Ein jährliches Ereignis
Der Kindermarkt in Friedrichshafen
„Wie jedes Frühjahr, so kommen auch heuer am 28. März die Tiroler Hütekinder in Friedrichshafen durch den ‚Hütekinderverein‘ zum »Verkauf‘.“
(„Der Landarbeiter“, 1913, Nr. 5)
Diese Meldung charakterisiert die Erscheinungsform und die öffentliche Betrachtungsweise in der Endzeit des Vorganges, der in langer Überheferung hingenommen wurde als unabänderlich, ohne daß man seinen Ursprung kannte. Das läßt sich daraus erklären, daß es sich nicht um eine originäre und spezifisch organisierte Erscheinung handelte, sondern um eine spezielle Abwandlung eines älteren und umfangreichen Vorganges, nämlich der sehr alten Gewohnheit unter den arbeitsfähigen Alpenbewohnern, außer Landes Nahrung zu suchen.
Zur Arbeit wandern
In den Kirchenbüchern von Grins wird im 17. Jahrhundert berichtet, daß dieser oder jener Jüngling in Ungarn, Steiermark, Polen, Rheinland, wo er als Maurer arbeitete oder sich „haushältlich“ niedergelassen habe, gestorben sei1. Das weist darauf hin, daß das nicht selten geschah, daß man aber im übrigen während seiner Abwesenheit kaum Nachricht von ihm erhalten hatte.
Am Ende des 18. Jahrhunderts findet sich zum ersten Male eine eindeutige Nachricht über die zeitliche Auswanderung von Tiroler Kindern in dem Buche von Rohrer „Uiber die Tiroler“: „. . . sobald der Bube in einigen Gerichten des Imster Kreises nur laufen kann [ist er gezwungen,] außer seinem Mutterlande Nahrung und Verdienst zu suchen. ... die Anzahl der Knaben, welche alljährlich im Frühling vom 7. Jahre ihres Alters bis zum 17. aus den Pfarreien Delf, Nasereit, Imst, Lermos, Reuti, Vils, Tannheim zum Pferde-, Kühe-, Schafe-, Ziegen-, Schweine- und Gänsehüten nach Schwaben ziehen, zuverlässig auf 700 angeben“2. Längs der Straße von Füssen nach Augsburg hätten viele Güterbesitzer einen Tirolerburschen, von denen die meisten sich in Kempten sammelten und ihrem neuen Herren in das Kemptische, Königseck-Rothenfelsische und Isnysche Gebiet folgten.
Vom Landgerichtsbezirk Landeck berichtet Ignaz von Guggenberg 18353, daß ein Drittel der Bevölkerung verhungern müßte, wenn nicht (neben den Erträgnissen von Handel und Verkehr) „die zeitliche Auswanderung“ stattfände. 1834 seien 1825 Pässe an zeitweise Auswanderer ausgeteilt worden, die als Maurer, Steinmetzen, Zimmerleute, Tagelöhner nach Österreich, den deutschen Bundesstaaten, Holland, größtenteils aber nach der Schweiz und nach Frankreich wanderten, jährlich 1100—1200.
Die emsigsten und geschicktesten brächten jährlich 50—80 fl, ja auch 100 fl in die Heimat zurück. Der jährliche Totalgewinn für das Land sei 27 000—30 000 fl. „Es gibt viele, sehr viele Familien, welche sich nur dadurch erhalten können, daß der Hausvater oder ein paar Söhne sich auf Erwerb ins Ausland begeben“, um mit dem erworbenen Barlohn „die auf dem kleinen Anwesen haftenden Passivkapitalien zinsen und Früchte für den Winter kaufen [zu] können.“
„Auch Kinder armer Eltern zwischen 8—15 Jahren verlassen im März die Heimat, ziehen nach Schwaben, um als Hirt dort das Vieh zu hüten und kehren im Monat Oktober mit einem Gewinn von 3—4 fl in der Tasche wieder in die Heimat zurück. Solche Schwabenhirtenkinder wandern jährlich zwischen 400 und 500 aus und fördern durch diese Auswanderung das Hauswesen ihrer armen Eltern auf zweifache Weise, indem sie nicht nur 7 Monate lang ihnen von der Schüssel wegfallen, sondern auch noch ein paar Gulden Geld und etwas Kleidung ins Haus schaffen.“
Anton von Gasteiger schreibt 1816, die Gemeinde Zirl habe die Gewohnheit, ihre Jünglinge als Maurer lernen zu lassen, so daß allein in Zirl jährlich 50 Maurer auswandern, die im Herbst zurückkommen. In Bayern sei nicht leicht ein Ort zu finden, wo nicht Tiroler arbeiten; man scheine die arbeitslustigen Tiroler im Ausland zu schätzen. Auch mit Lein- und Senf-Samen-Handel gehe man durch das südwestliche Deutschland bis nach Frankreich4.
Vom Paznauntal schreibt Beda Weber 1837: „Um der Armut des Tales zu Hilfe zu kommen, findet zeitweilige Auswanderung der Mannspersonen auf Verdienst, wie im übrigen Oberinntale statt. Die Knaben ziehen als Hirten, die Erwachsenen als Maurer und andere Handwerker nach Baiern und Schwaben, mitunter auch nach Engadein zur Besorgung der Landbaugeschäfte. Fleißige bringen beträchtliche Ersparnisse zurück, Liederliche freilich nichts weiter als verdorbene Sitten“5.
Ähnlich ist sein Bericht von der Malser Heide: „Die Bewohner dieser rauhen Hochebene sind arbeitsam und nüchtern, abgehärtet in Sturm, Wind und Kälte, ringend mit einem undankbaren Boden ... Zu anderweitigem Erwerb genötigt, ziehen viele nach Schwaben, dort teils als Hirten, Knechte und Mägde zu dienen, teils Flachs zur Verarbeitung und zum Verkaufe in die Heimat zurück zubringen.“
Die „Ebene von Reutte“ nennt er „im allgemeinen unfruchtbar. Um das zu ersetzen, was Ackerbau und Viehzucht fürs Leben nicht vollständig gewähren, wandern die überzähligen Einwohner ins benachbarte Schwaben, wohl auch in andere Gegenden, die Männer größtenteils als Maurer, die größeren Knaben als Nothelfer und Handlanger, kleine Knaben und Mädchen als Viehhirten, heimkehrend im Herbst mit erspartem Geld zur Beseitigung der Wintersnot.“
Zwiespältig ist Webers Aussage über das Lechtal: „Die Viehzucht entfaltet aus Mangel an guten Alpen keine besondere Blüte. Man muß auf auswärtige Übersommerung des Viehes denken.“ Als „auswärtigen Erwerb“ spricht er von der Handelschaft, die in Holzgau, in Steg und Elbigenalp große Vermögen schaffe, aber „wer nicht dem Handelsfache angehört, wandert im Sommer als Maurer und Handwerker ins Schwaben, nach Baiern und nach Vorarlberg. Und wenn er wirtschaftlich ist, bringt er durch dieses Gewerbe alljährlich 60—80 Gulden Verdienst zurück“.
Wahrscheinlich gibt es noch andere und auch ältere Dokumente der zeitlichen Auswanderung vom Gebiet um das Oberinntal. So bringt der Zeichner und Graveur Anton Falger in seiner „Chronik vom Lechtal“, 1835 und in den folgenden Jahren niedergeschrieben unter Verwendung vieler alter Urkunden und Chroniken, folgende Bemerkung, ohne die Quelle genau zu bezeichnen: „Merkwürdig ist für Lechtal auch das Verzeichnis der im Ausland arbeitenden Maurer im Sommer 1699, im ganzen waren vom Lechtal 644 Personen auf Arbeit im Ausland, und zwar vom Deitl Elmen 91, vom Deitl Haselgehr 93, vom Deitl Elbigenalp 118, vom Deitl Stockach 155, vom Deitl Holzgau 107, vom Deitl Steg 80.“ Es folgt namentliche Aufzählung für einige Deitl, während er sich für die übrigen die Mühe der Abschrift spart. „Im Jahre 1845 waren von unserem Deitl nur 18 Maurer im Ausland. Wie arm sein wir, als Kinder müssen die Lechtaler schon das Ausland suchen, eigentlich ist das Ausland unser Vaterland, da es nur uns erhält“6.
Sämtliche Berichte sprechen von der allgemeinen zeitlichen Auswanderung als einer gegebenen Tatsache, die stillschweigend oder ausdrücklich zurückgeführt wird auf die wirtschaftlich geringe Ertragsfähigkeit der Landschaft. Gegenüber einer Dauer-Auswanderung gibt der Begriff „zeitlich“ prägnant und ohne weitere Umschreibung die Zeitbegrenzung der Auswanderung an, deshalb wird er auch in der folgenden Darstellung beibehalten. Keiner der Berichte versucht, den Anfang dieses Vorganges näher zu datieren, es klingt nicht einmal die Frage danach an.
Die früheste Bekundung dieser Konstellation, die wir kennen, ist sehr alt, sie liegt schon 450 Jahre zurück, geht aber nur von den Verhältnissen der Herrschaft Bregenz aus. Auf dem Generallandtag der österreichischen Erbländer im Frühjahr 1526 in Augsburg haben die Vertreter des von Österreich 1523 „neu erkauften Teils der Herrschaft Bregenz“ eine Supplik vorgelegt, in der sie vor allem die Gleichstellung mit dem früher (1451) erkauften Teil erstrebten, nämlich durch Aufhebung der Leibeigenschaft. Dabei wird zur Kennzeichnung ihrer Situation auch gesagt: „... Auch das bey unns ein Rauche Landes Ardt ist unnd der Leut vill, die sich an dem Ordt nit Erneren, sondern in ir Jugendt alls Hirtte, auch Hanntwerck zulernen, an die Frembd ziechen unnd darinn ir Leibsnarung suchen und gewinnen mueßen“7 (Abb. 1).
Diese Schilderung sagt also schon etwa das, was später, vor allem im vorigen Jahrhundert, über die Auswanderung als strukturbedingtem Ausgleich geäußert wird. Aber doch wird die Wanderung nicht konkret als zeitweilige bezeichnet, der Wortlaut könnte auch für eine endgültige Auswanderung gelten. Ebenso ist nichts von einer Teilnahme der „Kinder“ gesagt, nur von der „Jugend“. Da aber die Handwerkslehre ausdrücklich erwähnt wird, kann der Bericht zunächst nur die im Lehrlingsalter stehenden Jugendlichen meinen, also mit mindestens 14...