Hermann Parzinger
Wider die Barbarei
Kunst-, Kultur- und Meinungsfreiheit sind für Demokraten nicht verhandelbar
Die Freiheit der Kunst ist in Deutschland ein Grundrecht und in Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes festgeschrieben. Geschützt wird dabei die künstlerische Betätigung, also der »Werkbereich«, ebenso wie die Darbietung und Verbreitung von Kunst, der »Wirkbereich«. Zur Kunstfreiheit gehört das Verbot, auf Methoden, Inhalte und Tendenzen künstlerischer Tätigkeiten einzuwirken, insbesondere den künstlerischen Gestaltungsraum einzuengen oder verbindliche Regeln für den künstlerischen Schaffensprozess vorzuschreiben. Kunst ist als unmittelbarster und direktester Ausdruck der Persönlichkeit des Künstlers also nicht an traditionelle Formen gebunden, sondern durch einen subjektiven schöpferischen Prozess gekennzeichnet, der im Ergebnis vielfältige Interpretationsmöglichkeiten zulässt.
Oder einfacher ausgedrückt: Kunst ist das, was der Künstler als Kunst bezeichnet, auch wenn andere möglicherweise darüber streiten, ob dies Kunst ist. Eine solche Offenheit ist unerlässlich, um Kreativität nicht zu verhindern, denn gerade die avantgardistische Kunst hat immer danach gestrebt, die Grenzen dessen, was als Kunst gilt, unentwegt zu erweitern. Kennzeichnend für die Freiheit der Kunst ist, dass sie vorbehaltlos gewährleistet wird. Trotzdem ist Kunstfreiheit nicht schrankenlos, insbesondere dann, wenn sie mit den Persönlichkeitsrechten anderer kollidiert.
Dort, wo diese oder vergleichbare Regeln herrschen, wie etwa bei uns, scheint die Welt halbwegs in Ordnung, was die Freiheit von Kunst und Kultur betrifft. Ob es ausnahmslos so ist, werden wir noch sehen. Doch sieht man sich in der Welt um, so scheint der Geltungsbereich eines so weitgefassten Freiheitsbegriffs in der Kunst so kontinuierlich abzunehmen wie Land untergeht, wenn der Meeresspiegel steigt.
Erst jüngst haben die barbarischen Zerstörungstaten des sogenannten »Islamischen Staats« in den alten Zentren der mesopotamischen Hochkultur in Syrien und dem Irak wieder eindrucksvoll vor Augen geführt, dass es selbst in unserer globalisierten Gesellschaft des frühen 21. Jahrhunderts nicht weit her ist, wenn wir an die Freiheit der Kunst und der Kultur denken. Sie wird ebenso mit Füßen getreten, wie man Menschenrechte, ja das Recht auf Leben missachtet. Die Welt ist moderner, schneller, vernetzter, aber moralisch nicht viel besser geworden. Diese Erkenntnis mag banal sein, doch nach der Überwindung des Nationalsozialismus und der Teilung Deutschlands und Europas schien gerade uns Deutschen die Welt endlich heil und in Ordnung. Doch was seit 1990 an Unordnung entstanden ist, nimmt inzwischen immer bedrohlichere Ausmaße an, sowohl für Kunst und Kultur als auch für den Menschen.
I Bücherverbrennungen – ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte
Wie sagte schon Heinrich Heine: »… dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen«1. Wer hätte damals gedacht, dass dieser eine Satz das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte kurz vor der Mitte des 20. Jahrhunderts so prophetisch und präzise zugleich vorwegnimmt. Heine lässt dies den Moslem Hasan zu Almansor ben Abdullah sagen, die das noch muslimische Granada verzweifelt gegen die christlichen Ritter verteidigen, die die Stadt belagern und immer fester im Griff haben.
Heine lässt die beiden Muslime vorhersehen, was ihm als historische Tatsache bekannt war: Nach der Eroberung der Stadt durch die Christen unter dem inquisitorischen Kardinal Gonzalo Jiménez de Cisneros war es tatsächlich zur Verbrennung des Korans gekommen. Die Geschichte der Koran-Verbrennungen ist lang: Erst 2012 verbrannten US-Soldaten auf einer Müllkippe im afghanischen Bagram mehrere Koran-Exemplare. Als die Aktion bekannt wurde, kam es in ganz Afghanistan zu gewalttätigen Protesten, bei denen rund 40 Menschen ums Leben kamen. Der amerikanische Präsident Barack Obama musste sich daraufhin beim afghanischen Volk entschuldigen.
Bücherverbrennungen haben eine lange Geschichte und kaum eine Religion blieb davon verschont. Die ersten Bücherverbrennungen seit der Spätantike waren Waffen im Kampf der Religionen, doch gerade in der Moderne erweiterten sie kontinuierlich ihr Einsatzgebiet auf andere, auch säkulare Bereiche. Das älteste überlieferte Beispiel ist aus China bekannt. So griff der chinesische Kaiser Qin im Zuge der Reichseinigung zu rigorosen Maßnahmen: Die Vielfalt widerstreitender philosophischer Schulen wurde abgeschafft und verboten, nur mehr die staatstragende Philosophie galt, und die Schriften aller anderen Schulen ließ er 213 v. Chr. verbrennen.
Der spätrömische Kaiser Diokletian verfolgte nicht nur Christen, um sie ans Kreuz zu nageln, sondern er ließ auch ihre Schriften verbrennen. Doch schon bald schlug das Pendel in die umgekehrte Richtung: Seit dem 4. Jahrhundert verbrannte die römisch-katholische Kirche immer wieder Bücher heidnischen oder magischen Inhalts. Im Jahre 372 befahl Valens, einer der letzten römischen Kaiser, eine der größten bekannten Bücherverbrennungen der Antike. Überwiegend handelte es sich dabei um Werke der sog. artes liberales, also der klassischen antiken Wissenschaften, und solche magischen Inhalts. Um den Aktionen mehr Nachdruck zu verleihen, gingen sie mit der Hinrichtung ihrer Besitzer einher, darunter viele angesehene Männer, ja sogar Philosophen. 562 befahl der byzantinische Imperator Justinian I. die Verbrennung heidnischer Bücher, Bilder und Götterstatuen, und zwar nicht irgendwo, sondern im Kynegion, jenem Ort, wohin man gewöhnlich die Leiber der Hingerichteten warf. Das war eine besonders verachtende Form der damnatio memoriae, der Auslöschung von Erinnerung.
In Mittelalter und früher Neuzeit erreichten Bücherverbrennungen mitunter wahrhaft skurrile Züge: 1498 ließ der Dominikanermönch Savonarola in Florenz von einer »Kinderpolizei« Häuser nach unehrbaren Schriften, Figuren und Gemälden durchsuchen. Auf einem »Scheiterhaufen der Eitelkeiten«, wie es hieß, verbrannte man schließlich pornographische und heidnische Bücher, Glücksspiele, Kosmetik, obszöne Bilder, Boccaccios Decamerone und sämtliche Werke des Ovid. Eine wahre Blütezeit erlebten Bücherverbrennungen während der Reformation und Gegenreformation und besonders zur Zeit der Inquisition. Lutheraner verbrannten päpstliche Schriften und umgekehrt. Mit der Besiedlung Nordamerikas durch die Europäer hielten auch dort Bücherverbrennungen Einzug. Die älteste dort nachgewiesene fand 1650 auf dem Marktplatz von Boston statt, wo man erneut religiöse Schriften dem Feuer übergeben hatte.
Ab dem 17. Jahrhundert kommen in Westeuropa dann immer häufiger auch Fälle von Bücherexekutionen vor, die nicht mehr religiös motiviert sind. So wurden 1664 in Paris im Zuge eines Theaterskandals um Molières Tartuffe einige Exemplare des Stücks, das Scheinmoral und Bigotterie anprangerte, öffentlichkeitswirksam den Flammen übergeben. 1762 verbot das Pariser Parlament Rousseaus Emile oder über die Erziehung; die Folge waren Bücherverbrennungen und Haftbefehle gegen den Verfasser. Weniger überraschend war dagegen die Anordnung des französischen Revolutionsführers Robespierre von 1793, Bücher mit die französischen Könige verherrlichender Literatur dem Feuer preiszugeben. Politisch motivierte Verbrennungen gab es auch in Deutschland: So warfen am 18. Oktober 1817 Burschenschaftler am Rande des Wartburgfestes auf der Wartburg bei Eisenach reaktionär, antinational und undeutsch eingestufte Bücher ins Feuer, darunter auch den Code Napoléon. Allerdings obsiegte hier die Symbolik: Statt der echten Bücher verbrannte man Makulaturbündel, die die Titel der besagten Werke trugen.
Auch im 20. Jahrhundert ging es munter weiter. In den ersten Tagen des Ersten Weltkriegs wurde die Universitätsbibliothek von Löwen als Vergeltungsmaßnahme für Angriffe von Heckenschützen auf die vorrückenden deutschen Truppen ohne Rücksicht auf Verluste niedergebrannt. Der unwiederbringliche Verlust zahlloser mittelalterlicher Handschriften löste daraufhin in der ganzen Welt Entsetzen aus. Als 1917 dann die USA in den Ersten Weltkrieg eingriffen, zog man wahllos deutsche Bücher aus den Regalen, um sie ebenfalls zu verbrennen.
Am bekanntesten wurde jedoch zweifellos die am 10. Mai 1933 auf dem Opernplatz in Berlin zelebrierte Aktion wider den undeutschen Geist, als man Bücher von jüdischen, marxistischen und pazifistischen Autoren den Flammen übergab. In den Monaten danach folgten zahlreiche weitere Aktionen dieser Art in anderen deutschen Städten. Die Inszenierung, das Kultisch-Rituelle und das Systematische der Durchführung gaben der Bücherverbrennung der Nationalsozialisten einen gewissen Rang von Einmaligkeit in der langen Tradition von Bücherverbrennungen von der Antike bis in die jüngste Gegenwart.
Die Bücherverbrennungen des NS-Staates markierten jedoch keineswegs das Ende dieser Art von Exekution von Kunst und Kultur. 1953 erzwang auch der berüchtigte amerikanische Senator Joseph McCarthy im Zuge seiner Kommunistenhatz in den USA die Verbrennung von seiner Ansicht nach entsprechend ›kontaminierter‹ Literatur. Und auf direkte Order des chilenischen Diktators Augusto Pinochet verbrannte man 1986 in Valparaíso 15.000 Exemplare eines regimekritischen Romans des Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez.
Bemerkenswert zu beobachten ist, dass gerade ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis heute wieder eine deutliche Zunahme religiös motivierter...