Einleitung
Eine unerträgliche Revolution?
In Éric Rohmers Film Die Lady und der Herzog (2001) sieht man die Französische Revolution aus der Perspektive von Grace Elliott, einer Freundin und ehemaligen Geliebten des Herzogs von Orléans. Bevor sie im Zuge der Schreckensherrschaft selbst in Haft gerät, wird Elliott Zeugin zweier Ereignisse, die zum Bild einer fanatischen Revolution beigetragen haben: der Septembermassaker von 1792 und der Hinrichtung des Königs. Während der Massaker fährt Elliott in einer Kutsche durch Paris. Als der Kopf der Fürstin von Lamballe – ein bekanntes Gesicht – auf einer Pike vor ihren Wagen gehalten wird, gelingt es ihr noch, nicht in Ohnmacht zu fallen, doch in ihrem Domizil angekommen bricht sie bei der Schilderung dieser Szene vor Entsetzen in Tränen aus. Mit Blick auf den König hofft Elliott noch bis zum 21. Januar 1793, man werde es nicht wagen, ihn zu töten, und deutet die bis zu ihrer Residenz in Meudon dringenden Rufe der Menge als Protest gegen seine angekündigte Exekution. Elliott legt Trauer an und vermag ihre Verbitterung über den Herzog von Orléans, der nicht nur nichts gegen die Hinrichtung unternommen, sondern namentlich für sie gestimmt hat, nicht zu überwinden. Die revolutionäre Gewalt erfasst die Körper, sei es durch die Septembermassaker, die außerhalb jeder Institution stattfinden, oder im völlig neuartigen Rahmen eines Prozesses gegen den König. Elliotts Reaktionen entspringen zugleich der Empfindsamkeit und der Moral: Ihre Furcht, Wut und Trauer drücken ein emotionales und normatives Urteil aus. Man darf vermuten, dass sie beide Ereignisse als »unerträglich« wahrnahm.
Elliott hielt ihre Sichtweise, die sich mit der eines Burke oder Taine deckt, in ihren nach den Ereignissen verfassten und erstmals 1859 veröffentlichten Memoiren fest. Durch Rohmers Historienfilm ist sie aber auch zu einer heutigen Perspektive auf die Französische Revolution geworden. Auch wenn nicht behauptet werden kann, dass sie vorherrschend wäre – die Französische Revolution wird sicher nicht von all ihren Erben verabscheut –, ist festzuhalten, dass die Rezeption des Films, wie sich bereits vor seinem Kinostart im September 2001 abzeichnete, nicht nur aufgrund der innovativen Ästhetik, sondern auch wegen seines ideologischen Blickwinkels ausgesprochen lobend ausgefallen ist. Marc Fumaroli erklärte ihn in den Cahiers du cinéma vom Juli 2011 zu einem Schlüsselfilm über »die blutigsten und umstrittensten Stunden unserer Geschichte«[1] und zog eine Parallele zwischen den Gefängnissen während der Schreckensherrschaft und den nationalsozialistischen Vernichtungslagern:
Als sie [Elliott, S. W.] im Gefängnis Herzoginnen, Gräfinnen, Waschfrauen und Kammerzofen begegnet, die nur aufgrund ihrer Geburt oder ihrer Loyalität allesamt der Hinrichtung geweiht sind, ist sie beinahe froh, ihr Schicksal zu teilen, so wie es ein »Goj« aus der Résistance vielleicht 1942/43 im Durchgangslager Drancy gewesen wäre.[2]
Diese Parallele ist zentral für die Begründung einer neuen, »empfindsamen« Rezeption der Französischen Revolution: Der Abscheu vor den politischen Verbrechen des 20. Jahrhunderts nötigt zu Abscheu vor dem revolutionären Ereignis. Die Französische Revolution war unsäglich, weil sie »die Matrix des Totalitarismus« und seine Sprache geschaffen hat.[3]
Die sozialen und ideologischen Spaltungslinien, die das Ereignis selbst durchzogen, haben seit jeher auch seine Darstellungen verfolgt. Es gab immer konterrevolutionäre Sichtweisen auf die Revolution, und als solche wurden sie auch verstanden. Was heute hingegen erstaunt, ist, dass sie als ganz selbstverständlich durchgehen und, wie Éric Rohmers Film, von Kritikern wie Publikum als historisch adäquat betrachtet werden. Nicht mehr die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Perspektiven auf ein schwierig zu interpretierendes Ereignis scheint heute zeitgemäß, sondern ein Abscheu, der keiner Begründung bedarf. Da die Französische Revolution auch jene Phase umfasste, die die Briten reign of terror und die Franzosen la Terreur nennen, ist es nicht nur unmöglich, sie in Gänze zu retten – sie lässt sich sogar in Gänze verwerfen. Sie gilt heute als eine Gestalt des politisch Unerträglichen, zu der sie 1795 schon einmal geworden war.
Doch beruht dieser Abscheu, diese Zurückweisung immer auf einer reflektierten, kritischen Position? Eine kleine Anekdote weckt Zweifel daran. An der Sorbonne, die früher als Hochburg der jakobinerfreundlichen Historiker galt, trat Michel Vovelle 1985 die Nachfolge von Albert Soboul an. Im Jahr darauf schlug er Magisterstudenten vor, am 21. Januar ein »Kalbskopfessen« zu veranstalten. Dabei handelt es sich um einen republikanischen Brauch, bei dem der Kalbskopf den Kopf des Königs symbolisiert: Das Volk versammelt sich zu einem Festmahl, um in karnevalesker Manier den Tod des Königs nachzuspielen. Vovelles Vorschlag wurde mit Eiseskälte begegnet. Auf den Großteil der Studenten, die immerhin den Studiengang zur Geschichte der Revolution belegten, wirkte er unanständig; auf das vergnügte Kichern ihres Professors antworteten sie mit betretenem, ungläubigem Schweigen. Das Kalbskopfritual schien nicht mehr zeitgemäß, ohne dass man es überhaupt in Ruhe durchdacht hätte. Man konnte die Enthauptung des Königs schlichtweg nicht mehr nachspielen – der Gedanke daran löste Irritation, ja Ekel aus. Dieses gemeinsame Festessen gehörte meines Erachtens zum »obligatorischen Ausdruck der Gefühle«.[4] Tatsächlich »ist eine beträchtliche Kategorie oraler Äußerungen von Gefühlen oder Emotionen […] rein kollektiver Natur«, wobei
dieser kollektive Charakter in keiner Weise der Intensität der Gefühle abträglich ist, ganz im Gegenteil. […] Doch alle diese kollektiven, simultanen Ausdrucksformen, die moralischen Wert und obligatorische Kraft haben, sind mehr als bloße Äußerungen der Gefühle des Individuums und der Gruppe […], wenn man sie sagen muß, so deshalb, weil die ganze Gruppe sie versteht.
Man äußert seine Gefühle also nicht nur, man äußert sie an die Adresse der anderen, da man sie ihnen äußern muß. Man äußert sie sich selbst, indem man sie den anderen und für die anderen zum Ausdruck bringt.
Es ist im wesentlichen eine Symbolik.[5]
Die kollektive republikanische Symbolik löste sich in den Achtziger- und Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts jedoch auf. Anlässlich der Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der Revolution kehrte die Frage der revolutionären Gewalt wieder und erschütterte einige Gewissheiten, die sich seit der Befreiung von 1944/45 erneut aufgedrängt hatten. Bislang hatten sich die Franzosen des revolutionären Ereignisses nicht schämen müssen – sie sollten vielmehr stolz sein auf die Erfindung der Republik, dem Gegenmodell zum Vichy-Regime, und vor allem stolz auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die bei der Neubegründung des Völkerrechts nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der berühmten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 wieder Geltung erlangt hatte. Während der Zweihundertjahrfeier jedoch wurden 1789 und 1793 auseinandergerissen, der Kampf gegen das Ancien Régime von der Erfindung der Republik abgelöst, die Spreu vom Weizen getrennt. 1789 wurde gefeiert, 1792 hingegen – das Jahr des Sturzes der Monarchie und der republikanischen Erneuerung – verblieb im Schatten von Valmy. Mit Blick auf 1793 zog man es vor, seine »schönen Vorgriffe« mit denen von 1789 zu verschmelzen. Die Abschaffung der Sklaverei sowie das Recht auf Bildung und öffentliche Unterstützung wurden ihres Kontextes entkleidet, der Zusammenhang dieser unbestreitbaren Werte mit der Schreckensherrschaft nicht untersucht. Offenbar behagen der französischen Demokratie ihre Fundamente nicht. »Heute, da die Demokratie zum einzigen Horizont der Gesellschaften wird, wäre es fatal, den Blick nur auf ihren Gründungsmoment – 1789 – zu richten und die dunklen Tage von 1793 auszusparen«, erklärt Patrice Gueniffey, einer der heute führenden Kritiker der Revolution, und fragt weiter: »Wer würde es heute wagen, den Terror so freimütig zu feiern wie Albert Mathiez, der ihn 1922 als den ›roten Schmelztiegel‹ beschrieb, in dem ›aus den Trümmern all dessen, was die alte Ordnung getragen hatte, die zukünftige Demokratie Gestalt annahm‹?«[6] Aus dieser eine Weile nach der Zweihundertjahrfeier formulierten Perspektive, die aber durchaus in ihrem Geist war, darf die Demokratie mit jenem »roten Schmelztiegel« nichts mehr zu schaffen haben. Die Möglichkeiten, sich das Ereignis zu eigen zu machen, sind heute beschränkt durch die Sensibilität gegenüber dem Blutvergießen, gegenüber der Entscheidung, aus politischen Gründen zu töten und die Verantwortung dafür zu übernehmen.
Durch das Heraufbeschwören des Blutvergießens wird der Wert des revolutionären Ereignisses in Zweifel gezogen. Fragen, die man zuvor nur von hartgesottenen Monarchisten erwartet hätte, sind auf Titelblättern von Zeitschriften und in großen Fernsehproduktionen gestellt worden. »Musste man den König töten?«, fragte le Nouvel Observateur 1993. »Hätten Sie, die heutigen französischen Zuschauer, entschieden, die Königin zu töten?«, wollte Robert Hossein am Schluss seiner Sendung über Marie-Antoinette wissen. Als Symptome sind diese Fragen durchaus aufschlussreich.
Indem sie der nachträglichen Beurteilung von Ereignissen, die zweihundert Jahre zurückliegen, ein Kant’sches Sollen zugrunde legen, machen solche Fragen die heute lebenden Menschen zu...