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Die Aufrechten

Whistleblowing in der Ära Snowden

AutorMark Hertsgaard
VerlagCarl Hanser Verlag München
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783446255098
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Edward Snowdens Enthüllungen haben die Spielregeln der Politik verändert: Sie wird sich nie wieder auf wohl gehütete Geheimnisse verlassen können. Dafür war Snowden bereit, seine berufliche und private Existenz zu opfern - woher kommt dieser starke Wille? Mark Hertsgaard beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Whistleblowing, jetzt hat er jene zwei Männer getroffen, die sich Snowden bei seiner Aktion zum Vorbild nahm. Sie wurden gnadenlos verfolgt, als sie auf dem offiziellen Weg Missstände im Pentagon zur Sprache brachten. Hertsgaard kann mit ihren Geschichten zum ersten Mal beweisen, dass Snowden gar keine Wahl blieb, als sich direkt an die Öffentlichkeit zu wenden. Die Welt sollte ihm dankbar sein - genauso wie allen anderen Whistleblowern, die skrupellose Politiker in ihre Schranken weisen.

Mark  Hertsgaard, geboren 1956, lebt in San Francisco. Er ist einer der profiliertesten unabhängigen Journalisten der USA und schreibt u.a. für The New Yorker, Time, New York Times, Die Zeit und Der Spiegel. Bei Hanser erschienen von ihm: The Beatles. Die Geschichte ihrer Musik (1995) und Im Schatten des Sternenbanners. Amerika und der Rest der Welt (2003).

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Leseprobe

 

 

1. Eine Verpflichtung, die Dinge
in Ordnung zu bringen


 

Sein Haar war inzwischen weiß. Der Sommer des Jahres 1967 lag unendlich weit zurück. Doch als ihm ein Freund ein Foto seines 19-jährigen Selbst schickte, kehrten die Erinnerungen an jene Adrenalin-geschwängerten Tage augenblicklich zurück, und er erzählte die Geschichte, als hätte sie sich erst gestern ereignet.

Das Bild zeigte ihn von hinten: einen schlaksigen weißen Jugendlichen mit für die damalige Zeit unmodisch kurzem Haar. Ein zweiter junger Mann, ein Schwarzer, kniete neben ihm. Beide hielten ein weißes Blatt Papier in der Hand. Ihnen gegenüber waren ein schwarzer Vater, eine schwarze Mutter und fünf Kinder auf der Veranda eines kleinen, einfachen, aber robusten Holzhauses versammelt. Ohne Schuhe, in den Baumwollkleidern und T-Shirts der Landbevölkerung, hörte die Familie zu, wie der junge Schwarze seine Ansprache hielt. Die Szene wirkte freundlich, aber ernst.

»Das bin ich mit meinem schwarzen Freund Ralph«, sagte Louis Clark. Er saß in einem Konferenzraum des GAP in Washington. »Wir versuchten, schwarze Menschen in Mississippi davon zu überzeugen, sich in die Wählerlisten eintragen zu lassen.« Clark war drei Jahre zuvor erstmals nach Mississippi gekommen, auf einer von seiner Kirche in Illinois organisierten Missionsreise. »Wir gingen dorthin, um eine Schule für arme Kinder zu bauen«, erinnerte er sich. »Die Kinder waren weiß, aber wir konnten die rassische Spannung in der Luft spüren. Das war 1964. Die Schule, die wir bauten, lag sechzehn Kilometer außerhalb Philadelphias, wo in jenem Sommer drei weiße Bürgerrechtler ermordet worden waren. Ich ging (1967) zurück, weil ich eine Verpflichtung verspürte, die Dinge in Ordnung zu bringen.«

Dabei zu helfen, die Dinge in Ordnung zu bringen, barg freilich Risiken. Clarks Wagen hatte Nummernschilder aus einem anderen Bundesstaat; viele Einheimische mochten es nicht, wenn Außenstehende in ihren Staat kamen und »Unruhe stifteten«, wie sie es nannten. »Ich wurde in jenem Jahr vierzehn Mal von der Polizei angehalten«, sagte Clark. »Jedes Mal dachte ich, das könnte das Ende sein

Außerdem gab es noch den Ku Klux Klan.

»Eines Abends trafen Ralph und ich uns weit draußen auf dem Land mit einer Gruppe schwarzer Gemeindesprecher. Irgendwie fand der Klan das heraus. Als wir hinterher zu unserem Auto gingen, warteten draußen nämlich schon ein paar Typen. Sie fingen an, uns zu verspotten und zu schubsen, weil sie uns provozieren wollten.

Plötzlich fuhr eine dicke Limousine vor, was sie lange genug ablenkte, dass Ralph und ich in meinen Wagen springen und davonbrausen konnten. Sie drängten sich in die Limousine und verfolgten uns. Wir flogen über diese Landstraßen, so schnell ich fahren konnte. Ich sah ihre Scheinwerfer in meinem Rückspiegel, und sie holten auf. Ich war schweißgebadet.

Zum Glück stammte Ralph aus der Gegend und kannte die Nebenstraßen. Er ließ mich abrupt links abbiegen, und die Jungs vom Klan rasten an uns vorbei. Sie müssen jedoch ziemlich bald wieder umgedreht haben, denn es dauerte nicht lange, da tauchten ihre Scheinwerfer erneut im Rückspiegel auf.

Nach einer halben Ewigkeit sahen wir das örtliche Freedom Center, in dem wir untergebracht waren. Dort waren wir in Sicherheit. Ich drosselte die Geschwindigkeit kaum, als wir in die Einfahrt schossen. Die Klantypen waren uns so dicht auf den Fersen, dass wir hören konnten, was sie uns zuriefen, als sie in der Dunkelheit vorbei rasten. ›Geht nach Hause, ihr Negerfreunde. Nächstes Mal kriegen wir euch‹ – solches Zeug.

Ich erinnere mich, dass ich den Motor nicht ausschalten konnte. Ich war buchstäblich nicht in der Lage, den Zündschlüssel umzudrehen, so sehr zitterte ich. Ich weinte, ich hatte Angst, ich war wütend. Ich rief meine Eltern an und sagte zu ihnen: ›Ich glaube nicht mehr an Gewaltlosigkeit.‹«

 

2. Wer prägte den Begriff »Whistleblower«?


 

Elf Jahre später leitete Louis Clark eine neugeschaffene Nonprofitorganisation namens Government Accountability Project. Inzwischen hatte er seine Studien am Seminar abgeschlossen und war als Methodistenprediger ordiniert worden. Dabei hatte er auch seinen Glauben an die Gewaltlosigkeit wiedergewonnen. Er hatte ein Jurastudium absolviert und war nach Washington, DC gezogen. Eines Abends auf einer Party hatte ein Freund die Idee einiger Antikriegsmitstreiter erwähnt. Sie seien überzeugt, dass Daniel Ellsberg nicht der einzige Insider sei, der über die Missstände innerhalb des Militärs sprechen könne, und dass sie eine Organisation ins Leben rufen wollten, die solchen Wahrheitsverfechtern helfen könne. Clark hatte sich interessiert gezeigt und angeboten, die ersten zwei Monate gratis für die Organisation zu arbeiten – ein Versprechen mit der ganzen Forschheit eines 30-Jährigen, dass er nur zwei Monate benötigen würde, um sich unentbehrlich zu machen.

Siebenunddreißig Jahre später, im Jahre 2015, war Clark immer noch da. Als GAP-Vorsitzender oblag es ihm, die strategische Richtung der Organisation festzulegen und die Spenden von Stiftungen und Privatpersonen zu verwalten, die etwa 90 Prozent des jährlichen Budgets in Höhe von drei Millionen Dollar ausmachen. »Unsere Theorie gesellschaftlichen Wandels gründet auf Transparenz«, sagte Clark zu mir. »Durch Whistleblower erfährt der Bürger, was Regierungen und Unternehmen tun. Wenn man davon negativ betroffen ist, hat man die Möglichkeit, dagegen vorzugehen. Ich glaube nicht, dass die Menschen solchen Informationen mit Zynismus begegnen. Wenn hundert Menschen sterben, weil sie Erdnussbutterkekse gegessen haben, die nicht sicher produziert wurden, nehmen sie das durchaus ernst.«

Seit seiner Gründung im Jahre 1978 habe das GAP über 7000 Whistleblower aus dem öffentlichen und dem privaten Sektor beraten, sagte Clark. Die Organisation half Whistleblowern, einige der mächtigsten bürokratischen Gebilde (etwa das US-Verteidigungsministerium) und politisch vernetzten Unternehmen (wie Bechtel) der Welt zu besiegen, wenngleich sie auch zusehen musste, wie viele Whistleblower Niederlagen und Bestrafung einstecken mussten. Die Erfolge des GAP gründeten zum Teil auf einer geschickten Zusammenarbeit mit den Nachrichtenmedien; seine Klienten waren in praktisch sämtlichen großen Pressekanälen der Vereinigten Staaten präsent, aber auch bei zahllosen lokalen Anbietern.

Daneben kämpfte das GAP auf dem Capitol Hill und anderswo dafür, insgesamt 32 verschiedene internationale, lokale und Bundesgesetze um einen Schutz von Whistleblowern zu erweitern. In Zusammenarbeit sowohl mit Republikanern als auch Demokraten und mit der konsequenten Unterstützung von Senator Charles Grassley aus Iowa gelang es dem GAP und einer Handvoll verbündeter Gruppen, den Whistleblower Protection Act von 1989 (Gesetz zum Schutz von Whistleblowern), den Sarbanes-Oxley Act von 2002 (Sarbanes-Oxley-Gesetz, eigentlich: Public Company Accounting Reform and Investor Protection Act, Gesetz zur Reform der Unternehmensaufsicht und des Investorenschutzes), den Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer Protection Act von 2010 (Dodd-Frank-Gesetz über eine Reform der Wall Street und Verbraucherschutz) und den Whistleblower Protection Enhancement Act von 2012 (Gesetz zur Erweiterung des Schutzes von Whistleblowern) durchzusetzen.

Wenn es so etwas gab wie das Nervenzentrum des Whistleblower-Stammes, dann war es das GAP. Keine andere Organisation konnte auch nur annähernd so viele Whistleblower zählen, wie über die Jahre durch die Türen des GAP kamen und gingen. Dasselbe gilt für die Errungenschaften und die Einflussnahme zugunsten von Whistleblowern in Gesetzgebung, Politik und Praxis. Andere Organisationen handelten mit derselben Zielsetzung einer »guten Regierung«: Common Cause (gemeinsame Sache), Taxpayers for Common Sense (Steuerzahler für gesunden Menschenverstand) und das Project on Government Oversight (Projekt zur Regierungsaufsicht), ebenso wie Transparency International auf internationaler Ebene. Doch keine dieser Gruppen vertrat einzelne Whistleblower, wie das GAP es tat. Zwar reichten auch manche Privatunternehmen im Namen von Whistleblowern Klagen ein, doch wurden die Klienten hauptsächlich nach den Kriterien eines möglichen finanziellen Erfolges ausgewählt. Für das GAP stand das öffentliche Interesse im Vordergrund.

»Wir unterstützen nur Whistleblower, die etwas im öffentlichen Interesse enthüllen können, das für die Öffentlichkeit eine relativ hohe Bedeutung hat«, sagte Beatrice Edwards, von 2007 bis 2015 Geschäftsführerin des GAP. »Viele Leute kommen zu uns und sagen, ›Der Typ im Nachbarbüro betreibt im Klo ein kleines Unternehmen‹ oder ›Mein Chef kommt sonntags ins Büro, um von dort aus seine Familie in Indien anzurufen.‹ Mit solcher Kleinkorruption geben wir uns nicht ab.«

Das GAP entstand aus einer Konferenz, die im Jahre 1977 von Leitern des Institute for Policy Studies (IPS, Institut für Politische Studien) organisiert worden war, einer politisch links von der Mitte angesiedelten Forschungsgemeinschaft in Washington. Das 1963 gegründete IPS hatte in der Bürgerrechts- und Antikriegsbewegung eine zentrale Rolle gespielt und sich damit einen Platz auf der »Feindesliste« von Präsident Richard Nixon verdient. Die Gründer Richard Barnet und Marcus Raskin hatten sich aus dem Staatsdienst unter Kennedy zurückgezogen, nachdem sie mit Entsetzen vernommen hatten, wie McGeorge Bundy, ein Topberater des Präsidenten, bei einer Sitzung der Vereinigten Stabschefs verkündet hatte, »Wenn diese Gruppe keine Abrüstung erreicht, dann schafft das niemand.«

Ellsberg zufolge habe das IPS, obwohl kaum bekannt, eine Schlüsselrolle bei der...

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