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E-Book

Die Abstiegsgesellschaft

Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne

AutorOliver Nachtwey
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783518736272
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs war eines der zentralen Versprechen der »alten« BRD - und tatsächlich wurde es meistens eingelöst: Aus dem Käfer wurde ein Audi, aus Facharbeiterkindern Akademiker. Mittlerweile ist der gesellschaftliche Fahrstuhl stecken geblieben: Uniabschlüsse bedeuten nicht mehr automatisch Status und Sicherheit, Arbeitnehmer bekommen immer weniger ab vom großen Kuchen. Oliver Nachtwey analysiert die Ursachen dieses Bruchs und befasst sich mit dem Konfliktpotenzial, das dadurch entsteht: Selbst wenn Deutschland bislang relativ glimpflich durch die Krise gekommen sein mag, könnten auch hierzulande bald soziale Auseinandersetzungen auf uns zukommen, die heute bereits die Gesellschaften Südeuropas erschüttern.

Oliver Nachtwey, geboren 1975, ist Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel.

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Leseprobe

Einleitung


Hauptsache ruhig und sicher: Nach den beruflichen Zielen gefragt, gab im Jahr 2014 eine(r) von drei Studierenden an, eine Festanstellung im öffentlichen Dienst anzustreben. Avantgardistische Berufe, risikoreiche Unternehmungen und kreative Selbstständigkeit verlieren für Studierende an Attraktivität. Der öffentliche Dienst erscheint ihnen hingegen als einer der wenigen Orte, an denen Beschäftigungsstabilität, Sicherheit und kalkulierbarer Aufstieg zu erwarten sind. Die geradezu spießige Berufsperspektive der jungen Akademikerinnen und Akademiker ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einer Gesellschaft, in der die kollektive Angst vor dem sozialen Abstieg allgegenwärtig zu sein scheint. Wie konnte es dazu kommen?

Das historische Gedächtnis ist häufig kurz, und deshalb vermögen sich nur wenige daran zu erinnern, dass es die deutsche Wirtschaft war, die noch 1999 als »Sick Man of the Euro« galt; die Arbeitslosenquote erklomm damals immer neue Höhen. Heute stellt sich die Realität anders dar: In Europa insgesamt liegt die Arbeitslosigkeit auf Rekordniveau; in der Bundesrepublik hingegen hat es nie mehr Beschäftigte gegeben als im Jahr 2016 und seit der Wiedervereinigung nie so wenige Arbeitslose. Während die europäischen Staaten im Strudel der Austerität und der Wirtschaftskrise versanken, stemmte sich die deutsche Wirtschaft gegen den Trend. Aber das ist nur wenig mehr als ein schöner Schein. Deutschland ist genauso Teil der »Krise des demokratischen Kapitalismus« (Streeck 2013) wie die anderen europäischen Länder.

In diesem Buch geht es am Beispiel der deutschen Entwicklung um einen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel, der sich in den meisten westlichen kapitalistischen Staaten vollzieht. Aus der Gesellschaft des Aufstiegs und der sozialen Integration ist, so die Hauptthese, eine Gesellschaft des sozialen Abstiegs, der Prekarität und Polarisierung geworden.

Seit dem Wirtschaftswunder galt Deutschland als eines der Länder, in denen Armut nur eine marginale Rolle spielte. Angesichts der Euphorie über »die neue Vollbeschäftigung«, wie sie in Büchern und Tageszeitungen[1] verkündet wird, übersieht man allerdings leicht, wie groß die soziale Ungleichheit hierzulande geworden, wie stark der Niedriglohnsektor gewachsen ist und die Prekarität zugenommen hat. Unter der Oberfläche einer scheinbar stabilen Gesellschaft erodieren seit Langem die Pfeiler der sozialen Integration, mehren sich Abstürze und Abstiege.

Die Literatur ist ein sensibler Seismograf für diesen Wandel, werden in ihr doch seit je auch die Sehnsüchte nach dem sozialen Fortkommen protokolliert. Ulla Hahn zeichnet in ihrer Romantrilogie über das Leben von Hildegard (Hilla) Palm – Das verborgene Wort (2001), Aufbruch (2009) und Spiel der Zeit (2014) – mit feinem Strich ein Sittengemälde der Aufstiegsgesellschaft in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Hahn erzählt die Geschichte ihrer Protagonistin, in der sich die Liebe zur Literatur und der Drang zu einem selbstbestimmten Leben treffen. Hilla ist außergewöhnlich begabt, kann eine höhere Schule besuchen und – ungewöhnlich für »dat Kenk vun nem Prolete« und ein Mädchen vom Lande – ein Studium aufnehmen. Sie erfährt die groben wie die feinen Unterschiede zwischen sich und jener Klasse, in der selbst die unbegabten Söhne »Stammplätze« in den höheren sozialen Positionen erhalten. Auch wenn ihre Familie ambitionslos in einfachen Verhältnissen verharrt, gelingt ihr ein für diese Zeit exemplarischer Aufstieg durch Bildung.

Erzählt die Literatur von der sozialen Gegenwart, schildert sie Geschichten des Scheiterns, der Unsicherheit, Abstiege und Abstürze. In dem Tatsachenroman Möbelhaus (2015) rekapituliert ein unter dem Pseudonym Robert Kisch schreibender ehemaliger Journalist seinen eigenen sozialen Abstieg von der Edelfeder zum Möbelverkäufer. Es ist die Geschichte eines langen Abrutschens, in dieser Form vielleicht einzigartig. Aber sie zeugt auch vom Wandel einer ganzen Branche, die noch vor wenigen Jahren berufliches Prestige, selbstbestimmte Tätigkeiten und gute Einkommen versprach. Diese Welt des Journalismus gibt es so nicht mehr – oder allenfalls noch für wenige. Möbelhaus ist nicht das einzige Beispiel. In ihrem Erfahrungsbericht Saisonarbeit (2014) schildert die Autorin Heike Geißler, wie sie vom Schreiben nicht mehr leben konnte und sich gezwungen sah, beim Versandhändler Amazon zu arbeiten. Ebenfalls 2014 veröffentliche Thomas Melle seinen Unterschichtsroman 3000 Euro. Auch in Katharina Hackers Die Habenichtse (2006), Ernst-Wilhelm Händlers Wenn wir sterben (2002), Rainald Goetz' Johann Holtrop (2012), Wilhelm Genazinos Fremde Kämpfe (1984) und Mittelmäßiges Heimweh (2007), Georg M. Oswalds Alles was zählt (2000) oder schließlich Silke Scheuermanns Die Häuser der anderen (2012) wird vom Abrutschen aus der Sicherheit erzählt.

Literatur ist keine Gesellschaftsdiagnose, aber häufig weiß sie trotzdem viel Wahres über die Realität zu berichten, von der aus wissenschaftlicher Perspektive im Folgenden die Rede sein wird.

 

***

 

Beim vorliegenden Buch handelt es sich um den Versuch, klassischen Fragen der Soziologie nachzugehen: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Was hält Gruppen und Individuen zusammen, was treibt sie auseinander? In welchem Zusammenhang stehen Ungleichheit, Herrschaft, gesellschaftliche Integration und soziale Konflikte? Viele der hier mit soziologischer Leidenschaft vorgetragenen Thesen sind in gewissem Sinne riskant, da ihnen in einigen Bereichen noch die empirische Absicherung fehlt. Zudem wurden sie im Wesentlichen am Beispiel eines einzelnen Nationalstaats entwickelt, inter- und transnationale Aspekte werden nur am Rande berührt (so findet sich am Ende des Bandes eine kursorische Skizze europäischer Trends). Im Mittelpunkt steht der Versuch, Entwicklungen der letzten Jahrzehnte historisch vergleichend zu entfalten und damit zu verstehen (vgl. Mills 2000 [1959]).

Das erste Kapitel handelt zunächst von einer mittlerweile vergangenen gesellschaftlichen Konstellation: der Blütezeit der sozialen Moderne. In der sozialen Moderne gedieh der Sozialstaat, alte Klassenschranken wurden abgetragen, soziale Mobilität und Bildungschancen nahmen zu. Vor allem Kinder aus Arbeiterklassenfamilien erreichten ein bislang nicht gekanntes Niveau individueller Entfaltungsmöglichkeiten. Ulrich Beck prägte für diese Entwicklung den Begriff des kollektiven »Fahrstuhleffekts« (Beck 1986). Aus Proletariern wurden Bürger – allerdings nur eingeschränkt Bürgerinnen, denn in der sozialen Moderne herrschte das Modell des männlichen Familienernährers vor.

Die Konstellation der sozialen Moderne verlor seit den siebziger Jahren nach und nach an Prägekraft, vor allem weil der Kapitalismus (wie in Kapitel zwei gezeigt wird) nicht mehr die phänomenalen Wachstumsraten des Goldenen Zeitalters erreichte. Nach 1973 begann der lange Niedergang der westlichen Ökonomien, eine Krise, für die sie bis heute keine Lösung gefunden haben. Alle Anstrengungen – ob nun keynesianische Programme, neoliberale Deregulierung oder eine Flut billigen Geldes – haben nichts gefruchtet. In der Tendenz, so die Diagnose in Kapitel zwei, entsteht ein Postwachstumskapitalismus. Die Wirtschaftskrise infolge der Finanzkrise ist noch lange nicht überwunden, trotz massiver Interventionen der Nationalstaaten und Zentralbanken. Im Gegenteil: Es droht eine globale Stagnation.

Mit der Dauerschwäche der Wirtschaft schwanden die Ressourcen und der Wille zur sozialen Integration. Öffentliche Unternehmen gerieten unter Privatisierungsdruck, der Sozialstaat wurde umgebaut, die sozialen Bürgerrechte wurden reduziert. In nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen – das ist die Signatur unserer Zeit – implementierte man Markt- und Wettbewerbsmechanismen. Am Ende wurden viele Errungenschaften der sozialen Moderne einer erneuten, aber diesmal regressiven Modernisierung unterzogen (Kapitel drei). Prozesse regressiver Modernisierung verknüpfen häufig gesellschaftliche Liberalisierungen mit ökonomischer Deregulierung. Horizontal, zwischen Gruppen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen, zwischen den Geschlechtern und in bestimmten Bereichen sogar zwischen den Ethnien, wird die Gesellschaft gleichberechtigter und inklusiver, vertikal geht diese Gleichberechtigung mit größeren ökonomischen Ungleichheiten einher.

Ulrich Beck hat in seinem Buch Risikogesellschaft diagnostiziert, die alte Industriegesellschaft verabschiede sich »auf den leisen Sohlen der Normalität, über die Hintertreppe der Nebenfolge von der Bühne der Weltgeschichte« (Beck 1986, S. 15; Hervorhebung im Original). Abgesehen von der Tatsache, dass sich die Industriegesellschaft bis heute – trotz Internet und Dienstleistungsgewerbe – immer noch nicht vollständig verabschiedet hat, kann man für die Abstiegsgesellschaft folgenden Befund formulieren: Sie ist allmählich, auf leisen Sohlen und über die Hintertreppe eingetroffen. Die Vordertreppe hat sie dabei noch gar nicht erreicht. Gewiss, das steigende Ausmaß von Armut, Prekarität und sozialer Ungleichheit wird in der politischen Öffentlichkeit mittlerweile immer häufiger thematisiert, die neuen Ungleichheiten werden bisher aber nicht...

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