Einführung
Ich saß im Wartezimmer der Radiologieabteilung des Krankenhauses. Vor sechs Wochen hatte ich die Diagnose »Stadium IV eines ›unheilbaren‹, metastasierten Bronchialkarzinoms« bekommen. Nun sollte ein großer Tumor am C3-Halswirbel bestrahlt werden, der sich in meine Wirbelsäule hineinfraß und mir erhebliche Schmerzen verursachte. Ich hatte weitere Tumoren an verschiedenen anderen Stellen im Körper – in der Lunge, an mehreren Lymphknoten, an einigen Knochen und im Gehirn –, doch gebührte diesem hier besondere Aufmerksamkeit: Er gefährdete meine Mobilität und drohte somit, meine »Lebensqualität« stark einzuschränken.
Meinen Ärzten zufolge war mein Leben ohnehin nicht mehr zu retten, und so konzentrierten sie sich nun in erster Linie darauf, seine Qualität zu bewahren – was mich stinksauer machte. Sie schienen mich meinem statistischen Schicksal zu überlassen, ohne auch nur im Entferntesten in Betracht zu ziehen, ich könnte vielleicht eine der wenigen unerklärlichen Ausnahmen sein, die die Statistik versauten. Sie bemühten sich nach Kräften, das »T-Wort« zu vermeiden oder ihn auf einen bestimmten Zeitpunkt zu datieren, doch schwang er unterschwellig immer mit, wenn sie mit mir über meine Erkrankung sprachen: Was auch immer geschehen mag, Mrs Sabbage, machen Sie sich keine Hoffnungen, denn Sie werden ganz bestimmt sterben. Meine Behandlung hatte noch nicht einmal begonnen, und schon schienen alle Möglichkeiten in unerreichbare Ferne gerückt.
Als ich auf die Bestrahlung wartete, befand ich mich immer noch in einem Schockzustand. Ich hatte zugestimmt, diese Behandlung zuerst durchzuführen, da es mir immer schwerer fiel, mich nachts im Bett auf die andere Seite zu drehen oder aus einer sitzenden Position heraus aufzustehen. Ich konnte meine vierjährige Tochter nicht mehr auf den Arm nehmen. Und ich brauchte eine Atempause, frei von Schmerzen, eine Pause, um nachzudenken, zuzuhören, nachzufragen, nachzuspüren und irgendwie entscheiden zu können, was um Himmels willen ich jetzt tun sollte.
Ich hatte mein Gleichgewicht verloren. Meine Hände konnten das Geländer nicht mehr finden, das mir in der Dunkelheit dabei half, unbeschadet die Treppe hinunterzugehen. Ganz allmählich tauchten immer neue medizinische Maßnahmen auf, die wie Trauernde hinter meinem zu Grabe getragenen bisherigen Leben herzogen: Tomografien, Konsultationen, Zugfahrten nach London, um sich die Meinung von Spezialisten einzuholen, Blutuntersuchungen, Versicherungsformulare, Striche durch prädiagnostische Termine in meinem Kalender – ebenso wie durch private Verabredungen oder geschäftliche Treffen –, das Verkünden der Neuigkeiten, um ihnen einen gewissen Grad an Realität zu verleihen.
Der Krebs drängte sich von einer Sekunde auf die andere in mein tadelloses Leben. An einem Tag hatte ich mich noch wohlgefühlt, am nächsten stellte sich ein plötzlicher stechender Schmerz in meinem Rücken als großer Tumor heraus, der auf mein Lungenfell drückte. Im Laufe der folgenden drei Wochen entfaltete sich die Diagnose quälend langsam in eingefrorenen Momentaufnahmen, jede einzelne erlesen brutal in ihrer Präzision. Schließlich teilte man mir mit, ich hätte mehr Tumoren in meinem Gehirn, als man zählen konnte; das mir bekannte Universum zerplatzte wie ein Luftballon und lag als leblose, verschrumpelte Hülle in meinen zitternden Händen.
Während ein Tomografieergebnis nach dem anderen hereinflatterte, schwand meine Lebenskraft zusehends wie der abnehmende Mond. Ich hustete Blut, war kurzatmig, wenn ich auch nur einige Stufen hinaufgehen musste, und verlor so viel Sehvermögen auf meinem linken Auge, dass ich nicht mehr Auto fahren durfte. Ich war müde, ständig war mir kalt. Sehr, sehr kalt. Vielleicht war es die Strahlenbelastung der ganzen Untersuchungen, die die Dinge so immens schnell verschlimmerte, doch sind auch Angst und Schock mächtige Kräfte, die sich wie Querschläger ihren Weg durch den Körper bahnen. Es schien, als ob das Wissen um die Erkrankung an sich mich tötete. Sobald ich daran glaubte, dass mein Leben vorüber sei, zog es sich in einen anderen Raum zurück, radierte Fenster, Vorhänge, Teppiche und Kissen aus, faltete meine Zukunft zusammen, verstaute sie sorgfältig in der untersten Schublade, dimmte das Licht und hielt die Uhr an der Wand an.
Mir war klar, dass ich das, was in meinem Geist ablief, ändern musste, wollte ich auch nur die geringste Chance haben, den fünften Geburtstag meiner Tochter oder meinen eigenen 49. zu erleben. Leugnen, was geschah, wollte ich nicht, aber ebenso wenig wollte ich mich mit den düsteren Vorhersagen meines unausweichlichen baldigen Endes abfinden. Ich wurde unglaublich wütend, wenn sich die Menschen in meiner Umgebung von mir verabschiedeten, und herrschte die Schwestern an, wenn sie mich wie die Insassin eines Sterbehospizes behandelten. Ich wollte jedes einzelne Detail meiner Erkrankung wissen und lehnte jegliche Interpretation anderer ab. In die Hände Gottes wollte ich mein Schicksal legen, nicht aber in die meiner Ärzte oder von Statistiken. Ich wollte meine eigene Geschichte schreiben, soweit mir das nur irgend möglich war, und verdammt sein, die Geschichte anderer zu kopieren.
Als ich meine erste Bestrahlung bekommen sollte, begleitete mich mein Mann John ins Krankenhaus. Während wir im Wartezimmer saßen, bekam ich eine unendlich mitfühlende SMS von einem Freund und hätte meinen Tränen vielleicht nicht freien Lauf gelassen, hätte John nicht neben mir gesessen. Rasch eilte die Schwester, die mich betreute, zu uns herüber und fragte mich, ob alles in Ordnung sei. Ihre Besorgnis erdrückte mich eher, als dass sie mich tröstete; es schien, als wollte sie mich vom Weinen abhalten, statt mich zu unterstützen, als ob meine Tränen mir irgendwie schaden, die anderen Patienten ängstigen oder ihnen – Gott behüte – die Erlaubnis geben könnten, selbst zu weinen. Aber wann weinen, wenn nicht jetzt? Wann hätte ich denn das Leben ehren sollen, das sich im Kielwasser meiner Diagnose allmählich auflöste, wann die Zukunft betrauern, die mir aus den Händen gerissen wurde, wann wie ein Klageweib um das schwindende Licht heulen?
Jetzt war es an der Zeit zu fühlen, nicht zu erstarren: der Geschehnisse völlig gewahr zu sein, jedes freundliche Wort und jede liebevolle Geste den Panzer durchbrechen zu lassen, in dem mein Herz vielleicht immer noch eingeschlossen war. Wach, achtsam und lebendig genug zu sein, um die geliebten Dinge, die in Erinnerung behalten werden wollen, und die unerfüllten Hoffnungen, die betrauert werden wollen, wertzuschätzen. Plötzlich wurde mir die stoische Stille bewusst, die wie dichter Nebel über dem Wartezimmer hing. Die Benommenheit. Der unterirdische Strom unbeantworteter Fragen. Der befangene Schrecken. Die inneren Gebete. Die Intensität verschiedener Gruppen von Patienten, die darauf warteten, dass ein Teil ihres Körpers verbrannt wurde.
»Alles in Ordnung?«, fragte die Schwester erneut mit größerer Dringlichkeit. Ihre Sorge bohrte sich regelrecht in meine Haut.
Ich berührte leicht ihre Hand, um sie zu beruhigen, und erwiderte dann: »Wahrscheinlich bin ich die Einzige hier, mit der alles in Ordnung ist.«
Sie trat zurück, verwirrt, unsicher, was es noch zu sagen oder zu tun gab, um mich von meinen Tränen abzubringen. Dann entfernte sie sich lautlos und hielt sich auch bei meinen folgenden Besuchen im Krankenhaus auf Distanz. Ich war eine Anomalie, eine unverhohlen verletzliche Anomalie im Kontext zensierten Leidens.
Nach der Bestrahlung kam eine andere Schwester auf mich zu und gab mir einen Zettel. »Ihr nächster Termin, Mrs Sabbage«, sagte sie nüchtern und offenbar in der Annahme, dass ich an diesem Tag, zu diesem Zeitpunkt selbstverständlich nichts anderes vorhatte.
Ich sah auf den Zettel, holte meinen Kalender aus der Tasche und sagte ihr dann, dass der Termin bei mir nicht ging. Und da war er wieder: der sichtbare Schrecken auf dem Gesicht einer Schwester, weil ich die falsche Antwort gegeben hatte.
»Aber das ist Ihr nächster Bestrahlungstermin«, beharrte sie.
»Ich weiß, aber ich kann da nicht«, beharrte ich ebenfalls.
Vielleicht hätte ich verschieben können, was auch immer ich für diesen Tag geplant hatte. Vielleicht war es egoistisch von mir, mich nicht dem System anzupassen. Doch irgendetwas kroch da meine erkrankte Wirbelsäule hinauf, das mich hart bleiben ließ. Das kam gar nicht infrage. Niemand befahl mir, irgendwann irgendwo aufzutauchen, ohne mich vorher höflich gefragt zu haben, ob ich da auch konnte. Und hätte ich mir einen besseren Zeitpunkt aussuchen können, um egoistisch zu sein? So verzweifelt und krank ich auch war: Ich wusste, dass es entscheidend für mich war, auf jedem Schritt dieser Reise meine eigenen Entscheidungen zu treffen, meine Behandlungstermine nach meinem Leben auszurichten und nicht umgekehrt, mich zum Autor und Protagonisten meiner eigenen Geschichte zu machen. Obwohl mir in letzter Zeit oft gesagt wurde, meine Behandlungstermine über alles andere zu stellen – unausgesprochener Zusatz: oder Sie werden sterben –, kommt dickköpfig immer wieder etwas Lebensbejahendes und potenziell Lebensrettendes ins Spiel: mein leidenschaftliches, streitlustiges und unerschütterliches Selbstgefühl.
Ich sollte noch viele Briefe erhalten, in denen stand, wo und wann ich mich zur nächsten Behandlung einzufinden hatte, bevor mein Onkologe die Botschaft verstand. Ihn traf keine Schuld. Es war die Schuld des Systems, in dem er arbeitet, ein System, das einen nur allzu leicht mitreißt, wenn man die Diagnose Krebs bekommt. Wie beim...