Vorwort
von Mark und Lydia Benecke
Gestern im Gerichtssaal. Der Angeklagte lässt sich beim Hereinkommen nicht fotografieren. Er hält sich einen Aktenordner vors Gesicht, bis die Richterin den Fotografen rauswirft. Angeklagt ist ein schlanker Mann in weichem Wollpulli und mit grauer Föhnwelle. Er soll sechshundert Mal „sexuelle Handlungen vorgenommen haben“, immer an denselben zwei Kindern. Er betreute sie, war ihr Ersatzvater und hielt Kontakt, bis die Therapeutinnen den Opfern vor Kurzem verboten, ihm weiter Briefe in den Knast zu schreiben.
Im Laufe der Verhandlung bleiben „nur“ noch um die hundert – oder doch zweihundert? – sexuelle Handlungen übrig. „Wie soll ich mich an die genaue Zahl erinnern“, sagt der Angeklagte, „wo die Kinder doch bei mir gelebt haben? Irgendwann war ich nicht mehr der Jüngste, da hat der Oralverkehr sicher abgenommen.“ Er blättert verständnislos in seinen Unterlagen, in denen er akribisch jeden Monat aufgezeichnet hat, in dem er mit den Jungen – in seinen zweideutigen Worten – „zusammen war“.
Die Richterin gibt sich ungerührt, obwohl ihre Stimme schwankt. Sie versucht stundenlang, die genauen Sex-Häufigkeiten zu errechnen. „Sie waren doch im Urlaub mit den Kindern! Daran müssen sie sich doch erinnern. Waren Sie in einem Zelt? Im Freien? Oder wo?“ – „Ach“, sagt der Angeklagte, „das spielt doch keine Rolle, ob es im Zelt war …“
Es ist hoffnungslos. Alle reden und tanzen um den heißen Brei herum, keiner haut auf den Tisch, keiner hört dem anderen richtig zu. Die Richterin vertagt das Verfahren, die Bild-Zeitung schießt die beiden Opfer, die jetzt sechs Stunden ohne jede Information vor der abgeschabten Türe auf einem Gerichtsflur herumsaßen, noch von hinten ab. Alles geht seinen üblichen, ans Idiotische grenzenden Behördengang.
Eine Frage, die niemand stellt, ist die, warum unser Angeklagter eigentlich so geworden ist, wie er ist. Vor Gericht ist das in diesem Fall aber auch wirklich egal. Er sieht sowieso nichts ein, hat keine Therapie gemacht und beharrt darauf, dass er zeitlebens keinem Kind Gewalt zugefügt hat. Das stimmt sogar, denn nett war er immer. Sogar der warum auch immer zugezogene Psychologe will nur wissen, ob Gewalt und Zwang im Spiel waren oder nicht. Er möchte das gegen den allgemeinen Willen im Saal, die beiden Opfer heute und für immer in Ruhe zu lassen, noch einmal hören. „Wie viele Pädophilen-Verfahren hatten Sie schon?“, fragt der Verteidiger den Psychologen daraufhin verdächtig freundlich und milde. „Das hier ist doch ein ganz durchschnittliches Pädophilen-Verfahren, kein Mord! Haben Sie schon jemals davon gehört, dass normale Pädophile Gewalt gegen Kinder anwenden?“ Nein. Darüber hatte sich niemand im Raum Gedanken gemacht. Die meisten Pädophilen überreden, überrumpeln, überlisten und bestechen ihre Opfer. Messer und Pistole brauchen sie dazu nicht.
Bald wird es allen zu viel. Beratungspause, Kaffeepause, Rechtsgespräch, Mittagspause, Abbruch. Der Staatsanwalt, ein kleiner, junger, überdynamischer Mann, macht noch schnell eine sehr schlüpfrige Bemerkung und beantragt Haftbefehl. Der Angeklagte hatte sich nämlich verplappert und zugegeben, während einer Bewährungszeit vor zig Jahren sofort wieder Kontakt zu seinen kindlichen Opfern aufgenommen zu haben.
Überhaupt macht es dem Staatsanwalt sichtlich Spaß, den Täter wie eine Schlange zu zertreten. Dass sich der alte, sanfte Angeklagte im Buchhalter-Habitus vor allem wegen der angeforderten Zahlenpräzision, die er so gerne liefern würde, windet, versteht der Jurist nicht. Er ist für Abstraktes zuständig. Umgekehrt ist es auch nicht besser. Die Frage danach, ob er die Jungs, nachdem sie Schamhaare hatten, noch sexuell anziehend fand, findet nun der Angeklagte seltsam. „Nein, darüber bin ich zum Glück hinaus“, sagt der Mann so sachlich wie selbstverständlich, „ich bin doch nicht ephebophil.“ „Was?“, fragt die Richterin aufgeschreckt. „E -- phe -- bo -- phil“, buchstabiert der Mann sehr höflich, so als hätte die Richterin, genau wie er, einfach nur ein schlechtes Gehör. In Wahrheit hat sie den Begriff, der die Hinwendung zu nachpubertären Jungen beschreibt, noch nie gehört.
Am zeitigen Nachmittag ist das Trauerspiel, das nur aus Missverständnissen besteht, zum Glück zu Ende. Alle gehen nach Hause.
Zunächst nur am Rande – nämlich zur späteren Feststellung der Schwere der Tat – deutet jemand an, dass es nicht nur um den Täter geht, sondern dessen sexuelle Handlungen auch auf die Opfer Auswirkungen haben. Eines der Opfer, so stellt sich heraus, sitzt nämlich selbst im Gefängnis – verurteilt für Sex mit Kindern, in haargenau der Art, die er selbst als Kind erlebte. Die Psychologen berichten, dass er in seiner Sexualität unwiderruflich auf kleine Jungen geprägt ist, während sein Bruder – das zweite Opfer – eine auf Erwachsene ausgerichtete Sexualität entwickelte. Sexuelle Missbrauchserfahrungen in der Kindheit können sich also ganz unterschiedlich auf die Psyche der Opfer auswirken. Wer Kindesmissbrauch nur aus den Medien kennt, reagiert auf diesen bei manchen Tätern bestehenden Zusammenhang von Missbrauchserlebnissen in der Kindheit und späteren eigenen Taten mit Unverständnis. Denn intuitiv würde man meinen, dass doch gerade ehemalige Missbrauchsopfer das mit dem Missbrauch einhergehende Leid so genau kennen müssten, dass sie dies von eigenen Taten abhalten sollte. Hierbei ist Außenstehenden oft nicht klar, dass in den meisten Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch eben keine brutale Gewalt herrscht, sondern Psychoterror der unterschwelligen Art:
Die Täter – sehr oft Familienmitglieder oder soziale Bezugspersonen der Kinder – bauen meist durch Zuwendung und Aufmerksamkeit eine persönliche Beziehung zu ihren Opfern auf. Auf diese Weise geraten die Kinder allmählich in ein emotionales Abhängigkeitsverhältnis, bei dem sie die sexuellen Handlungen dulden, aus Angst, ihre Bezugsperson zu verlieren. So entwickeln die Kinder häufig und zumindest eine gewisse Zeitlang durch den kontinuierlichen Missbrauch und die Einbettung der sexuellen Handlungen in ihren Alltag den Glauben, es sei „normal“, die sexuellen Wünsche der erwachsenen Bezugsperson erfüllen zu müssen.
Das ist ein verheerender Mechanismus: Einerseits geben sich die Kinder oft selbst die Schuld für den Missbrauch, da sie den in ihnen wirkenden emotionalen Abhängigkeitsprozess nicht verstehen und verarbeiten können. Andererseits können sich die Täter dadurch, dass sie keine körperliche Gewalt anwenden, ihre Taten schönreden, indem sie sich sagen: „Wenn das, was ich tue, so schlimm für das Kind wäre, dann würde es ja nicht mehr zu mir kommen. Ich zwinge es ja nicht.“ Hält man sich das vor Augen, dann wird nachvollziehbarer, wie tiefgreifend die Folgen für das Selbstbild, die Beziehungsfähigkeit und die Sexualität von Missbrauchsopfern sind.
Natürlich kann auch vieles andere in der Entwicklung von Kindern schiefgehen. Auch harmlosere Erfahrungen als Missbrauch, beispielsweise die frühe Trennung von einem Elternteil, können eine deutlich ungünstige Folge auf die Beziehungsfähigkeit von Kindern haben. Klar ist, wie gesagt, auch, dass sich Missbrauchserfahrungen sehr unterschiedlich auf Menschen auswirken. Bekannte Folgen sind Depressionen, Angststörungen, die Borderline-Persönlichkeitsstörung, sexuell abweichende Vorlieben, Störungen der Fähigkeit, sich auf zwischenmenschliche Beziehungen einzulassen, und vieles mehr. In ihrer Ausprägung und Zusammenstellung variieren die Folgen stark, sie schränken aber zumindest immer die Fähigkeit zu entspannten Partnerschaften ein.
Das ist kein Wunder, denn die menschliche Entwicklung setzt sich immer aus dem Zusammenspiel von genetischen und Umwelteinflüssen zusammen. Das bedeutet, dass es Umwelteinflüsse gibt, die bestimmte Entwicklungen wahrscheinlicher machen, aber sich eben nicht in jedem Fall gleich auswirken. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Rauchen von Zigaretten. Es erhöht nachweislich die Wahrscheinlichkeit, Lungenkrebs zu entwickeln, doch weitaus nicht jeder Raucher entwickelt Lungenkrebs.
Einen Extremfall dessen, was aus einem ehemaligen Missbrauchsopfer werden kann, schilderte Petra Klages in ihrem Buch „Brieffreundschaft“ mit einem Serienmörder. Dort hat sie viele Darstellungen eines besonders grauenvoll handelnden Täters gesammelt: Sie schrieb ihm Briefe, und er schrieb zurück – oft und detailliert. Als Pädagogin und Kriminologin hat Klages so jahrelang einen neuzeitlichen Sexualmörder ausgeforscht, für den noch nicht einmal ein Heiliger Zuneigung empfinden kann. Der Täter hatte seine Opfer aufgeschnitten, zerstückelt, ihnen die Eingeweide entnommen und sie an gut einsehbaren Orten in offensichtlichen Posen abgelegt. Mehr geht...