Eine ganz normale Familie
Gebhard, Anna und ihre Söhne
Vor vielen Jahren hatte mein Vater mir ein Buch zur Lektüre empfohlen, das ich damals nur flüchtig gelesen hatte: Alfred Anderschs autobiographische Erzählung »Der Vater eines Mörders«. Andersch besuchte das humanistische Wittelsbacher Gymnasium in München, an dem Gebhard Himmler senior, der Vater der drei Brüder, Direktor war. Von ihm handelt die Erzählung. Sie spielt im Mai 1928, wenige Jahre vor Beginn des »Dritten Reiches«, als Direktor Himmler eines Tages überraschend den Unterricht in der Klasse von Andersch alias Franz Kien inspiziert, um die Griechischkenntnisse der Schüler zu überprüfen, vor allem aber auch, um für Disziplin in der Klasse zu sorgen. »Hoffentlich«, rügt er die Eleven, »werdet ihr alle noch dienen müssen, hoffentlich ist das Reich bald stark genug.« Denn beim Militär, so droht er einem Aufmüpfigen, »würde dir schon beigebracht werden, was Disziplin heißt.«
Franz erinnert sich im Verlauf dieser Schulstunde, dass sein Vater ihn früh vor diesem Mann gewarnt hatte, an dem alles so »hell, glatt, scheißfreundlich und so pieksauber wie sein weißes Hemd« ist. Der alte Himmler sei gefährlich, »schwarz bis in die Knochen« und ein »Karriere-Macher«, der »in München zur Crème gehören« wolle. Vor diesem Himmler müsse man sich hüten.
Es wurde eine denkwürdige Unterrichtsstunde, in deren Verlauf der Rektor den Schüler Kien gnadenlos vor der gesamten Klasse bloßstellte – Kiens unzulängliche Kenntnisse der griechischen Grammatik lieferten dafür nur den Vorwand. Ein kleinbürgerlicher, fauler Versager sei er, höhnte der Direktor. Das Ende der Schulstunde sollte auch das Ende der schulischen Laufbahn von Franz Kien alias Alfred Andersch sein. Andersch wurde der Schule verwiesen.
Als mein Vater das Buch 1980 das erste Mal las, war er zutiefst verstört über den Charakter seines Großvaters, der in Anderschs Erzählung als ein auf seine humanistische Bildung stolzer Autokrat auftritt, selbstgerecht und autoritär, militaristisch und nationalistisch. Spontan rief er damals seine Cousine in München an, die Tochter des ältesten Himmler-Sohnes Gebhard, die ihn zu beruhigen versuchte: Anderschs Darstellung habe »nichts mit der Wahrheit« zu tun, sondern sei eine üble Verunglimpfung ihres gemeinsamen Großvaters. Sie schickte ihm einen Zeitungsartikel, der, von einem ehemaligen Mitschüler Anderschs, dem Rechtsanwalt Dr. Otto Gritschneder, in der »Süddeutschen Zeitung« veröffentlicht, sich bemühte, die ramponierte Ehre des Geheimrats und Gymnasialdirektors Himmler wiederherzustellen. Auch ich erhielt viele Jahre später den besagten Artikel von Gebhards Tochter. Streng sei der Großvater schon gewesen, erzählt sie, aber auch gütig. Sie selbst habe ihn »nur von seiner sonnigsten Seite« kennen gelernt, beim Spaziergang habe er ihr oft ein »Zuckerl« geschenkt.
Das Buch löste bei seinem Erscheinen 1980, kurz nach Anderschs Tod, eine erregte Debatte aus. Vor allem ehemalige Schüler des Wittelsbacher Gymnasiums, zum Teil frühere Mitschüler von Alfred Andersch, stritten auf den Leserbriefseiten der »Süddeutschen Zeitung« darum, wie der ehemalige Direktor wirklich gewesen sei. Er sei »eine sehr respektgebietende, energische Persönlichkeit von hohem geistigen Niveau« gewesen, von »Lehrern und Schülern gleichermaßen gefürchtet, geachtet und verehrt«, so die einen. Andere hatten ihn als notorischen »Streber« erlebt, »einer der Typen, die nach oben katzbuckeln und nach unten treten«. Der unermüdliche Dr. Gritschneder legte 2001 noch einmal entschlossen nach – alles in dem Buch sei »erstunken und erlogen«, es sei nichts als ein »Rufmord an einem Rektor«, eine »Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener«.
Zwanzig Jahre später lese ich nun diese Erzählung noch einmal und bin genauso beunruhigt wie mein Vater damals. Aber nachhaltiger als Anderschs ziemlich unsympathische Charakterisierung des Schuldirektors beunruhigt mich die Frage, die der Autor im Nachwort aufwirft. Dort weist er darauf hin, dass Heinrich Himmler, der »größte Vernichter menschlichen Lebens, den es je gegeben hat«, nicht etwa »im Lumpenproletariat aufgewachsen« sei, »sondern in einer Familie aus altem, humanistisch fein gebildetem Bürgertum«. Und er fragt verzweifelt: »Schützt Humanismus denn vor gar nichts?« Einige Biographen Heinrich Himmlers machen die Strenge und Pedanterie seines Vaters, des Direktors, mit verantwortlich für die spätere grausige Laufbahn des Sohnes. Strenge, Disziplin, Anständigkeit – die deutschen Kernsekundärtugenden – hätten in der Erziehung der Himmler-Söhne eine allzu große Rolle gespielt.
Auf den alten Fotos wirkt er steif, würdevoll und imposant, seine Frau neben ihm winzig klein und zierlich. Unter den Enkeln galt sie als die »liebe Oma«. Auf vielen Fotos sitzen die beiden inmitten einer gediegenen Wohnzimmereinrichtung aus der Jahrhundertwende, umgeben von zahlreichen an der Wand hängenden Porträtaufnahmen ihrer Vorfahren. Beide sehen so aus, als seien sie den Rollenerwartungen gerecht geworden: notwendige väterliche Strenge auf der einen Seite und ausgleichende mütterliche Güte auf der anderen. Natürlich gibt es auch die Fotos, auf denen die Familie steif beim Fotografen posiert, ebenso aber die anderen, fröhlichen aus der Sommerfrische, auf denen man sieht, dass Eltern und Kinder einander liebevoll zugetan sind. Insgesamt wirken diese Himmlers auf mich, der Zeit und dem Milieu entsprechend, wie eine ganz normale Familie. Wer war Gebhard Himmler? Wie hatte er Anna, seine Frau kennen gelernt? Und aus welcher Welt kamen die beiden?
Joseph Gebhard Himmler, mein Urgroßvater, 1865 in Lindau am Bodensee geboren, war in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Sein Vater Johann Himmler hatte das Weberhandwerk erlernt, versuchte aber schon bald sein Glück als Soldat im Königlich-Bayerischen Regiment zu machen. Dort allerdings fiel er nicht gerade durch großen Diensteifer auf, eher schon durch Schlägereien oder »unmoralisches Verhalten mit einer niedrigen Frau«, was wohl hieß, er traf sich mit Prostituierten und machte offenbar auch gar kein Hehl daraus. Für Jahre verlor sich seine Spur, bis er 1844 in München als Mitglied der Königlichen Polizeikompanie wieder auftauchte. In dieser Zeit lebte er unverheiratet mit der Häuslerin Katharina Schmid zusammen, 1847 bekamen sie einen gemeinsamen Sohn Konrad, der später das Recht erhielt, den Namen Himmler zu tragen. Als Konrad 15 Jahre alt war, verließ sein Vater die Familie und wurde Zollbeamter in Lindau am Bodensee, wo er wenige Monate später Agathe Kiene heiratete, Tochter eines Stadtbeamten aus Bregenz und 24 Jahre jünger als ihr Bräutigam.
Die Verwandtschaft zu Konrad Himmler wurde erst viele Jahre später aufgeklärt, ausgelöst durch das Ahnenforschungsfieber, das Heinrich Himmler für die SS zur Pflicht erklärt hatte. Heinrich Himmler war erfreut über diesen unerwarteten Familienzuwachs und förderte Konrad Himmlers Enkel Hans in der SS. Eugen Kogon, der von 1939 bis 1945 Häftling im KZ Buchenwald war, erzählt in seinem Buch »Der SS-Staat«, Heinrich Himmler habe diesen »Neffen« »wegen einer in Trunkenheit begangenen Ausplauderei von SS-Dingen« degradiert. Er durfte sich noch einmal als Fallschirmjäger an der Front »bewähren«, Heinrich Himmler habe ihn dann aber, so Kogon, »wegen einiger abfälliger Äußerungen erneut einkerkern« und schließlich als Homosexuellen im Konzentrationslager Dachau »liquidieren« lassen.
Dass diese unerwartete Verwandtschaft erst so spät in der Familie Himmler auftauchte, muss nicht unbedingt bedeuten, dass Johann Himmler den unehelichen Sohn seiner Ehefrau verheimlichte. Der Sohn Gebhard war in den Augen seines Vaters vermutlich noch zu jung, um etwas von der Existenz seines Halbbruders zu erfahren. Er war gerade einmal acht Jahre alt, als Johann Himmler mit 63 Jahren starb. Seine Witwe hatte wohl andere Sorgen, als sich um das frühere Leben ihres verstorbenen Mannes zu kümmern. Die Pension des Zollbeamten scheint nicht allzu hoch gewesen zu sein, nur mit Mühe konnte seine Ehefrau sich und den Sohn durchbringen. Die Erinnerungen an die schwierigen materiellen Verhältnisse, in denen er aufwuchs, sollten meinen Urgroßvater sein Leben lang begleiten.
Als guter Schüler und mittelloses Halbwaisenkind erhielt Gebhard schon in der Grundschule finanzielle Unterstützung, anschließend besuchte er dank eines Stipendiums als »Zögling des Königlichen Studienseminars Neuburg a.d. Donau« sechs Jahre lang das dortige humanistische Gymnasium.
Gebhard war ein so glänzender Schüler, dass er danach als Stipendiat für das Maximilianeum in München vorgeschlagen wurde – eine bis heute angesehene Studienstiftung, die einen Großteil der Kosten für ihre Studenten übernahm. Diese entschied sich dann zwar für einen anderen Bewerber, Gebhard erhielt jedoch später offenbar ein Stipendium der Königlich-Bayerischen Maximilians-Universität selbst, an der er im Oktober 1884, mit 19 Jahren, sein Studium aufnahm.
Er schrieb sich in Philosophie ein, damals neben der Theologie die bevorzugte Fachrichtung für weniger begüterte Studenten, weil hier die meisten Stipendien vergeben wurden. Gebhards Schwerpunkt war die klassische Philologie, Griechisch und Latein, nebenbei beschäftigte er sich mit so ausgefallenen Themen wie »Anthropologie in Verbindung mit Ethnographie der...