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Neoliberalismus

Phoenix - Essays, Diskurse, Reportagen

VerlagCzernin Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl112 Seiten
ISBN9783707605792
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Neoliberalismus, für die einen seit Jahrzehnten der Hebel, den westlichen Kapitalismus zu stärken, für die anderen exakt jene Ideologie, die Reich und Arm immer weiter auseinandertreibt. Was ist er: ein Programm für mehr Reichtum oder ein Feind der sozialen Demokratie? Geht es um Marktwirtschaft oder vielmehr um Marktherrschaft? Im vorliegenden Phoenix-Band gehen renommierte Journalisten und Wissenschaftler unter völlig verschiedenen Aspekten der Frage nach, wie der Neoliberalismus entstanden ist, wo er sich zeigt und was er für unsere heutige Gesellschaft und Politik bedeutet.

Gerfried Sperl, geboren 1941 in Oberzeiring, Steiermark. Studium der Anglistik, Germanistik und Philosophie, Dr. phil, Journalist und Kolumnist. Arbeitete u.a. für 'Kurier' und 'Kleine Zeitung' und war 15 Jahre lang geschäftsführender Chefredakteur des 'Standard'. Träger des Kurt-Vorhofer-Preises.

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Leseprobe

Die Wende in der
US-Politik


Hohe Inflation, hohe Arbeitslosigkeit, hoher Benzinpreis: 1978 brach in den USA die »middle-class-democracy« auf der Basis eines ungeschriebenen Sozialkontrakts zusammen. Es war die Geburtsstunde des politischen Neoliberalismus.

von GEORGE PACKER

Oberflächlich hat sich in den USA das Leben der obersten 20 Prozent in den letzten Jahrzehnten stark verbessert. Aber die tieferen Strukturen, die Institutionen, die eine gesunde demokratische Gesellschaft unterstreichen, sind in einen Zustand der Dekadenz verfallen.

2011 hat ein Wall-Street-Unternehmen, von dem bisher nur wenige Menschen gehört haben, Glasfiber-Kabel über 800 Meilen unter Bergen und Flüssen hindurch von Chicago nach New York verlegt, um die Börsen dieser beiden Großstädte miteinander zu verbinden. Die Investition kostete 300 Millionen Dollar und automatisiert den Handel mit bisher ungeahnter Beschleunigung. Andererseits brauchen die Schnellzüge zwischen Chicago und New York heute genauso lange wie im Jahre 1950. Auf absehbare Zeit wird es keine schnelleren Züge geben. Die Gouverneure von Ohio und Wisconsin haben erst kürzlich Subventionsangebote der Regierung in Washington abgelehnt.

Wir können heutzutage unsere iPhones aufrüsten, aber wir können unsere Straßen und Brücken nicht auf dem neuesten Stand halten. Wir haben Breitband erfunden, aber es gelingt nicht, es 35 Prozent der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In die iPads fließen 300 Fernsehprogramme, aber im letzten Jahrzehnt haben zwanzig US-Zeitungen ihre Büros im Ausland geschlossen. Wir verfügen über Wahlmaschinen mit Touch-Screens, aber wir schaffen es nicht, mehr als 40 Prozent der Wählerschaft dazu zu bringen, sich registrieren zu lassen. Trotz der technischen Fortschritte ist unser politisches System stärker polarisiert als jemals seit dem Bürgerkrieg. Es gibt zwar nicht mehr die Selbstzerstörung der McCarthy-Ära oder die Straßenkämpfe der 60er-Jahre, aber jenes Establishment, das die politische Mitte zusammenhält, hat aufgehört zu existieren.

Warum konnte es geschehen, dass die Fähigkeit verloren ging, fundamentale Probleme der Gesellschaft zu lösen? Für mich war das Jahr 1978 jenes Datum, da sich die Dinge fundamental und dramatisch zu ändern begannen. Es war eine Zeit hoher Inflation, hoher Arbeitslosigkeit, hoher Benzinpreise. Das Land reagierte auf das Gefühl des Abstiegs mit einer Absetzbewegung von den sozialen Arrangements, die seit den 30er- und 40er-Jahren bestanden.

Worin bestand dieses Arrangement? Es wird manchmal »the mixed economy« genannt, die Bezeichnung, die ich bevorzuge, ist »middle-class democracy«1. Dies war ein ungeschriebener, Sozialkontrakt zwischen »Labor« (Gewerkschaften, Anm. d. Übers.), Wirtschaft und Regierung – man könnte auch sagen: zwischen den Eliten und den Massen. Der Kontrakt garantierte, dass die Vorteile des Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg breit verteilt wurden – mit viel breiter gefächerter Prosperität als jemals in der Geschichte der Menschheit. Mit der Konsequenz, dass in den 70er-Jahren Spitzenmanager 40-mal mehr verdienten als die am schlechtesten bezahlten Arbeiter. Heute lautet das Verhältnis 400:1.

Arbeitsrecht und Regierungspolitik hielten eine Machtbalance zwischen Arbeitern und Unternehmern, die in eine Spirale immer höherer Löhne und mehr wirtschaftlichem Anreiz mündete. Die Regulierungsbehörden waren stark genug, jene Blasen zu verhindern, die es seitdem alle fünf Jahre gibt. Zwischen der Great Depression und den Reagan-Jahren gab es nicht eine einzige das ganze System erfassende Finanzkrise, weshalb auch jede Rezession viel milder ausfiel als heute. Demgemäß war das Bankgeschäft eine solide Sache – und gleichzeitig langweilig.

Als Ergebnis des breit gestreuten Wohlstands erreichte auch die politische Partizipation ein all-time-high in den Nachkriegsjahren – mit Ausnahme der Schwarzen im amerikanischen Südgürtel, denen teils heute noch der Zutritt zu den Wahlurnen verweigert wird.

Zur gleichen Zeit sahen sich die Eliten des Landes als Wächter der amerikanischen Institutionen und Interessen. Sie waren zwar genauso käuflich, metricious oder gierig wie ihre heutigen Entsprechungen. Aber sie stiegen auf in einer politischen Kultur, die diese Verführungen (traits) nicht glorifizierte. Organisationen wie das Council on Foreign Relations, das Comittee for Economic Development oder die Ford Foundation2 agierten nicht als Interessenvertreter der Reichen, sondern empfanden sich als über den Konflikten stehend.

Wirtschaftsführer, die seinerzeit Roosevelts New Deal genauso vehement bekämpften wie momentan die Amerikanische Handelskammer Obamas Medicare, haben in den 60er-Jahren Lyndon Johnsons Great Society in einzelnen Punkten unterstützt. Jene »National Commission on Technology, Automation and Economic Progress«, die zwei Gewerkschaftsführer, zwei Unternehmer, Whitney Young vom Civil Rights Movement und den Soziologen Daniel Bell umfasste, kam 1966 mit zwei zentralen Empfehlungen an die Öffentlichkeit: Einem garantierten Jahresgehalt3 und einem massiven Job-Trainingsprogramm.

Natürlich barg der Konsens der Nachkriegsjahre eine Menge Ungerechtigkeiten. Wenn man schwarz war oder eine Frau, blieb wenig Raum. Aber die Dinge, die diesem Konsens passierten, kamen von anderswo.

Zuerst aus den Entwicklungen der 60er-Jahre. Oberflächlich ist die Geschichte bekannt: Die Rebellion der Jugend, Kulturkriege und – damit im Zusammenhang – ein massiver Wandel der amerikanischen Sitten. Die 60er-Jahre brachten keine Realisierung propagierter politischer Utopien. Es war mehr: die Befreiung der individuellen Person. Und damit eine Stärkung der middle-class democracy. In den drei Jahrzehnten zwischen 1933 und 1966 entstanden elf Staatsagenturen zum Schutz von Konsumenten, Arbeitern und Investoren. Zwischen 1970 und 1975 waren es noch mehr. Zwölf Agenturen zusätzlich – zum Schutz der Umwelt, der Sicherheit in der Arbeitswelt, der Gesundheitsverwaltung usf. Der Watergate-Präsident Richard Nixon war ein rechtsstehender Liberaler, heute aber würde er links von den eher moderaten Republikanern stehen.

Die zweite Welle gegen diesen Konsens entstand aus der Verlangsamung der ökonomischen Zuwächse in den 70er-Jahren. Unter anderem durch den Ölschock. Die Wirtschaftsführer glaubten, der Kapitalismus würde attackiert. Sie organisierten sich in »lobbying groups« und gründeten Think-tanks, die fortan zu mächtigen Playern in der amerikanischen Politik heranwuchsen. Ein Beispiel ist die Heritage Foundation als Rivalin der Brookings Foundation. Das persönliche Interesse und dessen Durchsetzung wurde zum zentralen Anliegen, der neokonservative Schriftsteller Irving Kristol4 wurde zum einflussreichsten Propagandisten dieser Ideologie. Und was das Lobbying betrifft: 1971 gab es erst 145 Firmen, die sich in Washington von Lobbyisten vertreten ließen. 1982 waren es bereits 2445.

An die Stelle der »alten« Politik trat aber nicht die in den 60er-Jahren erwünschte egalitäre Politik. Stattdessen verloren die Parteien ihren Zusammenhalt, die grass-roots-Bewegungen kamen auf, neue Interessengruppen, direct mails der Lobbyisten – im Endeffekt trat eine Atomisierung der Wählerschaft als TV-Zuseherschaft ein. Fortan mussten Kandidaten, um die TV-Spots zu finanzieren, die Hälfte ihrer Zeit fürs Geldauftreiben verwenden. Das heißt auch, dass die sogenannte Demokratisierung und der Rückzug der Eliten nicht notwendig zu einer Stärkung der einfachen Leute führte.

Im Jahr 1978 kulminierten alle diese Tendenzen. Im Weißen Haus saß ein Demokrat, dessen Partei auch die beiden Häuser des Kongresses kontrollierte. Trotzdem erlitten drei Reformgesetze eine Niederlage, darunter eines für eine gesetzliche Vertretung der Konsumenten, ein anderes, das Unternehmern erschweren sollte, das Arbeitsrecht zu umgehen. Was war die Ursache? Die neue Macht des organisierten Geldes. Unternehmergruppen und Geldleute entfachten eine Lobbying-Kampagne, wie sie Washington noch nie gesehen hatte. Einige dieser Leute, darunter ein neuer Politik-Star namens Newt Gingrich, zogen kurz darauf bei den Mid-term-Elections in Senat und Repräsentantenhaus ein. Zwei Jahre später kam Ronald Reagan mit einem Erdrutsch-Sieg an die Macht. Die politischen Stukturen hatten sich vollkommen verändert. Die Reagan-Revolution war da.

Das organisierte Geld


Die konservative Bewegung und das organisierte Geld ergriffen 1978 diese historische Chance, um einen massiven, eine ganze Generation dauernden Transfer des Reichtums hin zu den reichsten Amerikanern zu beginnen. Dieser Transfer fand in guten und in schlechten Zeiten statt, unter demokratischen und unter republikanischen Präsidenten. Zwei Beispiele: Bob Dole, republikanischer Präsidentschaftskandidat und davor Senator, sagte 1984: »Arme Leute zahlen nichts für Wahlkampagnen.« Charles Schumer, demokratischer Senator von New York, verhinderte 2007, ein Jahr vor Ausbruch der Finanzkrise, dass Hedge Fund Manager per Gesetz eine Einkommenssteuer von 15 Prozent (erheblich weniger als ihre Sekretärinnen) zahlen sollten …

Diese Ungleichheit ist jene Krankheit, die eigentlich allem zugrunde liegt. Wie geruchloses Gas durchdringt das jede Ecke der Vereinigten Staaten und schwächt die Demokratie des Landes. Jahrelang wurde das vonseiten bestimmter Politiker geleugnet. Aber die Tatsachen sprachen für sich. Zwischen 1979 und 2006 stieg das Einkommen der Mittelklasse-Amerikaner (um Steuern bereinigt) um 21 Prozent. Die Ein-Prozent-Spitzenverdiener jedoch erlebten eine Steigerung um 256 Prozent.

Es...

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