KAPITEL 1
NUR WEG
EIN ALTER MANN TRÄGT KEINE TURNSCHUHE
Hamburg ist im Winter ein großer, grauer Kühlschrank, dessen Tür klemmt. Nicht die beste Jahreszeit, um auf heitere Gedanken zu kommen. Mich beschäftigt, während dieses Buch entsteht, zum ersten Mal in meinem Leben das Alter. Als ich mir heute Morgen die Schuhe zuband, dachte ich: »Owei, Mist, das zieht aber im Rücken. Jetzt bin ich schon mal hier unten – was kann ich sonst noch erledigen?« Mir wurde schlagartig klar: Ich bin ein alter Mann.
Ein Gedanke, der früher weiter weg war als der Trockenfilz-Abend der Emanzengruppe Altona. Früher unterhielt ich mich mit meinen Kumpels vor allem über Frauen. Und über Frauen, und, wenn wir kein anderes Thema fanden, über Frauen. Die Themen heute: Prostata-Beschwerden. Arthrose. Blutzucker. Die Verdauung. Wir haben uns tatsächlich über die Verdauung unterhalten. In Deutschland kann man mit diesem Thema Nummer eins in der Bestseller-Liste werden, doch ich finde es deprimierend.
Mein Hausarzt – den ich früher nicht mal besucht hätte, wenn der Pastor mit der letzten Ölung vor der Tür gestanden hätte – lächelt milde und ein wenig diabolisch, wenn ich mit einem neuen Zipperlein aufwarte.
»Ist wie mit einem alten Auto. Es klappert eben hier und rostet da«, meinte er.
»Doktor, neue Roststellen kommen nicht mehr hinzu, aber die Frage ist, wann die Schrottpresse bevorsteht«, habe ich geantwortet.
Noch läuft die Klapperkiste, aber es wird immer schwieriger, sie am Laufen zu halten. Auf Reisen gleicht mein Koffer einer rollenden Apotheke, und morgens braucht es seine Zeit, bis die Mühle startklar ist: Blutzucker messen, Medikamente schlucken, Hörgeräte einsetzen, Lesebrille bereitlegen, Bandage übers Knie. Walzer geht nur noch rechts herum, Baby, auf links dreht das Holzbein raus.
Eines habe ich mir geschworen: Ich werde meine Würde nicht aufgeben. In den Zeitschriften, in der Werbung, überall: diese lachenden »Best-Ager« mit ihren gefärbten Haaren, ihrem soliden Allwettergrinsen und den schicken Nike-Turnschuhen zum Gehstock. »70 ist das neue 50«, las ich neulich. Ihr Dösbaddel tickt doch nicht ganz richtig! Den Käse erzählen sie den Leuten doch nur, weil irgendwann alle bis 80 arbeiten müssen, damit das Prinzip Rente noch irgendwie funktioniert.
Sich die grauen Haare wegfärben, aber heimlich aus der Schnabeltasse nippen? Tuning für den Rollator? Kommt nicht in Frage. Damit das geklärt ist: Ich bin kein Senior.
Ich bin ein alter Mann.
TRÜMMERLAND
Meine Geschichte beginnt in den Trümmern von Hamburg, Arbeiterstadtteil Sankt Georg, und der Grund, warum ich zur See wollte, lag dort unter den Bergen aus Schutt begraben. Es war 1950, und ich hielt es nicht mehr aus in dieser zerstörten Stadt. Ich träumte vom Leben auf dem Meer, von der Ferne, von feinen Stränden und Städten mit exotischen Namen: Caracas, Hongkong, Rio de Janeiro, je weiter weg, desto besser. Ich lebte in meinen Träumen. Selbst heute, nach mehr als sechs Jahrzehnten, fällt es mir schwer, über die frühe Zeit meines Lebens zu sprechen. Es kommt so vieles wieder hoch, was ich sorgsam weggeschoben hatte, es ist so ein Gefühl, als suche man in sich selbst nach einem bösen Geist. Ich spürte eine Ablehnung gegen mein Elternhaus, besonders gegen meinen Vater, einen überzeugten Nationalsozialisten. Ich wollte mit all dem nichts zu tun haben. Ich wollte ein anderes Leben.
Ich wollte raus. Ich wollte weg.
Meine ersten Erinnerungen sind an die Nächte der Bomben, an das Heulen der Sirenen und die dumpfen Schläge der Explosionen, 1942. Wir lagen im Luftschutzkeller, in Betten aus Eisen, doppelstöckig, ohne Matratzen, es krachte und dröhnte, die Wände wackelten und wir konnten im Schein der Kerzen sehen, dass es von der Decke rieselte. Wir Kinder trugen einen kleinen Rucksack bei uns, darin: Ausweispapiere, Notproviant, etwas Wäsche. In manchen Nächten rannten wir ein halbes Dutzend Mal die Treppen in den Keller hinunter, wo es so muffig roch, feucht, wie alte Keller eben riechen. Für den Fall, dass wir verschüttet wurden, lagen Spitzhacken und Schaufeln bereit, damit wir uns selbst ausgraben konnten. In einer Ecke standen Eimer mit Wasser und Feuerpatschen, für den Fall eines Brandes, aber dieser Schutz war eher symbolisch. Eingeschlossen zu sein, wenn Feuer ausbricht, hätte vermutlich das Ende bedeutet. Über solche Dinge macht man sich als Kind keine Gedanken: Angst spürte ich nicht, wenn die Sirenen heulten, auch dann nicht, als eine Bombe ganz in der Nähe einschlug. Ich war naiv, ein kleiner Junge. Die Furcht kam, als ich in die Gesichter der Erwachsenen blickte, in denen ich Angst vor dem Tod erkannte und die mir wie verzerrt erschienen. Das langgezogene Heulen der Sirenen hat mich mein Leben lang begleitet. Gab es irgendwo einen Alarm oder mittags um 12 Uhr einen Probealarm der Feuerwehren, lief ein eiskaltes, beklemmendes Gefühl durch meinen Körper. Ich rannte im Geiste in den Keller mit meinem kleinen Rucksack und sah wieder die brennenden Häuser der Nachbarschaft, durch die Milchglasscheiben im Treppenhaus. Ich roch das Feuer in diesen Nächten, in denen der Himmel orangefarben schimmerte. Erst mit meinem 50. Lebensjahr ließen diese quälenden Gedanken nach.
Ende 1943 evakuierte man uns. Wir kamen zuerst in den Wienerwald, danach auf ein Dorf in Bayern, Wildbach, der nächstgrößere Ort ist Deggendorf. Es war Winter, und ich erinnere mich daran, dass wir die Schule nicht besuchen konnten, weil der Schnee hoch lag und wir die fünf Kilometer Fußmarsch nicht schafften. Untergebracht waren wir in einem ehemaligen Erholungsheim der Nazi-Organisation Kraft durch Freude (KdF), mitten im Wald. Das Dorf war einige Kilometer entfernt, und wir Kinder machten uns einen Spaß daraus, auf die Leiter des Postbusses zu springen. Es waren idyllische Monate, trotz des Krieges. Dass die Welt brannte, bekamen wir in Wildbach nicht mit. Frieden, ländliche Ruhe, Abgeschiedenheit. Für uns Kinder war es ein langer Abenteuerurlaub. Wir jagten Kühe über die Wiesen, zogen mit der Schleuder los, und für uns war kein Baum, auf den wir klettern konnten, zu hoch. Auf den Feldern mussten wir nicht mithelfen – wir waren noch zu klein für harte körperliche Arbeit.
Nur, wer genau hinsah, erkannte die Schatten am Himmel. Wenn Bomber über das Dorf flogen, weit oben, die für uns aber nie eine Gefahr darstellten, denn die Gemeinde war viel zu klein und ohne jede industrielle Anlage, um ein lohnendes Ziel abzugeben. Im Dorf lebten keine Männer, nur die Alten und die ganz jungen waren geblieben, der Rest kämpfte an der Front. Ein Jahr währte dieses Leben auf dem bayerischen Land – dann holte meine Mutter, meinen Bruder Jochen, meine Schwester Barbara und mich die Realität des Krieges wieder ein.
Mein Vater wurde 1944 an der Ostfront verwundet. Man verlegte ihn in ein Lazarett in Bernburg an der Saale. Er holte seine Familie nach. Meine Mutter wurde während eines Heimaturlaubs wieder schwanger. Mein jüngster Bruder, er hieß Christian, starb im Alter von sechs Monaten. Ernährungsstörung, sagten die Ärzte. Ich erinnere mich schemenhaft an einen kleinen weißen Sarg, vor dem wir auf dem Friedhof standen. Unsere Wohnung, fünf Zimmer, befand sich in der Adolf-Hitler-Straße. Die Privilegien meines Vaters, hochrangiges Parteimitglied und Major der Infantrie, hatten Bestand, obwohl die Versorgungslage schon spürbar schlechter wurde. Dienstmädchen und Kindermädchen halfen meiner Mutter im Alltag. Mein Vater war bereits 1933 in die NSDAP eingetreten und ein Kriegsheld im Sinne der NS-Propaganda. Er befehligte Voraustrupps bei besonders gefährlichen Kommandos, wenn es darum ging, das Gelände für nachrückende Truppen zu erkunden. Kontakt mit dem Feind war immer zu erwarten. Er hatte an der Ostfront gedient, auf der Krim, war bei der Belagerung und dem Beschuss von Sewastopol dabei gewesen. Zuerst erlitt er einen Unterarmdurchschuss, kehrte an die Front zurück, wurde wieder verwundet. Man zeichnete ihn mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse und der Nahkampfspange aus. Mir haben diese Auszeichnungen nie etwas bedeutet.
Nach dem Krieg habe ich meinen Vater oft mit seiner Gesinnung konfrontiert. Er blieb auch nach Ende des Weltbrandes bei seiner Anschauung, und das machte mich wütend und ließ mich verzweifeln. Zu den Dingen, die ich von meinem ersten selbstverdienten Geld kaufte, gehörte das Buch Der gelbe Stern. Ich verdiente 50 Pfennige in der Stunde, und es brauchte Wochen, bis ich das Geld zusammengespart hatte, doch es war mir wichtig. Ich zeigte das Buch meinem Vater. Die Bilder aus den Konzentrationslagern, die Berge von Leichen, die zu Skeletten abgemagerten Überlebenden.
Ich wollte Erklärungen, ich wollte Antworten von ihm. Wieso hatte er mitmachen können? Wieso hatte er nichts gewusst? Und wieso blieb er trotzdem bei seiner Meinung? Wie konnte all dies sein?
»Das sind gestellte Bilder«, erklärte er schroff. »Das ist Propaganda der Alliierten.«
Er wollte nicht wahrhaben, dass er für die verkehrte Sache gekämpft hatte. Er leugnete die Realität, er tat so, als habe es sie nie gegeben. Mit seiner Ignoranz nahmen auch meine Enttäuschung und meine Wut zu. Unsere Auseinandersetzungen wurden immer härter, bis es schließlich fast zu körperlichen Konflikten kam. Mir wollte und will bis heute auch nicht einleuchten, dass die Zivilbevölkerung nichts wusste. Wenn die Nachbarn abgeholt wurden, wenn wieder eine Wohnung leer wurde, wenn Arbeitskollegen einfach verschwanden. Das ist der Vorwurf, den ich der Generation...