«Man reiche mir die Anakonda!»
Was heißt hier eigentlich exzentrisch?
Stellen Sie sich vor, es gäbe eine Stadt namens Exzentrik. Mit buckligen, kleinen Häuschen, prachtvollen Spinnervillen, verwinkelten Gässchen und Gärten voll von blühendem Irrwitz. Verschrobene Gestalten düsen auf selbstgebauten Vehikeln durch die Straßen, es blinkt und surrt, aus Fenstern quellen abstruse Krempelansammlungen hervor. Einiges im Stadtbild wird Ihnen vielleicht vertraut vorkommen, anderes wirkt arg befremdlich. Was ist das hier? Was sind das für Leute? Muss man Angst haben?
Keine Sorge – ich bin Ihre Stadtführerin. Ich lebe auch hier, allerdings am Stadtrand in einer bescheidenen Behausung. Aber ich kenne mich aus. Ich kann Ihnen was über die Historie erzählen, über berühmte und bisher gänzlich unsichtbare Einwohner und wie es sich anfühlt, hier zu leben. Kommense mal mit!
Schon in meiner direkten Nachbarschaft gibt es unermesslichen Artenreichtum: Zum Beispiel einen heiteren Herrn in Frauenklamotten, der stets auf einem Fahrrad unterwegs ist. Er trägt ein graues Bürokostüm und eine schiefsitzende Kunsthaarperücke in laszivem Rotbraun, an seinem Lenker wehen Hunderte miteinander verdrahtete Kronkorken. Nebenan lebt Herr S., der all seine Akribie dem Sammeln grönländischer Paketmarken widmet (wichtig: keine Briefmarken, ausschließlich Paketmarken!). Die alte Frau A. aus meiner Parallelstraße sammelt dagegen ihre eigenen organischen Überreste in alten Ramadosen – ausgekämmte Haare, Zähne, ausgefallene Wimpern und … ach, lassen wir das besser. Und dann ist da noch ein zerzauster, bärtiger Mann, der ganz ohne Mandat die Straßen aufräumt und den Müll in auf links gedrehte Alditüten stopft. Wenn man ihm ein bisschen zuhört, kann man erfahren, dass ausschließlich Hunde die Träger eines höheren Bewusstseins sind. Außerdem wohnt weiter nördlich ein fanatischer Hobbybotaniker, der um die halbe Welt reist, um zu einer ganz bestimmten Zeit das Aufblühen ganz bestimmter Pflanzen zu betrachten (Bürgerkriege stören ihn dabei nicht im Geringsten). Und natürlich residiert irgendwo auch ein Trainspotter, der zu den unmöglichsten Zeiten an irgendwelchen Bahnstrecken auf der Lauer liegt, um den neuen IC Sowieso beim Vorbeibrausen zu fotografieren. Besonders stolz ist er darauf, ganze Kursbücher auswendig zu können, und selbstverständlich weiß er, dass der Zug aus Rimini um 15:18 Uhr in Kufstein hält. Gleich mehrere meiner Nachbarn leben hingebungsvoll in den 20er bzw. 50er Jahren, kleiden sich in zeitgemäßem Stil, und in ihren Wohnungen wird ausschließlich dem Grammophon gelauscht oder Eierlikör auf dem Nierentischchen serviert. Es gibt Mittelalterfreaks, ausgewiesene Reptilienfreunde und Wochenend-Orks. Und ich wette, ich kenne lange noch nicht alle Einheimischen.
Vielleicht fragen Sie sich gerade: Womit soll ich mich hier bitte schön befassen? Muss ich jetzt 200 Seiten Freakshow durchwandern? Für den einen mag es so sein, wenngleich ich sagen würde: Den Voyeurismus dürfen Sie sich getrost für bessere Gelegenheiten aufbewahren. Denn die Herrschaften, denen wir in diesem Buch begegnen werden, sind in ihrer Andersartigkeit unverzichtbare Gradmesser für den Zustand der Welt. Spinner kann es schließlich nur geben, wenn irgendwo auch eine scheinbare Normalität proklamiert wird.
Erinnern Sie sich noch an die Handtasche von Mary Poppins, aus der sich sämtliche Dinge herausfischen ließen, die gerade gebraucht wurden? Ungefähr so verhält es sich auch mit dem Begriff «Exzentriker». Jeder hat eine Meinung dazu, aber was es mit der Exzentrik auf sich hat – das weiß man dann doch nicht so genau. Es gibt unzählige Umschreibungen für diejenigen, die nicht brav im Schwarm schwimmen: Diven, Wirrköpfe, Größenwahnsinnige – ganz selten fällt auch mal das Wort Genie. Eigentlich alles, was gemeinhin als abwegig betrachtet wird, bezeichnet der Volksmund gerne als exzentrisch.
Künstlern wird dabei allerdings eine deutlich größere Tobefläche zugestanden. Wenn Nina Hagen freimütig über ihre Begegnungen mit Außerirdischen plaudert oder die Schriftstellerin Patricia Highsmith sich als Abendgesellschaft ein paar ihrer heißgeliebten Schnecken in die Handtasche stopft, dann raunen die Umstehenden nachsichtig: «So sind sie halt, die Künstler …»
Erschwerend oder entlastend (sowohl für den Betrachter als auch für den Exzentriker) kommen in der Frage, was exzentrisch ist, noch Umfeld und soziale Normen hinzu: Gilt der dörfliche Kauz, der sich in jedem Zimmer seines Hauses ein Funkgerät installiert und ausschließlich damit mit der Welt in Kontakt tritt, als komplett irre, bekommt der grotesk überschminkte Designer in Berlin Applaus dafür, dass er das Terrarium seines Leguans letzte Woche komplett mit Louis-seize-Mobiliar ausgestattet hat. Auf einer Modeveranstaltung, einer Vernissage oder beim Pferderennen zuckt niemand auch nur müde mit der Wimper, wenn Sie im großen Ornat mit Pfauenfederkragen oder mit treckerreifengroßer Kopfbedeckung auftauchen – aber probieren Sie selbiges mal auf dem Elternabend Ihrer Kinder respektive bei der Bundeswehr, und Ihre psychiatrische Diagnose ist bereits gestellt (beziehungsweise Ihre hoffnungsvolle Laufbahn beendet).
Was jedoch hierzulande als exzentrisch gilt, muss es in anderen Kulturkreisen noch lange nicht sein. In Kamerun beispielsweise gehört zum angemessenen Auftritt ein pompöser Stachelschweinhut, ohne dass sich auch nur einer verwundert nach dem Träger umsehen würde. Steht in Papua-Neuguinea «Black Tie» auf der Dresscodeliste, bedeckt der einheimische Herr von Welt nichts außer seinem besten Stück mit Blätterschmuck. In einer Menge afrikanischer und karibischer Länder wird bei einer guten Festivität gemeinsam in Trance gefallen. Hier wäre die Versicherungskauffrau im dezenten Kostümchen ganz eindeutig der Exot.
Die Epoche, in der wir leben, spielt im Exzentrikverständnis natürlich auch eine wesentliche Rolle. Vor 100 Jahren galten rauchende Frauen noch als ungeheuer exzentrisch, ebenso machte einen der Besitz eines exotischen Tieres schon zum Sonderling oder das Tragen eines auffälligen Kleidungsstücks.
Auch sinnfreies Arschlochgebaren wird gerne in die Polsterfolie der Exzentrik gewickelt, wenn man mit dem/der Betreffenden keinen juristischen Ärger ausfechten will. Bei den Recherchen zu diesem Buch ist mir der Begriff «Exzentrik» erstaunlich oft begegnet, gerne im Zusammenhang mit irren Diktatoren und Gestalten wie Donald Trump. Aber ich kann Ihnen versprechen, dass nach der Lektüre deutlich geworden sein dürfte: Sich aufzuführen wie eine offene Hose, andere Menschen zu beleidigen, zu kommandieren und die Welt mit Extrawürsten zu überziehen, ist NICHT exzentrisch, sondern ein narzisstischer Egotrip. Hugh. Und das gilt für Hollywoodstars genauso wie für Politiker, Familienangehörige und Chefs. Die Anzahl belegter oder vermuteter Exzentriker in künstlerischen Sphären ist zwar schier unzählbar – nur drängt sich dabei oft die Vermutung auf, dass die meisten ob dieser Carte blanche im Auftreten alles an schrägem Verhalten servieren, was ihnen gerade so in den Sinn kommt. Da scheint mir manchmal viel mehr PR in eigener Sache am Werk zu sein. Was übrigens genauso für Menschen mit bizarren Berufen gilt: Schlangenmenschen, Flohzirkusbetreiber und Dragqueens mögen vielleicht nebenbei auch noch exzentrisch sein – in erster Linie machen sie ihren Job.
Auch Geld spielt im Zusammenhang mit Exzentrik eine ganz entscheidende Rolle. Mit genügend Schotter auf dem Sparbuch exzentrikert es sich natürlich bedeutend leichter. Und sofort stellt sich die Frage: Sind all die zahlreich vertretenen britischen Adligen, bei denen es quasi zum guten Ton gehört, sich eine oder mehrere Grillen zu leisten, nur deshalb exzentrisch, weil sie gar nicht wissen, wohin mit all dem schönen Mammon? Züchten sie Axolotls, gründen Religionsgemeinschaften oder sammeln gelbe Ming-Vasen, ganz einfach, weil sie den Platz dafür haben?
Ich behaupte: Exzentrik funktioniert genauso gut in einer Zweizimmerwohnung und mit Hartz IV. Denn wahren Exzentrikern geht es in erster Linie darum, ihren Spleen nach Herzenslust auszuleben, völlig unabhängig von räumlichen Gegebenheiten und Kontostand.
Exzentrik lässt niemanden kalt. Ich denke, jeder hat seine eigene, klar umrissene Definition. Ich weiß das, denn ich habe das kühle Zischen, mit dem die Grenzen zwischen Normalität und Irrsinn mit tiefer Entschiedenheit gezogen werden, immer wieder im Ohr. Mein Häuschen steht eben gerade noch in der exzentrischen Banlieue, um im Bild der exzentrischen Stadt zu bleiben.
Und trotzdem muss ich zugeben: Es holpert ganz schön, wenn ich schreibe: Ich bin Exzentrikerin. Das hat diesen selbstverliebten Ölfilm, der auch auf seinen Geschwisterchen «Ich bin hochbegabt», «Ich bin hochsensibel» und «Ich kann essen, was ich will, ich nehme einfach nicht zu!» klebt. Man gilt nämlich schnell als unerträglich eitler Selbstdarsteller, wenn man sich als Exzentriker offenbart:
«Du hältst dich selbst für exzentrisch? Ich bitte dich, so ungewöhnlich bist du jetzt auch wieder nicht!»
«Nein, um Gottes willen, da musst du dir überhaupt keine Sorgen machen!»
«Und wie! Aber da wäre ich an deiner Stelle nicht stolz drauf!»
«Exzentrisch bist du nicht – wahnsinnig schon.»
«Wenn jemand exzentrisch ist, dann ja wohl du!»
Das sind alles Stimmen aus meinem direkten Umfeld.
Manchen mag das Attribut «exzentrisch» mit trotzigem Stolz erfüllen, aber...