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Habenwollen

Wie funktioniert die Konsumkultur?

AutorWolfgang Ullrich
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783104903309
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Wie leben wir mit verschiedenen Produkten und warum wollen wir sie überhaupt besitzen? Wer und was wirkt bei ihrer Entwicklung alles mit? Wolfgang Ullrich zeigt, dass sich unsere Konsumkultur verändert hat und was wir dadurch über unsere Werte und Wünsche erfahren können.

Wolfgang Ullrich, Jahrgang 1967, studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Germanistik. Promotion 1994 mit einer Arbeit über das Spätwerk Martin Heideggers. Seitdem freier Autor, Hochschuldozent und Unternehmensberater. Lebt in München. Zahlreiche Publikationen, insbesondere zur Geschichte und Kritik des Kunstbegriffs, über moderne Bildwelten sowie Wohlstandsphänomene.

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Leseprobe

Einleitung


An einem Abend im Dezember 2003 fand in einer Wohnung im Münchner Westend ein Gespräch über ›Dingkultur‹ statt. Gastgeber war Rüdiger Belter, der seine Räume seit einigen Jahren auch als »mini salon« nutzt und Künstlern für Ausstellungen zur Verfügung stellt. Zwischen Bücherregalen und Aktenordnern (Belter ist sonst als selbständiger Kaufmann tätig), aber ebenso in der Küche und sogar gelegentlich im Schlafzimmer können die Besucher dann Gemälde, Zeichnungen, Installationen oder einen Videofilm betrachten.

Schon etliche Künstler hatten sich vom ungewöhnlichen Ausstellungsort herausgefordert gefühlt und eine Arbeit oder Aktion entwickelt, die auf Elemente der Wohnung Bezug nahm. Doch noch niemand war so weit gegangen wie Stephanie Senge, die Belter diesmal eingeladen hatte und deren Arbeit sich meist mit Konsum-Phänomenen beschäftigt. Sie gab ihrer Ausstellung den Titel »Hurra, wir ziehen zusammen!« – und sie nahm das ganz wörtlich. Die Besucher fanden die Wohnung also ziemlich voll vor. Im Badezimmer hatten Cremes, Lippenstifte und Haarklammern das Terrain weitgehend erobert, im Schlafzimmer stapelten sich Kartons und ausgepackte Kleidung, und im Küchenschrank gab es auf einmal alles doppelt: zwei Typen von Teetassen und Tellern, sogar Eierbecher in zwei Designs, einmal aus weißem Porzellan, einmal in Pink und aus Plastik. Und nicht nur bei den Eierbechern ahnte man sofort: Hier treffen sehr unterschiedliche Dingwelten aufeinander. Hätte man nicht gewußt, daß es sich um eine Kunstaktion handelte, hätte man sogar besorgt gefragt: Kann das gut gehen? Wie passen zwei Menschen zusammen, die an so verschiedenen Formsprachen Gefallen finden?

Stephanie Senge: Installation »Hurra, wir ziehen zusammen!«, 2003

Hinter diesen Fragen steht die Überzeugung, daß in den Dingen, mit denen sich Menschen umgeben, ihre Persönlichkeit zum Ausdruck kommt. Ein Porträt zu zeichnen, war aber auch das Ziel der Ausstellung. Stephanie Senge wollte darauf reagieren, daß Rüdiger Belter jedesmal, wenn er seine Privatwohnung als Ausstellungsraum öffnet, ebenso seine Dingwelt zur Betrachtung und Beurteilung freigibt: Die Besucher schauen nicht nur Kunst an, sondern machen sich aufgrund dessen, was in der Wohnung steht, gleichermaßen ein Bild vom Kurator, der hier lebt. Was sonst nebenbei oder eher verstohlen passiert, sollte nun also direkt zum Thema werden: Indem die Künstlerin mit ihren Sachen anrückte, so als wollte sie tatsächlich einziehen, erhob sie zugleich die Sachen des Kurators zu Ausstellungsstücken. Die Differenzen zwischen den zwei Lebenswelten inszenierte sie an vielen Stellen der Wohnung eigens und steigerte sie zum offenen Kontrast; aus den Dingkulturen fertigte sie ein Doppelporträt der beiden Protagonisten.

An jenem Abend nun, so war es angekündigt, wollten Stephanie Senge und Rüdiger Belter sich über ihre Dinge unterhalten. Konsumgewohnheiten sowie Gründe dafür, etwas haben zu wollen, standen zur Debatte. Dazu waren die beiden bereits vorab gemeinsam zum Einkaufen gegangen, bis sie schließlich, unter anderem, zwei Spaghettipackungen, zwei Joghurts, zwei Flaschen mit Bademittel und zwei Tafeln Schokolade in ihrem Korb hatten. Die Einkäufe breiteten sie auf einem Tisch aus und ergänzten sie um Gegenstände aus ihrem Hausrat: Flaschenöffner, Löffel, Hausschuhe, Zahnbürste.

Ein Moderator ließ das Publikum zuerst raten, wem wohl jeweils was gehörte. Außer bei den Spaghetti gab es keine unterschiedlichen Meinungen – und alle Zuordnungen stimmten. Das braucht auch nicht zu verwundern, handelte es sich doch nicht nur um eine Frau und einen Mann, deren Produktwelten hier zusammentrafen, sondern zugleich um zwei Menschen mit verschiedenen Berufen, einem ausgeprägten Geschmack und individuellen Interessen. Zudem war klar, daß beide für die Ausstellung noch etwas plakativer auf ihren Lebensstil Wert gelegt hatten als sonst. Dennoch verdient festgehalten zu werden, daß das eigene Naturell offenbar auch bei Joghurt und Zahnbürsten ausgelebt werden und man sich Dritten gegenüber eindeutig zu erkennen geben kann. Es gibt nicht nur jeweils diverse Fabrikate und Marken zur Auswahl, sondern diese unterscheiden sich auch in ihrem Formklima oder Eigenschaftsdesign hinreichend stark, um zu verschiedenen Konsumenten zu passen. Bis hin zu den preiswertesten und scheinbar banalsten Produkten reicht das Bemühen der Hersteller, potentielle Kunden nicht nur mit einem Gebrauchswert oder mit einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis zu überzeugen, sondern ihnen dank der Warenästhetik eine Identifikationsmöglichkeit zu bieten.

So ist Rüdiger Belter wichtig, daß die Dinge in seiner Wohnung dezent sind; sein Mißtrauen gilt allem, was bunt und formverliebt auftritt. Was er kauft, soll kein starkes Eigenleben entfalten und keinen Raum über den hinaus einfordern, den es ohnehin besetzt. Doch dürfen die Dinge andererseits nicht belanglos werden; vielmehr soll ihre entschiedene Schlichtheit dazu beitragen, daß man sich in der Wohnung ruhig und innerlich geordnet fühlt. Belter geht so weit, daß er die Etiketten von Plastikflaschen ablöst, um nicht durch diverse Schriften oder Bildchen abgelenkt zu werden. Sogar der Stiel seiner Zahnbürste ist grau. Entsprechend läßt er sich im Laden auch nicht von einer peppigen Dekoration beeindrucken und zum Kauf von etwas hinreißen, was er nicht auf seinem Zettel stehen hat. Spontankäufe gibt es bei ihm nicht. Vielmehr kann es bei wichtigeren Anschaffungen sogar lange dauern, bis Belter sich für ein Fabrikat entscheidet. Abgesehen von der ästhetischen Nachhaltigkeit ist ihm dann die Funktionalität und praktikable Handhabung wichtig. Ökologische Aspekte und die Produktionsbedingungen spielen ebenfalls eine große Rolle. Um sich gut zu informieren, wälzt er Prospekte, sucht verschiedene Läden auf, prüft Alternativen. Selbst bei Alltäglicherem wie einem Shampoo oder einer Tafel Schokolade überlegt er genau. Hat er sich aber erst einmal für eine Marke entschieden, bleibt er ihr, sofern sie sich nicht ändert, über Jahre hinweg treu. Seine Entscheidungen sind also bereits getroffen, bevor er zum Einkaufen geht.

Entstand der Eindruck, daß Belter sich nur wohl fühlt, wenn er für jedes Ding, das er um sich hat, einen rationalen Grund angeben, seinen Konsum also vernünftig legitimieren kann, spielen für Stephanie Senge Einkaufszettel oder Markentreue keine Rolle. Vielmehr begibt sie sich so vor die Regale eines Supermarkts, wie andere Leute morgens vor ihren Kleiderschrank treten: Sie weiß vorher nicht, wofür sie sich entscheidet. Vielmehr läßt sie sich offen und neugierig auf das ein, was sie vorfindet. Statt des Gebrauchswerts gibt dabei oft die Farbe, die Form, die Verpackung oder ein Slogan den Ausschlag für sie, etwas in den Einkaufswagen zu tun. Die Zahnbürste, die sie damals gerade benutzte, hatte die Form einer Seejungfrau und war neckisch bemalt. Im Joghurtregal wählte sie beim gemeinsamen Einkauf mit Belter einen exotischen Fruchtjoghurt mit einem grellen Bild auf dem Aludeckel, der ›Fitness‹ versprach.

Senges Entscheidungen ergeben sich jedoch daraus, daß sie in einem Supermarkt immer auch Anregungen und Material für ihre Installationen sowie andere Kunstprojekte sucht. So kauft sie Waren wegen einer bestimmten Eigenschaft oder Aussage: In ihrem Atelier stapeln sich Produkte, die mit Vokabeln wie ›Balance‹, ›Happiness‹ oder ›Gourmet‹ auf sich aufmerksam machen und die Senge als Zeugen des Zeitgeists begreift. Oder sie sammelt Artikel, die als ›limited edition‹ gekennzeichnet sind. Häufig macht sie reine Farbeinkäufe oder interessiert sich für Produkte aus einem speziellen Land, aus denen sie dann Stilleben zusammenstellt und fotografiert. Die Grenzen zwischen privatem Konsum und künstlerisch motivierten Kaufentscheidungen sind bei ihr fließend, da manche der Produkte, die sie im Blick auf eine Installation oder Fotoserie erwirbt, von ihr auch zu Hause benutzt werden. Je nachdem, wann man sie besucht, vermittelt ihre Wohnung also einen ganz anderen Eindruck. In ihr finden sich die Erträge und Reste diverser Konsum-Exkursionen – Dokumente eines in aller Spontaneität ebenfalls sehr bewußten Einkaufens.

Rüdiger Belter und Stephanie Senge kaufen also nur, was sie wirklich haben wollen. So unterschiedlich die Kriterien sein mögen, nach denen sie ihre Auswahl treffen, so sehr führt ihr jeweiliger Konsumstil doch vor Augen, was für eine intensive und individuelle Auseinandersetzung das differenzierte Warenangebot erlaubt. Da so viele Dinge eine deutliche Formensprache sprechen, muß man sich sogar spezifisch auf sie einlassen. Selbst der Konsum simpelster Produkte fordert schon klare Entscheidungen. Belter und Senge bewiesen ihre Reflektiertheit dadurch, daß sie an jenem Abend bei jedem Ding mühelos und detailliert erklären konnten, warum sie es gekauft hatten. Nach und nach entstand für die Gäste des »mini salon« somit ein genaues Bild nicht nur von den Konsumgewohnheiten der beiden Protagonisten, sondern von ihrer gesamten Persönlichkeit, ihrem Temperament, ihrer Lebenseinstellung. Das in der Ausstellung angelegte Doppelporträt konkretisierte sich.

Wer den beiden zuhörte, konnte sogar den Eindruck gewinnen, das Konsumieren sei regelrecht eine Profession, eine auf Sensibilität, Gestaltungswillen und Kreativität angewiesene Tätigkeit, bedeute also viel mehr als das Beschaffen und Verbrauchen von Gütern: Wer nicht sorgfältig überlegt, was zu ihm paßt, vermittelt ein schiefes Bild der eigenen Person oder fühlt sich unwohl inmitten von Dingen, die zu Fremdkörpern werden. Mancher mochte an jenem Abend auch Zweifel hinsichtlich des eigenen Konsumverhaltens bekommen haben:...

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