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Lebensschwäche und Dekadenz im Frühwerk von Thomas Mann

Über den Determinismus und Pessimismus in den frühen Erzählungen und der Geschichte des Hanno in 'Buddenbrooks'

AutorPaula Hesse
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl87 Seiten
ISBN9783668142558
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2008 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen, Sprache: Deutsch, Abstract: Der frühe Tod, der den Protagonisten unentrinnbar entgegeneilt, ist das immer wiederkehrende Thema in Thomas Manns Frühwerk. In den Erzählungen 'Der Wille zum Glück', 'Der kleine Herr Friedemann', 'Der Bajazzo', 'Tobias Mindernickel', 'Luischen' und bezüglich der Figur des Hanno in dem Roman 'Buddenbrooks' ist der frühe Tod den Protagonisten bereits in den ersten Sätzen auferlegt. Ihr Niedergang wird symbolisiert durch äußere Symptome wie ungesunde Gesichtsfarbe, schiefe Körperhaltung und nicht zuletzt durch ihre der Dekadenz und dem Dilettantismus verhaftete Lebensweise. Sie leiden unter Krankheit, Stagnation und Isolation und sind ihrem Schicksal jeweils ausgeliefert. Thomas Manns frühe Erzählungen entbehren politischen Inhalts, Thomas Mann legt den Fokus auf die psychische, physische und soziale Verfassung seiner Figuren, die in jeder der drei Hinsichten mangelhaft bis beklagenswert ist. Thomas Manns Erzählungen sind pessimistisch, und zwar im außerordentlichsten Sinne: Die physischen, psychischen und sozialen Mängel seiner Protagonisten führen zumeist zum Tod. In Thomas Manns frühem Werk, welchem seine ersten Erzählungen - bis zu 'Der Tod in Venedig' von 1912 - und die Romane 'Buddenbrooks' und 'Königliche Hoheit' zuzuordnen sind, sind die zentralen Krankheitssymptome mangelhafte Zähne, Blässe (Anämie), Depressionen, Neurosen und nervliche Leiden, Neurasthenie. Die Kranken bei Thomas Mann sind in einem Auflösungsprozess gefangen, der sich sowohl körperlich als auch geistig, seelisch manifestiert. Oftmals ist nicht klar, inwieweit die beiden Erscheinungsgebiete miteinander zusammenhängen, bzw. ob das Leiden der einen Sphäre das der anderen zur Folge hat, und wenn ja, in welcher die Krankheit ihren Ursprung hat. Denn die meisten Figuren bei Thomas Mann, die an einer organischen Disposition zur Krankhaftigkeit leiden, zeichnen sich durch eine besonders sensible Einstellung zum Leben und eine feine Beobachtungsgabe aus, welche sie von den anderen, gesunden Menschen abgrenzen. [...]

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Leseprobe

2. Grundlagen zu Thomas Manns frühen Erzählungen


 

Das Denken eines jeden Menschen – und so auch das eines Schriftstellers – wird von seinen Erfahrungen beeinflusst. Zu diesen Erfahrungen zählen biographische Ereignisse und das allgemein vorherrschende Denken einer Zeit. Beides soll im Fall Thomas Mann zur Erhellung bezüglich der aufgestellten These betrachtet werden. Diese besagt, dass in Thomas Manns Frühwerk ein Pessimismus vorherrscht, der den Protagonisten Lebensschwäche und einen frühen Tod auferlegt und ihnen keine Möglichkeit zur Abwendung dieses Schicksals lässt.

 

Bei den biographischen Angaben handelt es sich lediglich um die für diese Arbeit relevanten. Die späteren Lebensjahre Thomas Manns waren sicherlich interessant, haben aber aus logischen Gründen keinerlei Relevanz für die Interpretation seines Frühwerks. Insofern werden sie in dieser Arbeit ausgespart, und ich beschränke mich auf Thomas Manns Jugend.

 

Thomas Manns Biographie und der Zeitgeist zeigen eine Hinwendung zum Verfall. In den folgenden Kapiteln soll gezeigt werden, dass Thomas Mann sich mit Dekadenz und dem dazugehörigen Dilettantismus beschäftigte, und dass diese Phänomene maßgeblich zur Bildung des Determinismus und Pessimismus in seinem Frühwerk beitragen mussten.

 

2.1 Biographisches


 

Thomas Mann wurde 1875 in Lübeck geboren und wuchs als Sohn eines Kaufmanns und Senators auf, welcher bereits 1891 starb.[6] Jene Konstellation findet sich häufig in Thomas Manns Werk wieder, viele seiner Protagonisten sind Söhne von Kaufmännern, die ihren Vater frühzeitig verlieren. Thomas Manns Heimatstadt ist bereits in seinen frühen Erzählungen Schauplatz der Handlung, selbst wenn sie nicht explizit genannt wird, sondern allein aufgrund ihrer Beschreibung erkannt werden kann.

 

Thomas Mann hatte schon in jungen Jahren schriftstellerischen Erfolg, was er auch seinem Bruder Heinrich zu verdanken hatte, der bereits in schriftstellerischen Kreisen etabliert war und ihn in jene einführte. Bald hatte Thomas Mann seinen Stil gefunden, was auf seine bürgerlichen Tugenden wie Fleiß und Disziplin zurückzuführen ist.[7]

 

Trotzdem ist er keiner literaturwissenschaftlichen Epoche eindeutig zuzuordnen; sein Werk wird dem Impressionismus, der Neuromantik, aber auch der Neuklassik zugeteilt.[8]

 

In Thomas Manns Frühwerk finden sich vorrangig Kaufmannssöhne, die nicht in der Lage sind, den Erfolg ihrer Väter fortzusetzen. Meist treten sie nicht einmal in deren Fußstapfen, sondern erproben sich im künstlerischen Bereich. Sie sind gekennzeichnet durch einen erhöhten Grad an Sensibilität, der mit Krankheit und frühem Tod einhergeht.[9] Die große Rolle des Todes bei Thomas Mann ist darauf zurückzuführen, dass er selbst sich nach dem Verlust des eigenen Vaters ausgiebig mit dem Tod auseinandersetzte und dieser seitdem „hinter allem gestanden habe, was er gedacht und geschrieben habe“[10].

 

In vielen von Thomas Manns frühen Erzählungen sowie in „Buddenbrooks“ finden sich autobiographische Tendenzen. So schreibt Koopmann:

 

„In Hanno Buddenbrook sah Thomas Mann sich, und in seinem Dasein scheinen eigentlich die Probleme, Ängste und Erlebnisse beschrieben zu sein, die auch den Autor zumindest potentiell bedroht haben – wobei natürlich im epischen Bericht über die Spiegelbildfigur des kleinen Hanno vieles übertrieben, hochstilisiert und dramatisiert erscheint, was in Wirklichkeit allenfalls eine latente Gefahr gewesen sein mochte.“[11]

 

Dass keine seiner Erzählungen rein auf Tatsachen aus Thomas Manns Leben beruht, versteht sich von selbst. Die Schriftstellerei ist für Thomas Mann ein Mittel, um seine Erfahrungen und Gedanken zu formulieren, „[s]ich auszusprechen, auszudrücken, [s]ich künstlerisch auszuleben“. Und:

 

„[W]ährend ich früher eines Tagebuchs bedurfte, um, nur fürs Kämmerlein, mich zu erleichtern, finde ich jetzt novellistische, öffentlichkeitsfähige Formen und Masken, um meine Liebe, meinen Haß, mein Mitleid, meine Verachtung, meinen Stolz, meinen Hohn und meine Anklagen – von mir zu gehen... Das begann glaube ich, mit dem ‚Kleinen Herrn Friedemann’“.[12]

 

Auch in dem Außenseitertum seiner Protagonisten findet sich ein Hinweis auf Thomas Manns Leben. Er hielt sich selbst für einen Außenseiter, eher der künstlerischen Bohème zugehörig als dem Bürgertum. Dies machte er an seinem Reflexionsgrad[13] und an der „Unzuverlässigkeit seines Geschlechtslebens“[14] fest.

 

2.2 Zeitgeist


 

Auf der Suche nach dem Wesen des Künstlers war Thomas Mann nicht allein. Das Verhältnis zwischen Künstler und Bürger war zu Thomas Manns Zeit ein verbreitetes Thema, welches sich in der Literatur niederschlug. Es herrschte ein besonderes Bild vom Künstler vor, welches auch bei Thomas Mann zu finden ist.

 

„Ein zum ‚Zwiespalt zwischen Künstler- und Menschentum’ hochstilisiertes Einsamkeitspathos, existenzielle und intellektuelle Verunsicherung, Überreflektiertheit, Heimatlosigkeit, Flucht in Apolitie und soziale Verantwortungslosigkeit, das ständige Schwanken zwischen Schuldgefühl, Selbstekel und dem trotzigen Bekenntnis zur eigenen ‚Degeneration’ – dies alles sind Grundzüge der frühen Helden Thomas Manns und des zeitgenössischen Künstlerbilds, wie es sich in den frühen Arbeiten Rilkes, Hofmannsthals, Georges und nicht zuletzt in denen Heinrich Manns niedergeschlagen hat.“[15]

 

Thomas Manns Frühwerk bewegt sich hinsichtlich psychologischer Sichtweisen auf Individuum und Künstlertum im Einklang mit dem Geist seiner Zeit.

 

Damals neuartige medizinische bzw. psychologische Strömungen nahmen Einfluss auf gesellschaftliche Diskussionen und machten keinen Halt vor Thomas Manns Werk. Paul Julius Möbius proklamiert 1903 in „Geschlecht und Entartung“[16], dass Genie erkauft werde durch Andersartigkeit, Einsamkeit bzw. Ausgeschlossenheit und eine gewisse seelische Unausgeglichenheit. Zwar erschien diese Schrift erst nach den hier behandelten Erzählungen, doch kann man an ihr ablesen, welche Ideen in jener Zeit vorherrschten.

 

Inwieweit Thomas Mann sich vor 1911 mit der Psychoanalyse auseinandersetzte, mag dahingestellt sein.[17] Sie ist in seinen psychologischen Einsichten, die er durch Selbstbeobachtung und die Theorien Schopenhauers und Nietzsches erfuhr, schon früh enthalten.[18] Bereits in der Erzählung „Der kleine Herr Friedemann“ „wird das Muster Nietzsches auf eine Weise befolgt, als ob schon Freuds Konzept dahinter stünde“[19]. Auch Finck sieht in Thomas Manns Verhältnis zur Psychoanalyse die Theorien Nietzsches als grundlegend an:

 

„Will man unbedingt eine Verwandtschaft zwischen der psychoanalytischen Forschung und Th. Manns früher Auffassung der wechselseitigen Beziehungen zwischen Geist und Krankheit feststellen, so kommt nicht nur die Freudsche Psychoanalyse, sondern Adlers Individualpsychologie in Betracht, deren Grundtheorie, nämlich diejenige der Kompensierung des Minderwertigkeitsgefühls, eine zum Teil auf einem Missverständnis beruhende psychologische Übersetzung des Nietzscheschen Willens zur Macht ist.“[20]

 

Das psychologische Muster der Protagonisten im Frühwerk Thomas Manns war also salonfähig und fügte sich den Ideen seiner Zeit ein. Mit politischer und sozialpolitischer Meinungsbildung beschäftigte sich Thomas Mann nicht. Einen direkten Bezug zu aktuellen politischen und sozialen Geschehnissen gibt es im Frühwerk Thomas Manns kaum. Sein Schwerpunkt liegt auf dem Schicksal des Außenseiters, vornehmlich des Künstlers im Bürgertum.[21]

 

Zwar geht Thomas Mann mit der nationalistischen Auffassung konform, die behauptet, der Erste Weltkrieg gebe seiner Zeit, die laut Nietzsche an Willenlosigkeit erkrankt war, neuen Auftrieb und neue Ziele und helfe, die dekadente Überreflexivität der Vorkriegszeit zu überwinden.[22] Doch bis dahin kann er

 

„nur über Probleme des Künstlertums, nur über die Psychologie des dekadenten Bürgers schreiben. Erst der Donnerschlag des Kriegsausbruchs sollte auch ihm, wie seinem Helden Hans Castorp die Augen öffnen. Erst von da an sind Kapitel über »Zeitgeschichte und Werkgeschichte« im engeren Sinn möglich.“[23]

 

Allerdings konnten aufgrund Thomas Manns langsamer Arbeitsweise seine belletristischen Texte nie den politischen Zeitgeist befriedigen. „Darum ist die Wirkung der Zeit auf seine Dichtung immer indirekt gewesen, immer gebremst durch den Widerstand einer nicht mehr im engen Sinne aktuellen Konzeption.“[24]

 

2.3 Dekadenz


 

Thomas Manns Begriff des...

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