Luther der Große
Befragungen auf der Straße durch die Medien sind heutzutage sehr beliebt. Wenn man wissen will, wer Martin Luther war, erhält man unterschiedliche Antworten: «Den Namen habe ich schon einmal gehört, aber ich fange damit wenig an»: Das ist die Ausnahme. Die meisten verbinden etwas mit Luther: «Er hat es dem Papst und den alten Männern in Rom gegeben»; «Er hat seine Thesen – wie viele waren es noch? – an die Kirchentür angeschlagen»; «Seit Luther dürfen Geistliche heiraten, katholischen Priestern ist es bis heute verboten»; «Luther hat die Bibel übersetzt und die deutsche Sprache geschaffen.» Es gibt für Luther Lob auf der Straße, aber auch Kritik: «Er hat die Kirche gespalten»; «Er war ein grober Klotz und ein Macho»; «Und da war noch etwas, das mit den Bauern und den Juden.»
Einige der Befragten erinnern sich vielleicht an Lutherworte, solche, die ihm in den Mund gelegt werden: Auch wenn ich wüsste, dass morgen die Welt zu Grunde geht, würde ich heute noch einen Apfelbaum pflanzen. Und an das deftige Ihr rülpset ja nicht, ihr furzet ja nicht, es hat euch wohl nicht geschmecket? Oder an ein Wort, das Luther tatsächlich gesagt hat: So die Frau nicht will, komme die Magd.
Die Passanten von heute schneiden deutlich besser ab als preußische Rekruten aus Schlesien um 1900. Sie antworteten, Luther habe die Bibel gemacht; er glaube nicht an Christus; er habe die katholische Kirche gegründet; und er habe das Schießpulver erfunden.
Das Fazit unserer Befragung: Luther ist den meisten bekannt. Für viele, aber längst nicht alle, ist er ein bedeutender Mann. Er polarisiert bis heute, er hat Freunde und er hat Feinde.
Mich selbst hat Luther in meinem Leben begleitet, obwohl ich katholisch bin. Das erste Mal begegnete er mir, als ich acht Jahre alt war. Ein Onkel war 1949 nach schlimmer Kriegsgefangenschaft in Wittenberg gestorben, «Lutherstadt Wittenberg» heißt die Stadt offiziell seit 1938. Die Eltern reisten mit mir zur Beisetzung. Im Anschluss daran wurde ich in die menschenleere, düstere Schlosskirche vor eine Grabplatte geführt. Hier ruht Martin Luther, ein großer Mann, wurde mir zugeraunt.
Martin Luther der Große: An der Schwelle zur Neuzeit kämpfte er gegen die Missstände der katholischen Kirche. Er wollte eine umfassende Erneuerung der Kirche auf der Grundlage des Evangeliums der Heiligen Schrift. Damit wurde er zum Vater der Reformation und zum Begründer des Protestantismus. Gegen seinen Willen löste er die bis heute nicht überwundene Glaubensspaltung aus. An die Stelle der bis dahin einen Kirche traten seitdem unterschiedliche Konfessionen. Sie bekämpften sich erbittert mit Intoleranz und Gewalt bis zum Dreißigjährigen Krieg und noch darüber hinaus. Luther wurde eine Persönlichkeit der Weltgeschichte.
Luther der Große: Von seinen Anhängern wurde er schon zu Lebzeiten mit Glorienschein umgeben und ins Übermenschliche entrückt. Nach seinem Tod verklärten ihn die evangelischen Theologen als Heilsbringer der allein selig machenden reinen Lehre der Reformation. Im 19. Jahrhundert wurde er auf den Sockel der Denkmäler gestellt, zum Monument deutscher Größe und Herrlichkeit, hoch erhoben und unnahbar.
Luther der Große – aber auch der Monströse: Für seine Gegner war er bis ins 20. Jahrhundert Ketzer und Kind des Teufels, der die einzig wahre katholische Kirche in Brand gesteckt habe.
Luther als Mensch: Von seinen Freunden und Feinden wurde er biografisch zurechtgebogen, wie es jeweils in ihr voreingenommenes Lutherbild passte. Verkörperung aller Tugenden für die einen, aller Laster für die anderen.
Die Tischreden
Über Martin Luther wurde unendlich viel geschrieben. Theologen haben akribisch jeden noch so kleinen Stein und Balken seines Lehrgebäudes hin und her gewendet und kontrovers diskutiert. Die Person des Reformators interessierte sie meist weniger. Dieses Buch rückt dagegen den Menschen Luther ins Zentrum. Mit einem neuen Zugang: Nicht andere sollen über ihn urteilen, sondern er kommt selbst zu Wort in seinen Tischreden. Sie füllen in der großen Weimarer Lutherausgabe stattliche sechs Bände mit jeweils rund 700 Seiten. Obwohl als Quelle von unschätzbarem Wert, wurden sie bis heute nicht umfassend ausgewertet. Stattdessen nutzte man sie meist als Steinbruch und holte sich heraus, was ins eigene Lutherbild passte. Weniger Erwünschtes unterschlug man, oder man zweifelte am historischen Gehalt der Aussage. Luther wurde so historisch geliftet und weichgespült. In den Tischreden kommt er als Mensch so nah wie kaum eine andere Persönlichkeit der Frühen Neuzeit. Er äußert sich dort so spontan wie heute die User von Facebook und Twitter.
Die vorliegende Textauswahl möchte Luther ausgewogen und ohne eine vorgefasste Deutungsabsicht selbst zu Wort kommen lassen, vor allem durch Zitate aus seinen Tischreden, aber auch aus Flugschriften, Traktaten und Briefen des Reformators.
Wie entstanden die Tischreden? Im Wittenberger Lutherhaus wurden die Mahlzeiten in großer Runde im Refektorium des ehemaligen Augustinerklosters eingenommen. Bevor die Hausfrau die mit Liebe, aber auch Sparsamkeit bereiteten Speisen servierte, sprach der Hausherr das Tischgebet, gern das Vaterunser: Es bindet die Leute zusammen und ineinander, dass einer für den andern und mit dem andern betet, und wirkt so stark, dass es alles Übel und den Tod vertreibt. (TRI, 700) Beim Essen herrschte der Klostersitte gemäß Schweigen. Nach Tisch versammelte sich eine ausgewählte Männerrunde in der bis heute erhaltenen Lutherstube. Katharina Luther war als einzige Frau dabei, soweit es der Haushalt zuließ.
Für das Gespräch nach Tisch gab es ein festes Ritual. Luther leitete es mit der Frage ein: Was hört man Neues? Darauf gab es zunächst allgemeines Schweigen. Der Hausherr hakte nach: Ihr Prälaten, was Neues im Lande? Dann begannen zögernd die Älteren in der Runde zu reden, allmählich auch andere. Das brachte den Reformator in Fahrt, und er setzte zum Monolog an. Johannes Mathesius, sein Tischgenosse und erster Biograf, beschrieb den Ablauf: «Oftmals legte man gute Fragen ein aus der Schrift, die löste er fein rund und kurz, und da einer mal Part (Widerpart) hielt, konnte er es auch leiden, und mit geschickter Antwort widerlegen.» Luther lenkte das Gespräch mit unangefochtener Autorität. Wenn Gäste von Rang und Stand an der Runde teilnahmen, kam er in Hochform: «Oftmals kamen etliche Leute von der Universität, auch von fremden Orten an den Tisch, da gefielen sehr schöne Reden und Historien», schwärmte Mathesius. Begierig hingen alle an Luthers Lippen: «Wie wir denn sein Reden Condimenta mensae (Tischgewürze) pflegten zu nennen, die uns lieber waren als alle Würze und köstliche Speise.» Er sprach «nunc Latinae, nunc Germanicae», unvermittelt wechselte er vom Lateinischen ins Deutsche, sogar im selben Satz.
Luthers Worte sind für den Zeitraum von 1531 bis 1546 überliefert. Über die bewegten Jahre der frühen Reformation wird im Rückblick berichtet. Sie hatten sich tief in sein Gedächtnis eingeprägt. Er erinnerte sich minutiös daran. Manchmal berichtete er das Gleiche sogar mehrfach. Unsicher war er gelegentlich in der Datierung. Aufgeschrieben wurden die Lutherworte von einem Dutzend Zuhörer. Sie machten zunächst Notizen in dünne Hefte oder auf einzelne Blätter. Später überarbeiteten sie die Konzepte. Die Schreiber waren alle Schüler und enge Vertraute Luthers. Sie wollten ihn in ein positives Licht rücken. Der eine oder andere hatte wohl auch schon seinen Nachruhm im Blick. Bei den Autoren gab es Hörfehler, Missverständnisse, Erinnerungslücken, wohl auch Wichtigtuerei und Übertreibungen.
Das galt besonders für seinen Famulus, den späteren Feldprediger Johannes Aurifaber (1519–1575). Zwanzig Jahre nach Luthers Tod gab er 1566 die erste...