STELLEN SIE SICH EINE WELTKARTE VOR. Dann merken Sie gleich, wie sehr sich Ihr Weltbild an Ihrem Wohnort orientiert. Das ist so – wir können nichts dagegen tun. Es passiert ganz automatisch. Die Karte des Universums, die Sie und ich um uns herum zeichnen, lässt ein unbewusstes Navigationssystem entstehen, eine Art Verhaltens-GPS, nach dem wir uns Tag für Tag richten. Unsere innere Karte diktiert uns, ob wir nachts auf der rechten oder linken Bettseite schlafen. Sie schreibt uns unsere Position vor, wenn wir mit einem Freund oder unserem Partner die Straße entlanggehen. Gehen wir auf ihrer rechten oder ihrer linken Seite? Näher am Bordstein oder an der Häuserwand? Auf breiterer kultureller Ebene beeinflusst unsere Herkunft auch unsere Pünktlichkeit. In Australien dürfen Sie beispielsweise davon ausgehen, dass Ihre Gäste mit 30 Minuten Verspätung eintrudeln und häufig noch unangekündigt Freunde im Schlepptau haben. In der Schweiz kommen Gäste stets pünktlich. Verspäten Sie sich um fünf Minuten, sagen Sie vorher Bescheid. In Japan stehen Gäste eine halbe Stunde vor der verabredeten Zeit vor der Tür, in Israel kommen sie 45 Minuten danach.
Unsere innere Karte bestimmt auch, wie wir unser Essen würzen.
In der westlichen Welt haben Salz- und Pfefferstreuer vielfach einen festen Platz in der Küche und auf dem Esstisch. Und wie jeder weiß, sehen sie meist gleich aus: Der Salzstreuer hat drei kleine Löcher, der Pfefferstreuer nur eines. In Asien ist das umgekehrt – in dem Streuer mit drei Löchern ist dort Pfeffer, in dem mit einem Loch Salz. In asiatischen Ländern ist Pfeffer sehr beliebt und es herrscht eine kulturell bedingte Vorliebe für Sojasoße.
Diese und andere Beobachtungen, die ich im Laufe der Jahre in einem Journal festgehalten habe, bewirken, dass ich genau darauf achte, wo bestimmte Gegenstände in Haus und Garten stehen. Gärten können sprechen und Fußwege, Balkone und Briefkästen ebenso. Wände natürlich auch. Meine Mission ist, zu dechiffrieren, was die Pflastersteine, Pfingstrosen, Dekoobjekte und Steinfigürchen über ihre Eigentümer aussagen. Warum hängt ein Gemälde oder Poster hier – und nicht dort? Was verraten die Eulenskulptur, die Medaillen- oder Puppensammlung, die Plüschesel oder die Ahnengalerie an der Wand?
Diese Anhaltspunkte dafür, wer wir wirklich sind, lassen wir jeden sehen. Dabei sind sie universal und im digitalen Zeitalter sogar unauslöschlich. Ich habe ein Phänomen entdeckt, dass diese beiden Eigenschaften zusammenbringt.
Noch vor zehn Jahren, als sich Smartphones und Tablets massenhaft verbreiteten, wurde deutlich, dass Männer und Frauen über 40 Probleme mit der Verwendung von Touchscreens hatten. Sie waren gewohnt, auf Tasten zu drücken und Schalter, Hebel oder Drehknöpfe zu betätigen. Als sie aufwuchsen, war es noch nötig, fester zuzupacken – manchmal sogar richtig kräftig. Heute ist dagegen nur ein leichtes Wischen erforderlich. An Flughäfen in aller Welt stehen ein bis zwei Generationen von Menschen hilflos vor den Touchscreen-Schaltern und wissen nicht, wie sie funktionieren oder welche Taste sie drücken müssen. Das fünfjährige Kind daneben bedient das Gerät dagegen mit virtuoser Leichtigkeit. Die Zahl der Fingerabdrücke auf dem Display eines Handys oder Tablets lässt unschwer Rückschlüsse auf das ungefähre Alter seines Besitzers zu.
Die Umstellung von Knöpfen und Tasten auf eine Welt der Touchscreens hat mehrere Effekte. Zunächst verlieren wir durch Computer und Touchscreen-Notiz-Apps die Fähigkeit, Dinge handschriftlich festzuhalten. Zweitens haben immer mehr Teenager eine Druckstelle am kleinen Finger, weil sie damit ihr Handy halten. Drittens habe ich beobachtet, dass für uns als Spezies gilt, dass unsere Hände schwächer werden. Geben Sie mal einem Schüler oder Studenten die Hand – dann merken Sie gleich, wie schwach ihr Händedruck ist. Unter Männern verliert unter Umständen an Bedeutung, was ein Händedruck früher subtil vermittelte – durch Stärke, Trockenheit, Feuchtigkeit, ja, allein schon durch die Größe der Hand.
Der kollektive Kraftverlust unserer Hände ist auch den Herstellern schnelldrehender Konsumgüter nicht entgangen – billiger Getränke und Produkte, die rasch abverkauft werden sollen wie Erfrischungsgetränke, Fertignahrungsmittel und rezeptfreie Medikamente. Hauptsächlich aus diesem Grund produzieren sie Flaschen und Autotüren, die leichter zu öffnen sind, und Küchenschubladen, die besser gleiten.
Unsere digitalen Gewohnheiten beeinflussen auch, wie wir essen. Ich bin in Dänemark aufgewachsen. An heißen Tagen aßen meine Freunde und ich unser Waffeleis immer gleich. Erst leckten wir das Eis kreisförmig, wie um es in der Waffel einzuschließen. Wir leckten, bis das Eis alle war, und aßen dann die Waffel – von unten nach oben oder von oben nach unten.
Lässt sich unsere heutige Kultur zum Teil durch das Bedürfnis nach sofortigem Zugriff definieren, so überrascht es nicht, wenn sich der Wunsch nach unmittelbarer Befriedigung auch auf unsere Eistüten erstreckt. Bei meinen Reisen um die Welt achte ich gezielt darauf, wie Kinder, die in einem digitalen Umfeld aufwachsen, ihr Eis essen. Sie lassen sich nicht mehr so viel Zeit. Sie kennen keine »Vorfreude« mehr. Statt drumherum zu lecken, beißen sie von oben in ihr Eis hinein. Sie sind es gewohnt, dass Websites rasch laden und Textnachrichten ebenso wie E-Mails in Sekunden ankommen. Sie wollen ihr Eis gleich.
Wie wird sich die Abwesenheit von Vorfreude auf die jüngere Generation von heute und morgen auswirken? Romantische Vorstellungen vom Konzept des wochen- oder auch mal monatelangen Wartens, bis ein Produkt im Laden oder in der Post ist, wie es die Menschen in den 1970er- und -80er-Jahren kannten, sind sehr verbreitet. Heute bekommen wir alles sofort – und dann? Weniger Vorfreude bedeutet auch weniger Befriedigung. Ich kann nicht umhin, mich zu fragen, ob so eine Eistüte den Kindern heute noch so viel Freude bereitet wie vor 30 oder 40 Jahren. Ich bezeichne die jungen Teenager und Heranwachsenden von heute als die Steckergeneration oder auch als Screenager, denn sie sind ständig auf der Suche nach der nächsten Steckdose. Ohne Strom zu sein ist für sie angstbesetzt. Es ist wie die Verbannung auf eine einsame Insel, isoliert von Freunden und vielleicht gezwungen, sich ohne Handy mit ihrem eigenen Selbst zu beschäftigen.
Bemerkenswert ist auch der Einfluss von Smartphones auf die Dauer einer Mahlzeit im Restaurant. Ein New Yorker Restaurant stellte auf Craigslist anonym eine Studie ein, die auf der Analyse von Aufzeichnungen seit Anfang des Jahrtausends beruhte. Demnach verbrachten die Gäste 2004 im Schnitt 65 Minuten am Tisch. Dieser Wert stieg auf 1 Stunde 55 Minuten im Jahr 2014. 2004 baten drei Gäste einer 45-köpfigen Untersuchungsgruppe um einen anderen Sitzplatz. Die Gruppe brauchte im Schnitt acht Minuten, um zu bestellen. Die georderten Vorspeisen standen innerhalb von sechs Minuten auf dem Tisch. Zwei der 45 Gäste monierten, das Essen sei zu kalt. Der durchschnittliche Gast verließ das Lokal fünf Minuten nach Begleichung der Rechnung.
Zehn Jahre später ist das alles anders. Heute bitten 18 von 45 Gästen im Restaurant um einen anderen Tisch. Danach steht ihr digitales Leben im Vordergrund. Die Speisenden zücken ihre Handys und suchen die nächste Wi-Fi-Verbindung. Sie googeln oder prüfen, ob ihr letzter Facebook-Eintrag schon »gelikt« wurde. Dabei vergessen sie oft, dass die Karte schon auf dem Tisch liegt. Kommt der Kellner, um die Bestellung aufzunehmen, bitten die meisten um Bedenkzeit. 21 Minuten später sind sie bereit, zu ordern. 26 Gäste brauchten drei Minuten, um ihr Essen zu fotografieren. Sie machten 14 Schnappschüsse voneinander beim Essen. Sind diese verwackelt oder wenig schmeichelhaft, wird noch einmal fotografiert. Etwa die Hälfte aller Gäste bat eine Servicekraft, ein Gruppenfoto zu machen – oder besser gleich mehrere. Die zweite Hälfte ließ ihr Essen zurückgehen, weil es zu kalt war (war es definitiv, weil sie sich ja die letzten zehn Minuten mit ihren mobilen Geräten beschäftigt hatten, statt zu essen). Ist die Rechnung bezahlt, verlassen sie das Lokal heute eine Viertelstunde später als 2004. Beim Gehen waren acht Gäste so abgelenkt, dass sie mit einem anderen Gast, einem Kellner, einem Tisch oder Stuhl zusammenstießen.
Ein Unterschied? Ja, und zwar einer, der derzeit in den USA besonders deutlich zutage tritt. Die kulturellen Übertreibungen, denen ich mein ganzes Arbeitsleben lang auf der Spur bin, ergeben sich sowohl innerhalb einer Gesellschaft als auch zwischen Generationen. In jeder Gesellschaft schlägt das Pendel mehr oder minder vorhersagbar erst in die eine und dann in die andere Richtung aus. Generell folgt in den USA eine demokratische Regierung auf eine republikanische. In Großbritannien gewinnen nach einer...