Entgegen einer in der Forschung verbreiteten Ansicht kennt die mittelalterliche Poetik sehr wohl die reine Fiktionalität des Erzählens, beschränkt sie aber auf Fabel und Allegorie ('fabula'), wo bildhaft auf die Wirklichkeit verwiesen wird, und empfiehlt sonst deren unmittelbare Repräsentation ('historia'). Das Ergebnis ist aus unserer Sicht Pseudo-Historie, welche ein mehr oder minder solides Gerüst historischer Fakten durch Fiktion nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit ergänzt. Dahinter steht die mittelalterliche christliche Überzeugung von der Einzigkeit und Vollkommenheit der gottgeschaffenen Wirklichkeit, die der Mensch weder verdoppeln noch ersetzen, sondern nur nachahmen könne. Erst in der Neuzeit werden der Glaube daran erschüttert und der Mensch frei, sich eine eigene 'Welt im Kopf' zu schaffen. Das Ergebnis ist schließlich der moderne Fiktionskontrakt: Etwas wird erzählt, als ob es wahr sei, obwohl alle wissen, daß es nicht wahr ist, dieses Als-ob aber akzeptieren. Trotzdem hat - dies die hier vertretene These - Chrétien de Troyes im 12. Jh. in bewußter Umgehung der Poetik seiner Zeit aus dem Geist des subliterarischen areligiösen Märchens den rein fiktionalen Artusroman kreiert, der jedoch von den allermeisten Zeitgenossen und Nachfahren doch wieder nur für 'historia' gehalten wurde, so daß die moderne Fiktionalität erst aus der parodistischen Verkehrung der Pseudo-Historie durch Ariost und Cervantes und endgültig in der Aufklärung durch Sterne und Diderot entstehen konnte
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