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Inklusion jetzt!

Kompass zur Schul- und Selbstentwicklung in der Grundschule (1. bis 4. Klasse)

AutorWiltrud Thies
Verlagscolix
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl168 Seiten
ISBN9783403703679
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Von der inneren Haltung bis zur konkreten Unterrichtsorganisation: Navigieren Sie Ihr Schulschiff sicher in den Hafen der inklusiven Grundschule.
Leinen los! Das Schiff der inklusiven Schulentwicklung hat mit einer bunten Gruppe Passagiere die Fahrt aufgenommen. Viele sorgen sich - zu Recht! - um die Sicherheit und um die Qualität der Reise: Wie kann inklusiver Unterricht wirklich gelingen? Welche Veränderungen bringt Inklusion für den einzelnen Lehrer und für das gesamte Schulleben mit sich?

Dieser Ratgeber begleitet Sie als Kompass auf Ihrer Reise und bietet Hilfen für eigene und gemeinschaftliche schulische Entwicklungsschritte. Damit Sie den Herausforderungen der Inklusion gestärkt begegnen können!

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Leseprobe

Zusammen arbeiten – von der Vielfalt profitieren (Foto: Sophie-Scholl-Schule Wetterau)

2. Die Grundschule – Eine Schule für alle Kinder


Die Einführung der Grundschule löste ab den 1920er-Jahren die standesorientierte Vorschule ab und erhielt den Auftrag, alle Schichten des Volkes sozial zu integrieren. Zudem erhoffte man sich von einer koedukativen, überkonfessionellen und ganztägigen Organisation (vgl. Riekmann 2015, 9) den Ausgleich unterschiedlicher Lernvoraussetzungen durch gemeinsame Bildung (vgl. Einsiedler 2001, 189). Die ersten Richtlinien – im Jahr 1921 für die vierjährige „Grundschule als gemeinsame Schule für alle Kinder“ erschienen – fordern die Vermittlung einer grundlegenden Bildung, an die „(…) die mittleren und höheren Schulen mit ihrem weiterführenden Unterricht anknüpfen können. Sie muss deshalb alle geistigen und körperlichen Kräfte der Kinder wecken und schulen und die Kinder mit denjenigen Kenntnissen und Fertigkeiten ausrüsten, die als Grundlage für jede Art von weiterführender Bildung unerlässliches Erfordernis ist“ (zit. nach Barnitzky u. a. 2009, 114).

Die große Frage, was denn grundlegende Bildung für alle sein kann, ist schon lange aktuell. Da ist die Rede von der Vermittlung einer Mindestqualifikation, einem Fundamentum, das individuell ergänzt und vertieft werden kann. Neben fachlichen Inhalten soll schon die Grundschule allgemeine gesellschaftliche Schlüsselprobleme thematisieren, die Klafki z. B. in der Umweltfrage, in Arbeit/Arbeitslosigkeit, Migration u. a. erkennt. Um solche Themen bearbeiten zu können, gehören Schlüsselqualifikationen wie Problemlösefähigkeit, Teamfähigkeit und Kreativität zum Vermittlungsauftrag der Grundschule (vgl. Einsiedler 2001, 190 ff.).

Die aktuell verordnete Kompetenzorientierung verdrängt in vielen Schulkollegien derzeit eine Verständigung über fachliche Inhalte und Ziele und hat nicht unbedingt mehr Klarheit in die Grundschulen gebracht.

Die Frage, welche Kompetenzen zur grundlegenden oder auch anschlussfähigen Bildung gehören, ist nach meinem Eindruck für die Praxis weitgehend unbeantwortet. Kompetenzen sollen an vielfältigen, aber nicht verbindlichen Inhalten erworben werden. Dieses Modell verunsichert aber die Lehrkräfte, weil Lernen und Kompetenzentwicklung immer an Inhalten geschieht und fachbezogene Ziele damit auch inhaltliche Ziele sind. Die Auflagen der Schulverwaltung führen einmal mehr dazu, neue Listen, Tabellen und freundliche Bekenntnisse zu schreiben, ohne dass tatsächliche Einsicht und inhaltliches Verstehen zu einer verbesserten Qualität von Unterricht führen.

Grundschulkinder stehen mit ihren Stärken, Schwächen, Talenten und Bedürfnissen immer im Mittelpunkt von Schule und Unterricht. Die pädagogische Arbeit in der Grundschule orientiert sich seit vielen Jahren am einzelnen Kind mit seinen persönlichen Lernvoraussetzungen und -wegen, seinen besonderen Interessen, Vorstellungen und Beziehungen und berücksichtigt dabei auch neue Themen einer veränderten Kindheit (vgl. Heinzel 2004). Brügelmann beschreibt eine dreifache Benachteiligung von Kindern, aus der sich unterschiedliche Lernausgangslagen zu Beginn der Schulzeit ergeben: Sie liegt erstens in den unterschiedlichen Startchancen, also fehlender Förderung vor Beginn der Schulzeit, zweitens in selektionsbezogenen Zuweisungen zur Sekundarstufenschule, die noch immer mit dem sozialen Status der Eltern korrelieren, und drittens in der Lernunterstützung während der Schulzeit (Brügelmann 2005, 128). Die Grundschule führt die elementare Bildung der Kindertageseinrichtungen in schulischer Perspektive weiter. Im Kontrast zur Sekundarschule, die nach klaren Prinzipien selektiert, versucht sie, tradierte Selektionsmaßnahmen durch Integrationsideen zu ersetzen (vgl. Barnitzky u. a. 2009, 127):

Selektionsmaßnahmen in der Grundschule

Integrationsmaßnahmen in der Grundschule

Zurückstellungen nach Schuleingangsdiagnostik

Neugestaltung der Schuleingangsphase

vergleichende Bewertungen

individualisierte Formen der Bewertung

Sitzenbleiben

Jahrgänge 1 und 2 als Einheit

Förderort Sonderschule

gemeinsamer Unterricht

homogene Jahrgangsklassen

heterogene Lerngruppen, z. B. durch Jahrgangsmischung

Es ist nicht einfach, pädagogisch zu arbeiten, wenn das Schulsystem, in dem man sich bewegt, nachweislich ungerecht ist und Benachteiligung aufrecht erhält. Immerhin ist heute unstrittig, dass es die Grundschule immer mit heterogenen Gruppen zu tun hat – und dass der Unterricht dies aufnehmen muss, wenn er nicht an einem Teil der Schülerinnen und Schüler komplett vorbeigehen soll. Das gemeinsame Lernen gilt hier als ein Schlüssel zum Erfolg, weil Kinder nicht nur von Erwachsenen und durch die Schule, sondern wesentlich von und mit anderen Kindern lernen (vgl. Carle 2014, 87, Eller u. a. 2012, 11, Riekmann 2015, 10). Bereits reformpädagogische Schulmodelle haben gezeigt, dass das Entwicklungs- und Bildungsgefälle innerhalb einer Lerngruppe sogar hilfreich beim gemeinsamen Lernen sein kann. Diese Erkenntnis gehört zum pädagogischen Erfahrungsschatz der Arbeit mit heterogenen Gruppen.

Nicht für wirklich alle Kinder …


Schulen für Kinder mit Behinderung entstanden als Hilfsschulen bereits im späten 18. Jahrhundert und entwickelten sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem ausdifferenzierten Sonderschulwesen, in dem behinderte Kinder getrennt von den anderen unterrichtet wurden. Seit den 1970er-Jahren kämpfen Eltern bis heute öffentlich und erfolgreich für eine gemeinsame Beschulung aller Kinder in der Regelschule (vgl. Schöler 2014; als Beispiele für erfolgreiche Elternvereine vgl. z. B. www.igel-of.de).

Während in anderen Ländern1 Förderschulen ganz oder teilweise in das allgemeine Schulwesen transformiert wurden, vollzieht sich dieser Prozess derzeit in Deutschland schleppend. Integration (meist folgt man auch heute noch keiner inklusiven Orientierung) erfolgt ohne klare Steuerung auf einzelne Förderarten bezogen, ohne dass die Regelschule notwendige zusätzliche Ressourcen erhält. Gleichzeitig wird das Förderschulwesen mit dem Verweis auf eine Wahlfreiheit der Eltern erhalten, was die Ressourcen weiter an die Förderschulen bindet (vgl. Preuss-Lausitz 2014b, 53, Monitoringstelle 2015).

Für Förderschullehrkräfte bedeutet das inzwischen allzu häufig keine verlässliche Beschäftigung an einer sich inklusiv entwickelnden Regelschule, sondern die Abordnung an diverse Grundschulen mit jeweils wenigen Stunden. Für Lehrkräfte, die mit dem didaktischen Köfferchen für jeweils wenige Stunden von Grundschule zu Grundschule reisen, entsteht eine sehr unbefriedigende berufliche Situation: Sie können weniger Zeit direkt mit Kindern arbeiten und sollen Regelschullehrer in verschiedenen Systemen vor Ort unterstützen, ohne dafür Zeit für Planungen und Gespräche zu haben. Sie gehören nicht dem Kollegium der Regelschule an und sind daher an Schulentwicklungsprozessen nicht maßgeblich und selten auch gleichberechtigt beteiligt.

Das heutige Förderschulwesen entstand in Deutschland im öffentlichen Erschrecken über die Gräueltaten der Faschisten an behinderten Menschen mit der positiven Absicht, Menschen mit Behinderungen von nun an besonders zu schützen und gut zu fördern (vgl. Liebermeister/Hochhuth 1999). Am geeignetsten schienen solche Fördereinrichtungen, die sich auf einzelne Behinderungsarten und einhergehende Einschränkungen spezialisierten, um jeweils die genau passenden Spezialisten in den Schulen vorhalten zu können. Der deutschen Mentalität entsprechend hat man diese Idee überaus konsequent und gründlich verfolgt und ein extrem differenziertes Förderschulsystem mit acht verschiedenen Schulformen entwickelt, wie man es sonst nirgends findet: Slow learners, die überall in der Welt in Regelschulen lernten und lernen, wurden in Deutschland „Schulen für Lernhilfe“ zugewiesen. Kinder mit geistiger oder schwerer Mehrfachbehinderung besuch(t)en spezielle Schulen, Kinder mit Körper- und Sinnesbehinderungen erhielten je eigene Schulformen. Für Belustigung bis Entrüstung sorgen immer neue Namensfindungen, die das öffentliche Image der Schulen für Behinderte aufpolieren sollen. So spricht man heute von Förder- statt von Sonderschulen und von einem „Förderschwerpunkt Sehen“, obwohl gerade das Sehen nun wirklich nicht das Ziel der Förderung blinder Schülerinnen und Schüler sein kann.

Im Streit um die Inklusion kommt viel Zustimmung gerade aus dem Förderschulbereich, weil Förderschullehrkräfte erkennen und zum Teil im Gemeinsamen Unterricht über viele Jahre der Integration erfahren haben, dass gemeinsames Lernen gelingen kann. Insbesondere Kinder mit Förderbedarf finden Orientierung und Vorbilder oft nicht unter solchen, die ihnen in...

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