Vorwort
Warum bin ich mehr als ein halbes Jahrhundert lang lieber in Gedichte und Musik eingetaucht als in realpolitische Ideen oder Ideologien? Ich habe mir darüber nie Rechenschaft abgelegt. Erst jetzt, im Alter, beschäftigt mich rückblickend diese Frage. Vielleicht hat es ja mit einem Satz Fjodor Michailowitsch Dostojewskis zu tun, den ich erst jetzt zu verstehen beginne: »Mensch unter Menschen zu sein und es auch immer zu bleiben, das ist der Sinn des Lebens, das ist seine Aufgabe.«
Mensch unter Menschen sein – kein besserer Mensch unter schlechteren, kein reicherer unter ärmeren, kein schönerer unter weniger schönen, nein: Mensch unter Menschen. Ist das nicht der wirksamste Protest gegen den in unserem Wirtschaftssystem forcierten Leistungsdruck, den Selbstoptimierungswahn, der über Medien und Ratgeberbücher nach und nach unsere Gehirne kolonialisiert? Nichts Besonderes sein zu wollen, damit allein könnte man sich wohl heute von der Masse der Überindividualisierten absondern. Und ist nicht gerade das das fatale »Alleinstellungsmerkmal« rechtsgerichteter Ideologien, dass sie immer und überall Unterschiede zu konstruieren versuchen: zwischen »Leistungsträgern« und »Minderleistern«, zwischen dunkel- und hellhäutigen Menschen, zwischen dem »Eigenen« und dem »Fremden«? Und die überlegene Gruppe ist – man ahnt es – dabei immer die eigene, wie zunehmend lauttönend in Kneipen, im Wohnzimmer, auf Straßen und Plätzen beschworen wird.
Wie gut tun da Menschen, denen – wie ich in einem älteren Text geschrieben hatte – »das Leben ganz leise viel echter gelingt«. War es das, was mich hinzog zu den Poetinnen und Poeten, diese unbedingte Bescheidenheit in einer ausschließlich dem Wettbewerb, dem Schöner, Besser, Klüger und vor allem Reicher verfallenen Gesellschaft? Einer Gesellschaft, die sich ausschließlich dem Haben und nicht dem Sein verschrieben hat – um dieses treffende Gegensatzpaar zu zitieren, das Erich Fromm geprägt hat. Dabei weiß ich als Künstler am besten, dass uns nichts mit Gewissheit und für immer gehört. Nicht einmal die eigenen Lieder, die ich niemals habe, die eher durch mich hindurch als aus mir herausgeflossen sind. Der kommerzialisierte Zeitgeist will alles in eine Handelsware verwandeln, auch Kunst und Inspiration, wo es doch vielmehr darauf ankäme, dass jeder – ob prominent und ganz unbekannt – lernt, sein eigener Gesang zu sein.
Meine großartigen, leider verstorbenen Freunde, Dieter Hildebrandt, Petra Kelly, Arno Gruen, Hans Peter Dürr – um nur einige zu nennen –, einte eine wunderbare Eigenschaft: ihre Bescheidenheit. Ihre Fähigkeit, Menschen nicht nach deren Rang und Namen zu bewerten und allen immer auf Augenhöhe zu begegnen. Nicht unterwürfig, aber eben auch nie überheblich. Wirkliche Größe hat es nicht nötig, sich durch das Kleinmachen anderer zu beweisen. Die Wunden, die wir einander und der Welt zufügen, haben indes fast immer mit Unbescheidenheit und Ich-Zentriertheit zu tun. Etwa die zerstörerische Auffassung, dass der Mensch »Krone der Schöpfung« sei, dass er Mitmenschen, Tiere und Umwelt als beliebig manipulierbare und ausbeutbare Objekte behandeln könne. Und – eng damit verbunden – die Meinung, einige seien »gleicher« als andere und dürften diesen ihre Rechte aberkennen.
So sind – auch auf dem Boden des »christlichen Abendlands« – Räume reduzierter Menschenwürde entstanden, an die sich eine Mehrheit der noch Satten auf beunruhigende Weise gewöhnt hat: Gefängnisse, Kasernenhöfe, die trostlosen Wartezonen der Hartz IV-Behörden, die bedrückenden Aufbewahrungslager für Geflüchtete und die Strände von Lesbos oder Lampedusa, wo wöchentlich Schiffe voller verzweifelter, besitzloser Menschen landen. So fern uns diese Schicksale vorkommen mögen, wir können sie nicht fernhalten von unserer Seele – spätestens jetzt, da »die Probleme« vor unserer Haustür stehen: in Form von konkreten Menschen, Frauen, Männern und Kindern. Schon Hugo von Hofmannsthal schrieb in seinem wunderbaren Gedicht: »Doch ein Schatten fällt von jenem Leben in die anderen Leben hinüber, / Und die leichten sind an die schweren wie an Luft und Erde gebunden.«
Freilich, wir scheinen in unserer westlichen Gesellschaft noch eingebettet in eine gewisse Art von Wohlstand und vermeintlicher Freiheit. Dennoch hat sich auch um unsere Kehlen eine Garotte, ein Würgeeisen geschnürt, dem wir nicht entkommen werden, wenn wir nicht auf der Stelle umdenken, uns widersetzen, aufschreien, handeln. Was es dafür bräuchte, ist zunächst guter Wille. Das klingt einfach, ist aber keinesfalls selbstverständlich. Leonardo Boff, der brasilianische Befreiungstheologe, schreibt dazu – einen Satz Kants interpretierend: »Der gute Wille ist das einzig Gute, das in sich selbst gut und das unbeschränkt ist. (…) Guter Wille setzt eine Öffnung für den anderen und bedingungsloses Vertrauen voraus. Dies ist für Menschen machbar. Wenn wir mit dem guten Willen nicht ernst machen, werden wir keinen Weg aus der verzweifelten Sozialkrise finden, die ganze Gesellschaften an den Rändern der Erde zerreißt und die für die Millionen von Flüchtlingen verantwortlich ist, die sich auf den Weg nach Europa begeben haben.«
Guter Wille ist nicht alles, aber wo kommen wir hin, wenn wir nicht einmal den haben? Bei den politischen und ökonomischen Eliten, ja auch bei vielen politisch dahindämmernden »Normalbürgern« fehlt er schmerzlich. Ich habe nie allein dem Erfolg getraut, der zu einem Götzen unserer Zeit geworden ist – nicht einmal dann, wenn es um den Erfolg in einem gerechten Kampf geht. Man muss das Richtige um seiner selbst willen tun, weil man nicht anders kann, mag sich die Welt auch vom eigenen ehrlichen Gesang unbeeindruckt zeigen. Siegen können wir unter den herrschenden Machtverhältnissen nicht immer, aber wir können tun, was getan werden muss. Wir können Haltung zeigen. Der beste Wegweiser ist dabei noch immer das Herz.
Es sind kalte Zeiten, in denen das Mitgefühl obsolet wird. Sogar das Gute, das Gut-sein-Wollen selbst wird Gegenstand von Hohn und Anfeindungen. So brüchig Moralvorstellungen auch sein mögen, Güte kann noch immer ein Orientierungsmaßstab sein, der trägt, wo neue Herausforderungen an uns herangetragen werden. Daher stört die Güte diejenigen, die von ihrem Fehlen profitieren, und der Vorwurf, ein »Gutmensch« zu sein, wird gegen engagierte Menschen wie ein Giftpfeil abgeschossen. Immer wieder musste ich als Reaktion auf meine öffentlichen Äußerungen zur Flüchtlingsfrage hören: Wer zu viel Mitgefühl hat, hat keinen Verstand. Aber war es denn zu viel Mitgefühl, was uns in diese desaströse Situation gebracht hat? Oder nicht vielmehr der himmelschreiende Mangel daran?
»Wir glauben, unser Denken sei realistisch, wenn es von Mitgefühl befreit ist, von der Fähigkeit, Schmerz zu teilen, Leid zu verstehen, und vom Gefühl der Verbundenheit mit allen Lebewesen.« So schrieb mein leider unlängst verstorbener Freund, der große Psychoanalytiker Arno Gruen. »Denken wir aber ohne Mitgefühl, dann leben wir in einer Scheinwelt aus Abstraktionen, die Kampf und Konkurrenz zu den Triebkräften unserer Existenz machen. In dieser Welt der Abstraktionen dominiert die Gewalt. Ein Bewusstsein, das auf Abstraktionen basiert und das Empathische verdrängt, entfernt den Menschen von der Realität. Es führt zu den uns zerstörenden gewalttätigen Kriegen, welche die Geschichte der Zivilisationen charakterisieren.«
Dieses Büchlein versammelt Texte, die ich überwiegend 2015 geschrieben und auf Facebook, meiner Webseite und in meinem Netzmagazin »www.hinter-den-schlagzeilen.de« gepostet habe. Roland Rottenfußer, mein langjähriger bewährter Mitarbeiter und Chefredakteur des Magazins, hat zu meinen Beiträgen treffende Einleitungen geschrieben, die wir den einzelnen Kapiteln dieses Buches in kursiver Schrift voranstellen. Für Menschen, die diese Texte erst 2016 oder später lesen, erwiesen sich zudem »historische« Erklärungen als notwendig, um jeweils den tagesaktuellen Anlass meiner Stellungnahmen zu beleuchten. Roland Rottenfußer hat alle Vorspänne und Texte in diesem Sinn noch einmal neu bearbeitet und übernahm in Absprache mit mir auch die Vorauswahl.
Das vorliegende Buch ist eine Streitschrift, aber kein politisches Pamphlet. Es ruft zur Herzlichkeit auf, einer Herzlichkeit, die nicht erst eine Ideologie oder die so genannte realpolitische Vernunft befragen muss, bevor sie zur Tat wird. So wichtig eine realistische Lebenseinstellung sein mag, sie darf nicht zum Käfig werden, in den wir unsere unmittelbaren Impulse, Menschen zu verstehen, zu schützen und zu helfen, einsperren lassen. Liebevolles Sprechen und Handeln muss sich ungestört von der Vorzensur vernünftelnder Machbarkeitserwägungen entfalten können.
Was wäre denn das Gegenteil jener »Abstraktion«, von der Arno Gruen spricht? Nehmen wir an, jemand bricht direkt vor Ihnen auf der Straße zusammen – fragen Sie dann erst, ob dieser Mensch Ausländer ist oder Deutscher, Linker oder Rechter, Armer oder Reicher? Sie helfen. Oder Sie sind ein durch Ideologien verblendeter, in abstrakten Denkgebäuden gefangener Mensch. Vielleicht ist dies ja die einfachste Definition von Rassismus: kein Gefühl zu empfinden für Menschen, die einem irgendein völlig vom Menschsein losgelöstes Gedankenkonstrukt als minderwertig vorgaukelt.
Täglich vernehmen wir die Stimmen der »Vernünftigen«: die Obergrenze sei erreicht, die Zuwanderung müsse gestoppt werden, die Willkommenskultur sei höchst umstritten und Mitgefühl sei Schwäche. Millionen Menschen wird ein lebenswertes Leben vorenthalten von einer kleinen Minderheit von...