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Deutschland als Objekt alliierter Politik und die Anfänge der Bundesrepublik Deutschland 1945–1955
3.1 Alliierte und deutsche Debatten über die Deutsche Frage
Mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 7. Mai 1945, die zwei Tage später auf sowjetischen Wunsch in Berlin-Karlshorst noch einmal wiederholt wurde, endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Anders als 1918, als nach dem Waffenstillstand das Reich als politische Einheit bestehen blieb, gab es nach der Berliner Erklärung der vier alliierten Militärgouverneure vom 5. Juni 1945 keinen deutschen Staat mehr. Es war ein völkerrechtliches Novum, noch nie war ein Staat gezwungen worden »bedingungslos« zu kapitulieren, wie die in Casablanca zwischen Winston Churchill und Franklin Delano Roosevelt im Januar 1943 vereinbarte Formel hieß. Die »oberste Regierungsgewalt« in Deutschland ging damit auf die vier Siegermächte über. Dies hatte sich schon zuvor angedeutet. Im Oktober 1943 war auf der Außenministerkonferenz in Moskau eine »Europäische Beratende Kommission« mit Sitz in London eingerichtet worden, in deren Rahmen die Repräsentanten der Sowjetunion, der USA und Großbritanniens über die Zukunft Deutschlands verhandelten. Im Sommer und Herbst 1944, als sich nach der Landung der Westalliierten in der Normandie und der erfolgreichen Sommeroffensive der Roten Armee die Niederlage Deutschlands abzuzeichnen begann, fielen in diesem Gremium grundlegende Entscheidungen für die künftige Gestalt Deutschlands. Sie wurden im Wesentlichen auf der Konferenz der »Anti-Hitler-Koalition« in Jalta im Februar 1945 zum Beschluss erhoben. Die »Großen Drei« bestätigten noch einmal ihre Absicht Deutschland vollständig militärisch zu besetzen, die Forderung nach militärisch-politischer Totalkapitulation des Landes, seine Zerstückelung (ohne dass dies präzisiert wurde) und die Aufteilung in Besatzungszonen für die (ebenfalls unbestimmte) Zeit der militärischen Besatzung. Zudem sollte Deutschland entmilitarisiert und entnazifiziert werden. Ein alliierter »Kontrollrat« mit Sitz in Berlin sollte für alle Besatzungszonen verbindliche Entscheidungen fällen und somit als Regierung für Deutschland dienen. Allerdings wurde schon jetzt klar, dass es im Falle von Meinungsverschiedenheiten im alliierten »Kontrollrat« den Militärgouverneuren der Besatzungszone möglich sein sollte, eigene Entscheidungen zu treffen. Damit war von Beginn an die Möglichkeit einer nicht-einheitlichen Deutschlandpolitik gegeben, was angesichts der politisch-gesellschaftlichen Gegensätze zwischen den Partnern der »Anti-Hitler-Koalition« schon zu diesem Zeitpunkt nicht unwahrscheinlich war. Schon unmittelbar nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht entstanden erhebliche Meinungsverschiedenheiten über die Frage der Reparationen zwischen den Siegermächten. Vor allem die Sowjetunion drängte darauf, die Reparationssumme auf 20 Milliarden Dollar zu fixieren, wovon die Hälfte Moskau zustehen sollte. Die Westalliierten reagierten sehr zurückhaltend und waren nicht bereit, der Sowjetunion Reparationen aus ihren jeweiligen Besatzungszonen zuzugestehen. Auch wenn auf der Potsdamer Konferenz ein Kompromiss gefunden wurde, zeigten sich in der Reparationsfrage weitere Risse in der »Anti-Hitler-Koalition«. Angesichts der gemeinsamen Verantwortung der Siegermächte für Deutschland war dessen Zukunft 1945 gänzlich ungewiss. Deutschland war vom Subjekt der Politik zum Objekt internationaler Verhandlungen geworden.
Auch die Besatzungspolitik der vier Mächte (Frankreich war auf der Konferenz von Jalta als vierte Besatzungsmacht akzeptiert worden) war keineswegs einheitlich. Das oberste Ziel der französischen Politik war die Sicherheit vor Deutschland. Über die Frage, wie diese zu erreichen sei, gab es jedoch keine prinzipielle Einigkeit. Zwei Grundkonzeptionen standen einander gegenüber, die, beide schon während der Kriegsjahre entwickelt, eine Lösung für die Question Allemande suchten. Die erste strebte eine enge wirtschaftliche und gesellschaftliche Verflechtung Frankreichs und Deutschlands in einem europäischen Kontext an. Schon in der französischen Exilregierung (Comité Français de Libération Nationale, CFLN) waren diese Vorstellungen von Jean Monnet und anderen seit 1943 entwickelt worden. Monnet schlug die Aufteilung Deutschlands in verschiedene Teilstaaten vor, die jedoch als gleichberechtigte Mitglieder in eine europäische Organisation aufgenommen werden sollten. Die neuen deutschen Staaten dürften keinesfalls – wie das Reich 1918 – diskriminiert werden, weil sie sich sonst erneut zu einem deutschen Nationalstaat im Zentrum Europas vereinigen würden. Ähnliche Lösungen wurden von Hervé Alphand, René Mayer und dem Chef der französischen Résistance-Gruppe Combat, Henri Frenay, angestellt. Dem stand eine zweite Konzeption französischer Deutschlandpolitik gegenüber, die stärker in der Tradition der Machtpolitik des 19. Jahrhunderts verwurzelt war. Deutschland sollte in diesem Konzept durch langfristige militärische und politische Bündnisse Frankreichs mit den anderen europäischen Großmächten, insbesondere der Sowjetunion und Großbritannien, kontrolliert werden. Der erste Regierungschef des befreiten Frankreich, Charles de Gaulle, und Außenminister Georges Bidault waren die Hauptvertreter dieser Konzeption, die sie mit dem französisch-sowjetischen Beistandspakt vom 10. Dezember 1944 umzusetzen gedachten. Dem folgte am 4. März 1947 eine französisch-britische Allianz gegen eventuelle deutsche Aggressionen. Da de Gaulle noch 1945 von einem raschen Rückzug der USA aus Europa ausging und Großbritannien weiterhin als Seemacht mit globalen Interessen sah, wäre Frankreich in dieser Konzeption unweigerlich die Führungsrolle in Westeuropa und die Mittlerfunktion zwischen den Weltmächten Großbritannien/USA auf der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite zugefallen. Die Gestalt Deutschlands blieb bei de Gaulle unklar: Mal sprach er von »Zersplitterung«, mal von der »Dezentralisierung« Deutschlands. Die Länder (mit Ausnahme Preußens) sollten wiederhergestellt und durch eine lose »Konföderation« miteinander verbunden werden. Diese »doppelte Deutschlandpolitik« (Dietmar Hüser) prägte auch die französische Besatzungspolitik in Deutschland. Einerseits bemühte sich Frankreich alle Zentralisierungstendenzen in Deutschland grundsätzlich zu unterbinden und isolierte die französische Zone daher schnell von jenen der Briten und Amerikaner. Die französische Besatzungspolitik wurde von der deutschen Bevölkerung vor allem als repressiv wahrgenommen und unter den Alliierten galten die Franzosen bald als Hindernis für eine konstruktive Deutschlandpolitik. Andererseits bemühten sich die französischen Behörden im Sinne der kooperativen Konzeption der Deutschlandpolitik aber auch um die gesellschaftliche und kulturelle Einbindung der Bevölkerung. Deutsch-französische Jugendtreffen, breitenwirksame Kulturprogramme und eine starke pro-französische Ausrichtung der Universitäten Mainz, Freiburg und der neuen Verwaltungshochschule (nach dem Vorbild der französischen ENA) in Speyer mögen als Beispiele für die kooperativen Aspekte der französischen Besatzungspolitik dienen.
Ebenso ambivalent und zum Teil widersprüchlich war die britische Deutschlandpolitik. Auch für London stand nach den Erfahrungen mit Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Sicherheit vor einer neuen Aggression im Vordergrund. Britische Deutschlandpolitik beruhte daher auf zwei Elementen. Zum einen dem Bemühen, die »Anti-Hitler-Koalition« aufrecht zu erhalten, um Deutschland zu kontrollieren. Das bedeutete, dass die USA als Bündnispartner möglichst lange auch militärisch in Europa präsent sein sollten, weil die europäischen Staaten, Frankreich und Großbritannien insbesondere, nicht in der Lage waren, das wirtschaftliche und politische Potenzial Deutschlands einzuhegen. Aus diesem Grunde bemühte sich die neue Labour-Regierung in London auch lange um ein Einvernehmen mit der Sowjetregierung. Das zweite Element war die gezielte Demokratisierung, Entmilitarisierung und Entnazifizierung der deutschen Gesellschaft. Man ging in London noch 1945 von einer Besatzungszeit von mindestens zehn Jahren aus, um diese Ziele zu erreichen. Bevorzugter Kooperationspartner für die neue Labour-Regierung waren hierbei zunächst die deutschen Sozialdemokraten. Zwei strukturelle Bedingungen jedoch beeinträchtigten die Umsetzung dieser Doppelstrategie. Zum...