Was heißt hochbegabt?
Der Begriff «Hochbegabung» (engl. meist «giftedness») hat sich in Deutschland außerhalb der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur noch nicht etablieren können. Im deutschsprachigen Raum werden häufig die Bezeichnungen «Begabung», «hohe Begabung», «besondere Begabung» synonym verwendet, da «Hochbegabung» von einigen Kreisen als ein «elitärer» Begriff angesehen wird und mit negativen Konnotationen verbunden ist.[1]
Dabei erweist sich bei näherer Betrachtung die – zumeist abwertende – Verbindung von hochbegabten Personen mit «Elite» als unangebracht. Mit «Elite» wird eine von der Gesellschaft auserlesene, führende Schicht bezeichnet, die «die Summe der Inhaber von Herrschaftspositionen oder höchsten Rangplätzen auf der Macht- oder der Prestigeskala der Gesellschaft» darstellt (Fuchs et al. 1978, S. 182). Zumindest derzeit scheinen in keinem Land oder Gesellschaftssystem intellektuell Hochbegabte an der Spitze einer Macht-, Einkommens-, Prestige- oder Sozialhierarchie zu stehen. Somit erweist sich der soziologische Begriff «Elite» zur Kennzeichnung oder als Attribut von Hochbegabten eher als ungeeignet und unpassend.
In Deutschland werden häufiger negative Empfindungen mit dem Begriff und Phänomen Hochbegabung assoziiert als etwa in angelsächsischen Ländern. Für eine sachlich-rationale Auseinandersetzung mit dem Konzept ist daher die folgende Erläuterung des in der Wissenschaft seit langem als Fachwort eingeführten Begriffs hilfreich.
Hochbegabung ist äußerlich nicht erkennbar. In Situationen, bei denen besondere Fähigkeiten nicht zum Tragen kommen können, werden Hochbegabte nicht auffallen. Es bedarf bestimmter Problemstellungen, Situationen und Gegebenheiten, bei denen ihre Begabung sichtbar werden kann. Beispielsweise Mozart, musisch hochbegabt, benötigte ein Musikinstrument; Picasso, künstlerisch hochbegabt, Papier/Leinwand, Farben und Stifte; ein mathematisch Hochbegabter besonders schwierige mathematische Fragen, Aufgaben oder Probleme. Unterschiede zwischen Hochbegabten und Nicht-Hochbegabten werden oft erst im Vergleich mit anderen sichtbar, die kein Lied komponieren, kein Gemälde malen und keine mathematischen Probleme lösen können.
Immer wenn sich Menschen miteinander vergleichen, werden Unterschiede auch bewertet. Wie die Beschäftigung mit herausragenden, genialen Personen und deren Erkennung im Altertum zeigt, werden die erheblichen Unterschiede ihrer Fähigkeiten wohl bemerkt. Schon Aristoteles, ein Schüler Platons, schrieb: «Es scheint aber der Geist (nous), als Denkkraft (phronesis) verstanden, nicht gleicherweise allen Lebewesen innezuwohnen, nicht einmal allen Menschen» (zitiert nach Hofstätter 1971, S. 195).
Bis zum Ende des vorletzten Jahrhunderts wurde zumeist der Begriff «Genie» verwendet, um Menschen (eigentlich immer Männer) von «außerordentlichen Geisteskräften und schöpferischen Begabungen» zu bezeichnen (vgl. Lombroso 1887). In England veröffentlichte Francis Galton, ein Vetter Charles Darwins, im Jahre 1869 sein bedeutendes Werk «Hereditary Genius», in dem er das mehr als zufällig häufige Auftreten von sehr hohen und speziellen Begabungen in bestimmten Familien durch Untersuchung der Stammbäume nachwies. Galton, der sich intensiv mit der Intelligenz und deren systematischer Messung unter Anwendung der mathematischen Statistik beschäftigte, kam bei seinen Untersuchungen zu der Schlußfolgerung, daß Intelligenz vererbbar sei, eine damals gängige Vorstellung.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wenden Psychologen und Pädagogen in Deutschland den Begriff «Hochbegabung» an, er ist somit keine «neumodische Erfindung». Einer der bedeutendsten Psychologen, die sich mit dem Phänomen «Hochbegabung» befaßt haben, war William Stern (1871–1938), ab 1916 Ordinarius am Hamburger «Allgemeinen Vorlesungswesen und Kolonialinstitut» und Mitbegründer der Universität Hamburg im Jahre 1919. Er wurde 1933 von den Nationalsozialisten entlassen, da er Jude war. William Stern, Begründer der Differentiellen Psychologie und «Erfinder» des Intelligenzquotienten, befaßte sich u.a. intensiv mit der Intelligenz der Kinder und Jugendlichen (Stern 1916, 1920). Er verwendete dabei den Begriff «Hochbegabung», die er als die höchste Ausprägung der Intelligenz faßte.
Im amerikanischen Sprachgebrauch wurde in dieser Zeit neben «genius» die Bezeichnung «giftedness» mit der hohen Ausprägung als «highly gifted» üblich. Ähnlich bedeutsam wie Sterns Forschungen für die Intelligenz- und Begabungsforschung in Deutschland waren in Amerika die Hochbegabten-Studien von L. M. Terman, der 1921 seine berühmte Studie an 1528 hochbegabten Kindern begann. Insgesamt nahmen 672 Mädchen und 856 Jungen mit einem Durchschnittsalter von 11 Jahren, die nach der Vorauswahl durch Lehrer einen Mindestintelligenztestwert von 135 im Stanford-Binet-Intelligenztest erreichten, an der Studie teil (vgl. u.a. Holahan 1996). In verschiedenen Bänden der von Terman und seinen Mitarbeitern herausgegebenen «Genetic studies of genius» wurden die Ergebnisse festgehalten. Ein wesentliches Anliegen Termans war die Widerlegung der These von Lombroso (1887) und Lange-Eichbaum (1928), daß «geniale», d.h. hoch- bis höchstintelligente Personen sehr häufig eine gestörte Persönlichkeitsentwicklung bis hin zur Abnormalität im Sinne des Psychopathologischen, der Psychose erleiden.[2]
Wer immer sich mit den «Genialen» oder «Hochbegabten» befaßte, den faszinierte die Frage nach der (besonderen) Persönlichkeit dieser Menschen. In der frühen Zeit der Mystik gibt es Zeugnisse, wo Geniales mit Göttlichem gleichgesetzt wurde, in christlichen Anschauungen gilt es als Gottesgabe. Annahmen über biologisch-körperliche Besonderheiten Genialer wie der Ausstattung des Gehirns und der «Säfte» auf ererbter Basis wurden geäußert. Der Psychiater Lange-Eichbaum (1928), der Genie nicht als Biologisches, nie als «Objekt der Naturwissenschaft» ansah, vertrat sogar die Meinung, daß das Genie nur vorhanden ist, «wenn die betrachtende Menschheit da ist», die bestimmt, «wer als Genie zu gelten hat.»
Diese «wirre Fülle von Meinungen» (Lange-Eichbaum 1928, S. 40), deren Einfluß auch heute noch in ähnlichen Mutmaßungen und Annahmen über Hochbegabte erkennbar ist, und die höchst unterschiedlichen Bestimmungen, was unter Hochbegabten («Genies») zu verstehen ist, führten zu stark kontroversen Standpunkten, Mißverständnissen, zu vielfältigen Interpretationen und Befunden.
Wie die historische Betrachtung erkennen läßt, kann die Zuschreibung einer Person als «hochbegabt» nach zwei Gesichtspunkten erfolgen:
1. Hochbegabte werden als Personen definiert, die etwas Außergewöhnliches leisten, die extrem schwierige Aufgaben lösen, ein höchst ungewöhnliches Werk schaffen, ungeachtet der Leistung anderer Personen (absolutes, qualitatives Kriterium).
2. Hochbegabte sind solche Menschen, die in einem festgelegten Bereich eine so hohe Leistung aufweisen, wie sie nur noch von wenigen Personen der Bezugsgruppe erbracht werden kann. Dabei ist die Setzung einer quantitativ zu bestimmenden Grenze («cutoff point») erforderlich (relatives, quantitatives Kriterium).
Anders als in dem Märchen, wo der König seine Tochter nur demjenigen Freier zur Frau gibt, der ein sehr schweres Rätsel löst, erweist es sich bei der Bestimmung von Hochbegabung als äußerst schwierig, ein «qualitatives» Kriterium zu finden, das eine klare Trennung von Hochbegabten und Nicht-Hochbegabten ermöglicht. Daher neigen heute Begabungsforscher dazu, die mit Hilfe eines psychologischen Tests gemessene Leistung einer Person mit den Leistungen ihrer Vergleichsgruppe in Beziehung zu setzen (relatives, quantitatives Kriterium). Diejenigen Personen mit den höchsten Meßwerten werden als hoch- bzw. höchstbegabt bezeichnet.
Begabung und Intelligenz
Die Begriffe Intelligenz und Begabung erfuhren über Jahrzehnte hinweg Wechselbäder der Ablehnung und Zustimmung. Der Begriff «Begabung» wird in der Psychologie außerhalb der sogenannten Begabungsforschung kaum mehr verwendet, da mit ihm oft (implizit) Annahmen über angeborene Merkmale oder Verhaltenstendenzen verknüpft werden. Deshalb wird in der modernen psychologischen Persönlichkeitsforschung, der Differentiellen Psychologie eher von «Fähigkeiten» gesprochen, die als Dispositionen erworben oder genetisch (mit)bedingt sein können.
In der Alltagssprache sowie in englischsprachigen Arbeiten findet sich der früher gebräuchlichere Begriff «Talent», der teilweise synonym zu «Begabung» bzw. zu den spezifischen Intelligenzfaktoren benutzt wird (vgl. «Sprachtalent»). Ähnlich wie der Begabungsbegriff spielt er in der heutigen psychologischen Forschung keine Rolle mehr (vgl. Heller und Hany 1996).
Begabung, im Sinne von Fähigkeit, wird oft synonym oder sinnverwandt mit...