Vernetzung: Wir verbinden Systeme nicht
Mit der Digitalisierung haben deutsche Unternehmen früh begonnen. Doch sie versäumen es, ihre Produkte nach außen zu öffnen. Hardware wird so gebaut, dass Vernetzung nicht entstehen kann, selbst wenn sie gewünscht wird.
Warum genau halten viele deutsche Produkte in puncto Digitalisierung und Bedienbarkeit im internationalen Vergleich nicht mit? Das können am besten die Leute beantworten, die sie entwickelt haben und bauen. Menschen, die man selten kennenlernt, weil sie kaum öffentlich in Erscheinung treten. Ich beschließe, zuerst die Geschichte des Bosch-Rasenmähers zu erkunden. Sein Beispiel scheint mir besonders gut geeignet. Ein Massenprodukt für den Konsumentenmarkt, irgendwo angesiedelt zwischen Mechanik und digital. Dort also, wo die deutsche Industrie gerade steht: auf halbem Weg vom Maschinenbau zur App-Ökonomie und zum Internet der Dinge. Wer steckt dahinter, und was ging in den Leuten vor, die den Indego Connect verantworten? Ich recherchiere und finde heraus, dass Bosch-Rasenmäher aus England stammen. Aus einer Fabrik, die der Konzern vor Jahrzehnten gekauft und eingegliedert hatte. Der Chef heißt Alex Ronafoldi. Sein Titel lautet »Head of Product Area Robotics. Bosch Powertools, Home and Garden«. Er stammt aus Ungarn und wurde kürzlich zu den Rasenmähern versetzt, um dort die offenkundigen Qualitätsprobleme zu beheben, die auch der Stuttgarter Zentrale aufgefallen waren. Ich rufe ihn an. Ronafoldi spricht perfekt Englisch, wenn auch mit starkem Akzent. Meine Kritik, die ich ihm am Telefon vortrage, wehrt er nicht ab. Im Gegenteil: Er wirkt interessiert und sagt, alle von mir aufgezählten Probleme beschäftigten ihn auch. Ich lerne ihn als integre Führungspersönlichkeit kennen. Ronafoldi will seinem Arbeitgeber dienen und die bestmöglichen Produkte bauen. Wenn ich das nächste Mal in London sei, sagt er, solle ich bitte auf einen Sprung in Stowmarket vorbeikommen. Genau das tue ich einige Monate später.
Das Städtchen Stowmarket, Heimat von 15 000 Seelen anderthalb Stunden nordöstlich von London, versteckt sich zwischen den flachen Wiesen und Weiden der Grafschaft Suffolk. Von Londons Liverpool Street Station ruckelt ein Vorortzug der Great Eastern Main Line nach Norden, doch von Great und Main ist den betagten Loks und Waggons nichts anzumerken. Dieseldämpfe beißen in der Nase; nicht alle Gleise sind elektrifiziert. Der Zug läuft im kleinen Bahnhof von Stowmarket ein, einem schmucken Backsteinbau mit angerostetem Eisendach. Ein Taxi bringt mich zu den Suffolk Works, einem betagten Flachbau an der Ausfallstraße. Weithin sichtbar leuchtet das Bosch-Logo an der Stirnseite. Im schlichten Empfangsraum mit niedrigen Decken und kaltem Neonlicht nickt mir die Rezeptionistin zu: »Alex erwartet Sie schon.« Ronafoldi, Jahrgang 1979, begrüßt mich mit ausgestreckter Hand. Er trägt ein schwarz-weiß gestreiftes Hemd und eine bordeauxfarbene Strickjacke. »Kommen Sie, wir setzen uns«, sagt er, führt mich in einen Konferenzraum, schaltet den Beamer an und erklärt mir den Markt für Roboter-Rasenmäher. Die Verkaufszahlen haben sich in den vergangenen fünf Jahren verzehnfacht; der Umsatz hat eine Viertelmilliarde Euro erreicht. Seine Indegos rollen überall dort, wo es grün ist und Menschen Rasen lieben. Er zeigt mir Karten von echten Gärten, die seine Roboter hochgeladen haben: »Wir dachten immer, die meisten Gärten sind viereckig. Aber schauen Sie hier: Sie haben die abwegigsten Formen. Viel komplizierter als vermutet. Wir dachten auch, dass die Gärten größer sind. In Wirklichkeit kaufen sich Leute mit eher kleinen Gärten einen Mähroboter. Eigentlich sind unsere Roboter zu groß und zu teuer dafür. Wir müssen sie kleiner und billiger machen.« Seine Präsentation erinnert mich an das Silicon Valley. Sie zeugt von systematischem Denken: Daten erheben, Daten auswerten, dann das Produkt so schnell wie möglich an die Erkenntnisse anpassen – so arbeitet man auch in Palo Alto. Vermutlich ist Ronafoldi damit auf dem richtigen Weg. »Aber warum kann der Indego so viele Dinge nicht, die er können müsste?«, frage ich nach. Das leuchtet mir nicht ein. Ronafoldi nickt: »Ich muss Ihnen zeigen, in welchem Kontext der Indego steht.«
Er bittet mich in den Nebenraum, einen gläsernen Showroom voller Produkte in Bosch-Grün. »In unserer Sparte bauen wir Powertools für den Garten«, erklärt er. »Heckenscheren, Häcksler, Rasenmäher, Rasenlüfter, Grasscheren, Laubbläser, Kettensägen.« Ronafoldi drückt mir eine Heckenschere mit mattschwarz glänzendem Schwert in die Hand. Das Gerät ist erstaunlich leicht, trotz des langen Schneidwerks. Ronafoldi sagt: »Genau. Optimales Verhältnis von Batteriegewicht und Leistungskraft. Digital kontrolliert. Es ist so effizient, dass man es den Kunden live vorführen muss, sonst glauben sie seine Kraft nicht.« Dann sieht er mich an: »Sie denken vielleicht, dass deutsche Unternehmen nicht früh genug digitalisiert haben. Aber das stimmt nicht. Die Deutschen waren Pioniere bei der Digitalisierung. Wo sie Schwächen haben, ist bei der horizontalen Vernetzung. Aber nicht bei der Digitalisierung.« Ich bin verdutzt. Das ist nicht die Aussage, die ich erwartet hatte. Wir sind doch eher Spätstarter in Sachen Digitalisierung, sage ich. Doch Ronafoldi schüttelt den Kopf. »Alle modernen Powertools laufen mit Lithium-Ionen-Batterien«, erläutert er und wiegt die Heckenschere in der Hand. »Lithium-Ionen-Batterien funktionieren nur mit digitaler Ladekontrolle. Ohne Digitalsteuerung kann man sie gar nicht betreiben. Seit vielen Jahren geht bei Powertools gar nichts ohne Chips. Deutsche Firmen sind Profis bei der digitalen Steuerung. Besonders Bosch.« Etwa bis 2004 wurden Elektrowerkzeuge von analoger Elektronik kontrolliert, erfahre ich. Dann lief die Analogtechnik in eine Sackgasse. Nennenswerte Leistungssteigerungen versprach nur noch digitale Elektronik, kombiniert mit einer neuen Generation von Batterien. Plötzlich zogen Chips in Bohrmaschinen, Laubbläser und Heckenscheren ein. Ronafoldi: »Zwischen 2004 und 2008 kam eine neue Generation von Ingenieuren ans Ruder. Digital denkende Leute, die in Windeseile Chips in alles einbauten, was sie in die Hände bekamen. Die Produkte wurden dadurch viel besser.« Mit den Chip-Experten hielten auch Programmierer Einzug in die Domäne von Werkzeugbauern. Simple Heckenscheren bekamen 1000 Zeilen Programmcode verpasst. Mikrochips für 20 Cent pro Stück katapultieren Maschinen, die im Laden 79 Euro kosteten, in neue Leistungsklassen, die für diesen Preis vorher undenkbar waren. Akkuschrauber wurden so klein, dass sie in die Hosentasche passten. Ihre Popularität wuchs rasant an. Einzelne Modelle schossen über eine Million verkaufte Exemplare hinaus. »Digitalisierung ist nicht das Problem der deutschen Industrie«, beteuert Ronafoldi. »Glauben Sie mir, wohin Sie auch schauen: Alle Maschinen laufen seit vielen Jahren digital.«
Aus dem, was Ronafoldi mir erzählt, lerne ich eine erste Lektion: Von »Digitalisierungsdefizit« sollte man eigentlich nicht sprechen. Das wäre ungerecht. Es würde die Pionierleistungen leugnen, die Deutschlands Industrie vollbracht hat. Was man mit »Digitalisierungsdefizit« meint, ist eigentlich etwas ganz anderes, und das muss ich noch herausfinden. Jetzt will ich aber erst einmal wissen: »Wenn Sie so viel von Digitaltechnik verstehen, warum leistet Ihr Mähroboter nicht mehr?« Ronafoldi weist zur Tür. »Ich zeige Ihnen die Entwicklungsabteilung«, sagt er. Wir gehen nach nebenan in ein Großraumbüro. Ein Dutzend Ingenieure schaut kurz von den Schirmen auf. Hier sieht nicht viel anders aus als bei einem Start-up im Silicon Valley. Tische und Stühle eng gereiht, Berge von Papier, fast nur Männer. Nur dem biederen Mobiliar sieht man die industrielle Vergangenheit der Suffolk Works an. Im Mittelgang steht ein der Länge nach aufgesägtes Exemplar meines Mähers. Daneben lehnen Probedrucke der Verpackung. Sie interessieren mich besonders. »Wer entwirft die Verpackung und wer formuliert die Werbeversprechen?«, frage ich Ronafoldi. »Eine Abteilung anderswo im Konzern«, antwortet er. »Denen schicken wir unsere Vorschläge.« – »Kennt die Werbeabteilung das Produkt aus eigener Anschauung?« – »Nein, das ginge gar nicht, so viele Verpackungen, wie die im Laufe eines Jahres gestalten müssen.« Mir wird klar: Die Werbeabteilung war es, die das unhaltbare Versprechen auf die Verpackung gedruckt hatte. Leute, die weit weg saßen von der Entwicklung. Sie hatten den entscheidenden Satz auf die Verpackung und die Werbetafeln gedruckt: Echtzeit-Steuerung über eine App mit Live-Karte. Hier spüre ich nun einen deutlichen Unterschied zum Silicon Valley. Dort liegt die Verantwortung für ein Produkt samt Werbung und Verpackung immer im Team. Verpackungsdesigner sitzen in Rufweite der Ingenieure, ebenso die Autoren der Bedienungsanleitung. Niemals würde man im Silicon Valley einen so krassen Unterschied zwischen Produkt und Produktversprechen zulassen.
Das ist Lektion Nummer 2: Arbeitsteilung in Konzernen führt schnell zu gefährlichen Unterschieden zwischen den Leistungen der Produkte und den Versprechen in der Werbung. Ein weiterer Punkt interessiert mich: »Von wem stammen die Chips im Mäher?«, frage ich Ronafoldi. »Von Bosch«, antwortet er. »Und die Akkus? Auch von Bosch?« Er nickt. »Haben Sie das frei entschieden, oder müssen Sie alle Komponenten im Konzern kaufen?« Ronafoldi antwortet diplomatisch: »Bosch stellt ausgezeichnete Komponenten her. Die sind gut für das Produkt.« Eine ausweichende Antwort. Ich frage nach: »Würden Sie sich für einen anderen Chip entscheiden, wenn das hier Ihre eigene Firma und Ihr eigenes Geld wären?« Er bleibt vorsichtig: »Mag sein«, sagt er....