenheit (ca. 60 %) nicht auf US-Unterstützung angewiesen; die Kurden (um 20 %) zeigten sich zwar überwiegend loyal, mit ihnen allein war aber kein irakischer Nationalstaat wiederzubeleben.
Die politische Landschaft des Irak entwickelte sich nun zu einem ethnisch und konfessionell geprägten Flickenteppich, auf dem Konflikte zunehmend gewaltsam ausgetragen wurden und das Gemeinsame, das Nationale, weitgehend in den Hintergrund rückte. Auch nachdem mit dem Rückzug der US-Truppen aus dem Irak 2011 die Souveränität real wiederhergestellt war, blieb das Land tief gespalten und der Wirkungskreis der Zentralmacht beschränkt. 2014 bedeuteten schließlich die Gebietsgewinne des terroristischen «Islamischen Staats im Irak und in Syrien» (ISIS) im Nordirak eine neue Eskalationsstufe im Konflikt in und um den Irak. Das in seiner Existenz bedrohte Land wurde zum Dauerthema in den Weltmedien.
Hier schließt sich der Kreis zu den einleitenden Sätzen: Während der Irak aus dem dunklen Bühnenhintergrund ins grelle Rampenlicht der Weltpolitik katapultiert wurde, blieben verlässliche Informationen über das Land weiterhin Mangelware.
Das Buch wendet sich deshalb bewusst an die große Zahl interessierter, aber auch besorgter und betroffener Menschen, die über die Tagesaktualität hinaus nach Informationen über das Land «im Auge des Taifuns» suchen. Die «Geschichte des Irak» ist kein akademisches Fachbuch oder nüchternes Nachschlagewerk, das Vollständigkeit zum wichtigsten Qualitätsmerkmal erhebt, sondern ein – wissenschaftlich...