Peter Felixberger
Rechts! Zwo! Drei! Vier!
Ein deutsches Drehbuch
Eingangsblende
Der deutsche Sozialstaat gerät in Gefahr. Flüchtlinge und Migranten aus anderen Kulturen und Ländern bilden die neue Konkurrenz um staatliche Versorgungsleistungen. Dadurch drohe die Fürsorge für deutsche Bedürftige – Rentner und Hartz-IV-Empfänger – in Gefahr zu geraten. Politiker und Medien beginnen, die jeweiligen Gerechtigkeitskonstruktionen als Reflexe und reflexive Zustimmungsräume in Stellung zu bringen. In den Turbulenzen bilden sich stabile bis paradoxe Meinungskoalitionen. Rechts taucht auf, wo gerade noch links stand. Und links mäandert ins Delta des Unübersichtlichen.
Akteure
Wirtschaftsminister
Bundeskanzlerin
Früherer Minister mit sozialem Gewissen
Kronprinz einer regionalen Regierungspartei
Großsoziologe
Politiker und Funktionäre
Publizisten und Vordenker
Linke Rechtsnationalisten
Rechte Linksnationalisten
Volk
Startimpulse
In Zeiten sinkender Wählerzustimmung tritt der Wirtschaftsminister auf und zündelt: »In die Gesellschaft hat sich ein Satz gefressen: ›Für die Flüchtlinge macht ihr alles, für uns macht ihr nichts.‹« Das Spiel der Reflexe kann beginnen. »Ein Wohlfahrtschauvinist«, ruft ein Politikwissenschaftler unmittelbar retour und bezieht sich auf die Denkfigur, wonach gesellschaftliche Homogenität die Voraussetzung für einen gelingenden Sozialstaat ist. Und eine junge Journalistin einer großen deutschen Sonntagszeitung reagiert ebenso zügig: »Um gesellschaftliche Unruhe zu vermeiden, muss man den Einheimischen nach dieser Logik in Zeiten hoher Einwanderung ausdrücklich zusichern, dass ihnen durch die Neuankömmlinge kein Nachteil entsteht.« Das Volk bezieht Stellung. Der »kleine Mann« reklamiert sozialstaatliche Versorgung und will keine Konkurrenten neben sich haben. Der Sozialstaat soll seine Pforten nur für die Richtigen öffnen. Ein deutscher Rentner dürfe vom Staat schließlich nicht weniger bekommen, als ein jugendlicher Flüchtling den Staat koste – meint der Kronprinz einer Landesregierung im Süden des Landes.
Tiefenbohrung
Der Sozialstaat wird als Spielwiese oberflächlicher Reflexe und Reiz-Reaktions-Muster benutzt und instrumentalisiert. Anhänger und Gegner rotten sich im Gefühl der Meinungshoheit jeweils zusammen. Es bedarf deshalb einer tiefer gehenden Betrachtung, um diese kurzatmig öffentlich inszenierte Oberflächenspannung besser zu verstehen und die darunter liegenden Gesteinsschichten zu erkennen.
Wir richten den Blick deshalb zunächst zurück in die Zeit vor 150 Jahren. Als nämlich der Sozial- oder Wohlfahrtsstaat sich im Gefolge der ersten Phase der Industrialisierung in Deutschland herausgebildet hat. Dabei hat sich ein paternalistisches Staatsverständnis verfestigt, demzufolge einerseits der Staat Souverän und Fürsorger seiner Bürger ist, andererseits der Bürger als ein mit Teilhaberechten ausgestattetes Mitglied einer sozialen Gemeinschaft definiert ist. Das bedeutet: Der Sozialstaat fordert und fördert, er fordert die politische Loyalität der Bürger und fördert deren individuelle Wohlfahrt. Das Herzstück jedes Sozialstaats ist die Inklusion.
Reflexe
Stimme eines Großsoziologen aus dem Jenseits: »Jede Person muss danach Zugang zu allen Funktionskreisen erhalten können. Jeder muss rechtsfähig sein, eine Familie gründen können, politische Macht mit ausüben oder doch mit kontrollieren können; jeder muss in Schulen erzogen werden, im Bedarfsfalle medizinisch versorgt werden, am Wirtschaftsverkehr teilnehmen können. Das Prinzip der Inklusion ersetzt jene Solidarität, die darauf beruhte, dass man einer und nur einer Gruppe angehörte.«
Jeder Bürger erwirbt also ein Set an politischen und sozialen Rechten, über die er in die Gemeinschaft integriert ist, aber auch die Ausgangsposition festigt, seine Lebenspläne in freier Selbstbestimmung und Selbstorganisation verwirklichen zu können. Der Sozialstaat basiert bis heute auf dieser beiderseitigen Gewinnstrategie. Die Marginalisierung einer Gruppe (siehe Wirtschaftsminister und Kronprinz) ist nicht Teil dieser Denkfigur.
Auftritt der Bundeskanzlerin. Nach langem Wir-schaffen-das-Jubel erinnert sie sich im Umgang mit den Flüchtlingen an das sozialstaatliche Prinzip: fordern und fördern. Anerkannten Asylbewerbern solle etwa »zur Vermeidung von sozialen Brennpunkten« ein bestimmter Wohnsitz zugewiesen werden. Gleichzeitig werden Flüchtlingen, die Integrationsmaßnahmen ablehnen, die Leistungen gekürzt. Der eingangs zitierte Wirtschaftsminister im semantischen Schlepptau: Die Koalition wolle keine »zwangsassimilierten, ängstlichen Integrationssimulanten«. Integration sei anstrengend, doch »wer zu uns gehören will, wird nun bessere Möglichkeiten haben«. Der Wirtschaftsminister bewirtschaftet weiter sich selbst.
Womit wir wieder am Anfang stehen. Zu uns gehören! Inklusion! Nur dann öffnet der Sozialstaat sein Mäntelchen. Semantisch lässt sich dahinter ein wohlbekanntes, bipolares Ränkespiel inszenieren, um den Sozialstaat auszuhebeln. Hier die dauerhaften, dort die flüchtig Bedürftigen. Hier die Deutschen, dort jene, die sich der Inklusion erst würdig erweisen müssen. Die Flüchtlinge werden volksnah zur Gruppe degradiert und als solche zunächst semantisch und physisch in Zeltstädten und Turnhallen zwischengelagert. Der sozialistische Internationalismus, der jeder verfolgten und gefährdeten Person Heimstatt und Schutz gewährt, strandet so im neolinken Nationalismus, der eine Hierarchisierung im Sozialstaat vornimmt und den Inklusionsgedanken malträtiert.
Achtung: Auftritt einer rechten Linksnationalistin, die mit ihrem Zwischenreflex bildlich gesprochen auf diesem semantischen Wirbelkörper Platz nimmt und völlig überraschend das Hohelied des Nationalstaats singt. Demokratie und Sozialstaat seien in Nationalstaaten erkämpft worden und Demokratie lebe nur in Räumen, die für die Menschen überschaubar sind. EU und Supranationalismus sind in ihren Augen eher Teufelswerk. Da trifft es sich gut, dass ihr geistiger Ziehvater vor Jahren eine Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft verfasst hat. Ein guter Deutscher, so der ihr äußerst nahestehende Ziehvater darin, muss seinen Wohnsitz in Deutschland haben, deutsch sprechen, angemessen Steuern zahlen und den Sozialstaat finanzieren. Woraus sich für ihn die Notwendigkeit ergibt, »die Zuwanderung zu begrenzen«. Denn Aussiedler, Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylbewerber träten mit dem deutschen Michel in »Konkurrenz um Arbeitsplätze, Wohnungen und Lebenschancen«. Der Staat solle sich, so seine Folgerung, zuallererst um die »sorgen, die seine Bürger sind und sich, soweit sie Einnahmen haben, an der Finanzierung der Gemeinschaft beteiligen«.
Tiefenbohrung
Man erkennt schnell, dass sich hinter dieser scheinbaren Politik für alle ein antisozialstaatlicher und rassistischer Reflexkern verbirgt: Wir lassen von außen keinen mehr dazukommen, damit die Einheimischen unter sich bleiben können. Wölfe im Schafspelz haben plötzlich Konjunktur. Eine neue kleine Rechtspartei packt den Volkszipfel bei der Hand. Ohne zu ahnen, worum der Sozialstaat im Eigentlichen ringt. Aus den Parteiritzen qualmt es hervor: »Der Sozialstaat für alle ist nicht sozial […] Einen unkontrolliert immer weiter ausufernden Sozialstaat kann sich Deutschland auf lange Sicht nicht leisten.«
Jetzt aber schnell zurück in die tiefer liegenden Sedimentschichten des Sozialstaats. Denn in der Gewinnbeziehung zwischen Staat und Bürger wird eine interessante Paradoxie sichtbar. Der Sozialstaat kompensiert die Preisgabe seiner Macht (er beteiligt alle Bürger an politischen und sozialen Rechten) mit dem Zugehörigkeitsimperativ zu einer hierarchisch von oben gesteuerten Staatlichkeit. Der Bürger wiederum kompensiert seine politische Teilhabeverpflichtung mit der Preisgabe seiner Freiheit (dem Streben nach selbst organisiertem Leben).
Stimme eines Soziologen aus dem Off: »Die wesentliche Rolle des Staates im Kontext der Wohlfahrtsproduktion besteht in der Gewährleistung sozialer Rechte und in der Schaffung funktionsfähiger Strukturen der Leistungserbringung, deren Eigendynamik zur Schaffung von Selbststeuerungspotenzialen nutzbar gemacht werden kann.« Die Idee des Sozialstaats kann diesem Dilemma allerdings nicht entfliehen. Als Souverän und Fürsorger über seine abhängigen Bürger herrschen zu müssen und gleichzeitig mit ihnen dahin gehend zu kooperieren, sie als Selbstorganisierte in die individuelle Freiheit zu entlassen. Der Konflikt zwischen individueller Emanzipation und staatlicher Macht bleibt dauerhaft ungelöst.
Der Großsoziologe winkt aus dem Jenseits: »Der Wohlfahrtsstaat erstrebt die Inklusion der Gesamtbevölkerung in das politische System der Gesellschaft. Dies geschieht auf der positiven, auf der beleuchteten Seite durch Gewährung von Vorteilen, die der Einzelne nicht selbst verdient hat. Auf der anderen Seite kommt es eben dadurch zu einer...