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E-Book

Eine Theorie der globalen Verantwortung

Was wir Menschen in extremer Armut schulden

AutorValentin Beck
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl350 Seiten
ISBN9783518744222
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts lebt ein großer Teil der Menschheit in bitterer Armut. Daraus ergibt sich die brennende Frage, was die Bürger wohlhabender Länder extrem armen Menschen moralisch schulden. Valentin Beck beantwortet sie im Rahmen einer umfassenden Theorie der globalen Verantwortung. In seinem glänzend geschriebenen Buch behandelt er zentrale Fragen der Theorie globaler Gerechtigkeit, unterzieht unsere Verflechtung in globale soziale Strukturen einer detaillierten Analyse und wirft so ein neues Licht auf eine der größten moralischen Herausforderungen unserer Zeit. Wir müssen mit Blick auf den politischen und individuellen Umgang mit der Weltarmut umdenken, so lautet die zentrale Forderung dieser Studie.

<p>Valentin Beck ist Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin.</p>

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Leseprobe

33II.
Der Begriff der Verantwortung und sein Stellenwert für die normative Betrachtung der Weltarmut


Der Begriff der Verantwortung ist in aller Munde. Doch eignet er sich auch als ein Grundbegriff für die theoretische Beschäftigung mit normativen Fragen? Und welche Rolle spielt er speziell für die normative Betrachtung der Weltarmut? In diesem Kapitel werde ich den Stellenwert darlegen, den der Verantwortungsbegriff für die normative Theoriebildung und insbesondere für die Analyse von Ländergrenzen überschreitenden moralischen Beziehungen besitzt. Es enthält eine dem Anspruch nach umfassende Begriffsanalyse, die diese Studie eröffnet, weil sie in ihre grundlegenden Kategorien einführt und dadurch den nachfolgenden Argumentationsgang plausibilisiert. Darüber hinaus ist diese Begriffsanalyse aber auch für die allgemeine Beschäftigung mit dem Verantwortungsbegriff relevant und kann deshalb auch separat gelesen werden.

Dieses Kapitel umfasst zwei aufeinander aufbauende Argumentationsschritte. Zunächst werde ich zentrale Aspekte von »Verantwortung« als eines Grundbegriffs des normativen Vokabulars unserer Zeit analysieren (II.1). In einem zweiten Schritt soll dann der besondere Stellenwert dieses Begriffs für normative Urteile über die Weltarmut und besonders für die Bestimmung des moralischen Verhältnisses der Bürger wohlhabender Länder zu Menschen in extremer Armut deutlich gemacht werden (II.2). Im Zuge des ersten Schrittes werde ich zunächst eine zentrale These dieses Buches erläutern, nämlich dass Relationen der Verantwortung auf bis zu acht verschiedene Dimensionen hin analysierbar sind (II.1.1). Anschließend soll überblicksweise gezeigt werden, wie aufbauend auf diese Analyse ein breites Spektrum von Verantwortungsarten identifizierbar ist (II.1.2). Schließlich untersuche ich Arten der Verantwortungszuschreibung, wobei ich zeige, dass insbesondere deskriptive von präskriptiven Zuschreibungen der Verantwortung unterschieden werden müssen (II.1.3). Im Zuge des zweiten Beweisschrittes werde ich dann die gewonnene begriffliche Erkenntnis über Verantwortung für das Projekt der Entwicklung von systematisch begründe34ten normativen Urteilen über die Weltarmut nutzbar machen und darlegen, was deskriptive von präskriptiven Perspektiven auf die Weltarmut unterscheidet (II.2.1). Abschließend zeige ich, warum der Verantwortungsbegriff als Leitbegriff für die Beantwortung der Frage, was die Bürger wohlhabender Länder den Menschen in extremer Armut moralisch schulden, besonders gut geeignet und dem Begriff der Pflicht vorzuziehen ist (II.2.2).

II.1 Der Begriff der Verantwortung


Die Rede von Verantwortung erfreut sich heute in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen großer Beliebtheit. Im privaten Umgang, aber auch in Politik, Rechtswesen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft wird der Verantwortungsbegriff oft und gerne verwendet, wenn auch bisweilen mit einer Unbestimmtheit, die problematisch ist und deren begriffliche Quellen uns später noch genauer interessieren müssen (siehe II.2.2). Man betrachte jedoch zunächst einige typische und noch unsystematische Verwendungen: ein Autofahrer wird für einen von ihm verursachten Unfall verantwortlich gemacht; eine Nichtregierungsorganisation wirft einem Unternehmen vor, eine Mitverantwortung für menschenverachtende Produktionsbedingungen in der Zulieferkette zu tragen; ein Finanzpolitiker rechtfertigt Kürzungen im Sozialwesen damit, dass Arbeitssuchende mehr »Eigenverantwortung« übernehmen sollen; ein Rettungsschwimmer wird vorausblickend verantwortlich dafür gemacht, Menschen an einem Strandabschnitt vor dem Ertrinken zu retten. Diese Reihe von Beispielen ist keineswegs schon repräsentativ für all die verschiedenen Arten von Verantwortung, die bei genauer Betrachtung identifiziert werden können (siehe II.1.2). Doch sie veranschaulicht, dass wir es bei Verantwortung offenkundig mit einem vielbeschworenen Phänomen zu tun haben, das einer genauen Analyse bedarf. Auch liegt die Frage nahe, ob es überhaupt einen Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Manifestationen von Verantwortung gibt. Besitzt dieser wohlklingende Begriff eine tiefere einheitliche Bedeutung? Oder werden mit ihm in Wahrheit ganz unterschiedliche Phänomene bezeichnet, zwischen denen keine systematische Verknüpfung besteht? Es stellt sich damit die Frage, ob es ein Wesen der 35Verantwortung[1] im Sinne eines gemeinsamen Charakterzugs gibt, der all den verschiedenen Arten und lebensweltlichen Manifestationen von Verantwortung – also dem, was Menschen alles meinen können, wenn sie davon sprechen – zugrunde liegt. Ich werde hier eine affirmative Antwort auf diese Frage geben: Ja, diesen gemeinsamen Wesenszug gibt es. Ihn gilt es in diesem Kapitel herauszuarbeiten.

Menschen schreiben sich nicht nur gegenseitig, sondern auch sich selbst tagtäglich Verantwortung für ganz verschiedene Dinge zu, wobei sie sich auf Normen des sozialen Umgangs im weitesten Sinn beziehen. Die Etymologie legt nahe, Verantwortung mit dem Phänomen des Auf-etwas-Antwort-Gebens in Verbindung zu bringen. Demnach verweist das Faktum, dass Menschen sich selbst und anderen ständig für gewisse Dinge Verantwortung zuschreiben, zunächst einmal darauf, dass sie sich als Personen betrachten, die prinzipiell imstande sind, für ihre Handlungen »Antwort zu geben«,[2] und das heißt auch diese in Bezug auf bestimmte ausgesprochene oder unausgesprochene Erwartungen zu rechtfertigen. Für das eigene Tun und Unterlassen einzustehen und von anderen zu fordern, dass sie dies ebenfalls tun, schließt zudem ein, sich und anderen Personen bestimmte Handlungen und Handlungsfolgen zuzurechnen. Jede Verantwortung, die sich Menschen in binnen- und zwischenmenschlicher Kommunikation zuschreiben, ist, wie sich noch genauer zeigen wird, als eine soziale Relation aufzufassen, die einer im weiten Sinn normativen Zurechnung eines Objekts zu einem Subjekt entspricht. Das Phänomen der Zurechnung ist in 36dieser Hinsicht das zentrale und mehrdimensionale Strukturmerkmal von Verantwortung.[3]

II.1.1 Dimensionen der Verantwortung


In der Fachliteratur zum Verantwortungsbegriff wird häufig auf sein Charakteristikum der Mehrstelligkeit hingewiesen. Allerdings gehen die Meinungen darüber auseinander, wie viele und welche »Stellen« der Verantwortung es über die beiden schon genannten Kategorien des Subjekts und des Objekts hinaus genau gibt. Von der Annahme der Zweistelligkeit bis zur These der Sechsstelligkeit von Verantwortung reicht das Spektrum der vertretenen Positionen. Darüber hinaus findet sich auch kein Konsens darüber, was diese Mehrstelligkeit des Verantwortungsbegriffs selbst eigentlich genauer bedeutet.[4] Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung ist es wichtig, dieser Frage gründlich nachzugehen.

Ein naheliegender Weg, um der Mehrstelligkeit des Verantwor37tungsbegriffs auf den Grund zu gehen, besteht in der prädikatenlogischen Analyse von für Verantwortungszuschreibungen typischer Terme wie »ist verantwortlich für« oder »trägt Verantwortung für«, die bestimmten Personen und Gegenständen zugeordnet werden. Die Rede von Relationen der Verantwortung entspricht insofern ganz der prädikatenlogischen Terminologie, als in dieser der Begriff der Relation synonym für Beziehungen verwendet wird, die im Unterschied zu den von einstelligen Prädikaten bezeichneten »Eigenschaften« (oder auch »Klassen«) durch mehrstellige Prädikate ausgedrückt werden.[5] Es ist eine wichtige und weiterführende Einsicht, dass die für Verantwortungszuschreibungen verwendbaren Prädikate tatsächlich analog zu anderen mehrstelligen Prädikaten analysiert werden können, zum Beispiel zu zweistelligen Prädikaten wie »ist größer als«, »ist gleichaltrig wie« und »ist Vater von« oder zu dreistelligen Prädikaten wie »ist eifersüchtig auf … wegen …« und so fort.[6] Lässt sich also die Frage nach der Anzahl und Art der Stellen des Verantwortungsbegriffs unter Bezugnahme darauf beantworten, wie viele und welche Stellen solche Prädikate wie »verantwortlich sein«, »Verantwortung tragen« und »Verantwortung haben« in sinnvollen Verwendungen dieser Ausdrücke in der Alltagssprache haben? Ganz so einfach ist es nicht! Denn bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die Alltagssprache keine klaren Vorgaben für die Verwendung von Prädikaten wie »verantwortlich sein« oder »Verantwortung tragen« macht. Diese und ähnliche Ausdrücke werden im Sprachgebrauch auch als einstellige Prädikate korrekt verwendet (zum Beispiel in den Sätzen »Peter ist verantwortlich« und »Peter trägt Verantwortung«), auch wenn sie häufig in Form mehrstelliger Prädikate gebraucht werden, wie zum Beispiel in Gestalt des zweistelligen Prädikats »trägt Verantwortung für« (wie in »Peter trägt Verantwortung für seine Tat«) oder des fünfstelligen Prädikats »wird verantwortlich gemacht vor … in Be38zug auf … für … gegenüber …« (wie in »Peter wird vor dem Gericht in Bezug auf die Gesetze für sein Verhalten gegenüber Andrea verantwortlich gemacht«).

Obwohl es eine wichtige Beobachtung darstellt, dass unter Verwendung mehrstelliger Prädikate über Verantwortung gesprochen werden kann, gibt die logische Analyse dieser Prädikatskonstruktionen allein somit noch keinen endgültigen Aufschluss darüber, wie die Mehrstelligkeit des Verantwortungsbegriffs nun genau zu verstehen ist. Ein Grund hierfür ist, dass Zuschreibungen von Verantwortung als...

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