1.4Das International Forced Labourers’ Documentation Project und die Zusammensetzung der Interviewsamples
Das International Forced Labourers’ Documentation Project (im Folgenden: IFLDP) begann im Herbst 2004, nachdem eine längere Planungs- und Ausschreibungsphase vorausgegangen war. Angesiedelt am Institut für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen unter der Leitung von Alexander von Plato und finanziert von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ), wurden in 25 Ländern 32 Interviewteams ausgewählt, die – zuzüglich der Interviews, die Alexander von Plato, die Historikerin Almut Leh und der Verfasser als verantwortliche Projektkoordinatoren in Deutschland und England gemacht haben – insgesamt fast 600 lebensgeschichtliche Interviews mit ehemaligen NS-Zwangsarbeitenden führten und dokumentierten. Die Teams bewarben sich zunächst auf eine Ausschreibung des Instituts und wurden dann in Zusammenarbeit der Projektkoordinatoren mit einer international besetzten Expertenjury unter Oberaufsicht der Stiftung EVZ nach den Kriterien der wissenschaftlichen Eignung, der organisatorischen Kapazität sowie des Vorhandenseins von Interview- bzw. Projekterfahrungen ausgewählt.
Der Großteil dieser Gespräche sollte – in Anlehnung an die Entschädigungspraxis der Stiftung, die zu der Zeit in vollem Gange war – in Staaten der ehemaligen Sowjetunion (Belarus, Russland, Ukraine) sowie in Polen und Tschechien stattfinden. Ein weiterer Schwerpunkt lag auf (jüdischen) ehemaligen Arbeitshäftlingen, die heute vornehmlich in Israel und den USA leben. Für die übrigen Länder waren nur relativ kleine Samples vorgesehen, die – wie auch alle anderen nicht-deutschsprachigen Interviews – aus Budgetgründen nur zu ca. einem Viertel ins Deutsche übersetzt werden konnten. Die Vorgaben für die Zusammensetzung der Samples waren zweigeteilt – einerseits sollten sie sich möglichst an den historischen Gegebenheiten der Häufigkeitsverteilung unter den NS-Zwangsarbeitenden des jeweiligen Landes ausrichten, also am Anteil von Frauen und Männern, den Formen ihrer Unterbringungs- und Arbeitseinsatzorte etc. Andererseits sollten aber auch „ungewöhnliche“ Schicksale, die sonst üblicherweise durch die aggregierenden Raster der Forschung fallen, Berücksichtigung finden.
Die Zusammensetzung der Interviewsamples
England: Bei der Zusammensetzung des Samples wurden gemäß dem Votum der internationalen Jury, die die Auswahl der Interviewteams beschlossen hatte, keine britischen ehemaligen Kriegsgefangenen befragt, von denen ca. 100.000 für das Deutsche Reich Zwangsarbeit leisten mussten. Obwohl für diese Personengruppe weiterhin Forschungsbedarf besteht,39 wurde eher die Besonderheit Englands als Einwanderungsland für überlebende ehemalige Zwangsarbeitende nach 1945 hervorgehoben. Dementsprechend wurden im Rahmen des IFLDP nur sechs eingewanderte ehemalige Zwangsarbeitende polnischer, tschechischer, ukrainischer und deutsch-jüdischer Herkunft interviewt. Für die vorliegende Forschungsarbeit wurde dieses Sample durch vier weitere Interviews mit Angehörigen dieses Personenkreises (darunter eine Interviewte ex-jugoslawischer Herkunft) sowie Interviews mit zehn britischen ehemaligen Kriegsgefangenen, die in Deutschland Zwangsarbeit geleistet haben, ergänzt. Diese Interviews sind zu früheren Zeitpunkten entweder vom National Sound Archive der British Library oder vom Sound Archive des Imperial War Museum geführt worden. Die Interviews liegen in englischer Sprache vor.
Deutschland: Neben sechs als Deutsche geborenen deutschen Staatsangehörigen und zwei osteuropäischen ehemaligen Zwangsarbeitenden, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten haben, wurden zwölf Interviews aus den Beständen des Instituts für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen und der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg herangezogen, die zu früheren Zeitpunkten mit Opfern nationalsozialistischer Verfolgung, die Zwangsarbeit geleistet haben, geführt worden sind. So entstanden zwei gleich große Teilsamples, die jeweils zehn Personen berücksichtigen, die als Deutsche Zwangsarbeit verrichtet haben bzw. als Ausländer nach Deutschland gebracht wurden, dort Zwangsarbeit geleistet haben und nach dem Krieg im Land geblieben sind. Alle Interviews sind in deutscher Sprache geführt worden.
Frankreich: Das französische Sample besteht aus acht ehemaligen Rekrutierten des Service du Travail Obligatoire – eines Pflichtarbeitsdienstes, den das Vichy-Regime Anfang 1943 zur Unterstützung des deutschen Arbeitskräfteeinsatzes eingeführt hatte – sowie aus zwei in Frankreich lebenden, nicht als Franzosen geborenen Personen, die für Deutschland im Zweiten Weltkrieg als KZ-Häftling bzw. Zivildeportierte erzwungene Arbeitsleistungen erbracht haben, einem österreichischen Juden und einer Ukrainerin. Der Fokus der Untersuchung folgt hier der Ausrichtung des Samples, die vor allem die komplexe Rekrutierungssituation im Vichy-regierten Frankreich berücksichtigen sollte. Auch dieses Sample wurde durch ein bereits früher geführtes Interview des Instituts für Geschichte und Biographie mit einem französischen ehemaligen zivilen Zwangsarbeiter ergänzt. Die Interviews liegen im französischen Original und/oder in deutscher Übersetzung vor.
Israel: Das Sample besteht aus ehemaligen jüdischen Arbeitshäftlingen, wobei ein Interviewter libyscher Herkunft, der in nordafrikanischen Arbeitslagern interniert war, eher als ziviler Zwangsarbeitender angesprochen werden muss, weil er nicht von der Deportation in ein Vernichtungslager bedroht war und auch die sonstigen Arbeitsumstände nicht denen der KZ-Häftlingsarbeit entsprachen. Auch dieses Sample wurde durch ein bereits früher geführtes Interview des Instituts für Geschichte und Biographie mit einem polnischstämmigen jüdischen weiblichen ehemaligen Arbeitshäftling ergänzt. Alle Interviews liegen entweder in deutscher Übersetzung aus dem Hebräischen vor oder sind auf Deutsch oder Englisch geführt worden.
Tschechien: Das tschechische Sample entstammt komplett dem IFLDP. Die Interviews berücksichtigen ehemalige zivile Zwangsarbeitende und Arbeitshäftlinge. Darunter ist ein Interview mit einem slowakischen, in der Tschechoslowakei geborenen und seit 1993 in der Slowakei lebenden früheren Arbeitshäftling und eins mit einem polnischen, in der Tschechoslowakei geborenen und lebenden ehemaligen zivilen Zwangsarbeitenden, während die anderen Interviewten alle tschechischer Nationalität sind. Alle Interviews sind aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzt worden.
Ukraine: Auch das ukrainische Sample entstammt komplett dem IFLDP. Hier ist eine regionale Aufteilung zwischen zwei Interviewteams vorgenommen worden, einem für den westlichen und einem für den östlichen Landesteil der heutigen Ukraine, wodurch die wechselnden Besatzungssituationen und Staats- und Volkszugehörigkeiten auf ukrainischem Territorium berücksichtigt wurden. Auch dieses Sample setzt sich gleichermaßen aus ehemaligen zivilen Zwangsarbeitenden und Arbeitshäftlingen zusammen. Alle Interviews liegen in deutscher Übersetzung aus dem Ukrainischen oder Russischen vor.
1.5Samplebildung und Rahmenbedingungen der Interviewführung und -auswertung in einem Sechs-Länder-Vergleich
Es gibt gute Gründe, bei der Zusammenstellung von Forschungssamples strenge Regeln einzuhalten. Das so genannte “theoretical sampling“ (Strauss/Corbin) ist ein verlässlicher Ausgangspunkt in dieser Hinsicht, der seine weitere Ausarbeitung in der Idee der „theoretischen Sättigung“ (Herrmanns) erfahren hat. Diese kann – abhängig von verschiedenen Lehrmeinungen und vom jeweiligen Autor sowie vom verfolgten Untersuchungsinteresse – innerhalb einer Größenordnung von zwölf bis 40 Interviews erreicht werden. So ambitioniert und aufrichtig der dahinter stehende Gedanke sein mag – so viele „Fälle“ in Betracht zu ziehen, wie nötig sind, um jedes theoretische Konzept zu repräsentieren, das für ein angemessenes Bild des gewählten Ausschnitts der Realität von Bedeutung ist40 – so wenig lässt sich das Eintreten eines Sättigungspunkts theoretisch vorherbestimmen, wie Niethammer argumentiert hat: „… er [der Sättigungspunkt, CT] hängt von der Komplexität des Sachverhalts, der Distanz zum Gegenstand etc. ab und bemißt (sic!) sich nach Erfahrung oder Konvention.“41
Zusätzlich besteht bei sehr kleinen Samples die Gefahr, dass durch den Versuch, möglichst viele besondere Erfahrungen abzubilden, um die Breite des Forschungsfeldes darzustellen, eher ein Kuriositätenkabinett entsteht als ein theoretisch gesättigtes Sample. Die für diese Arbeit zusammengestellten Interviews erhalten vor diesem Hintergrund vor allem als Ensemble Bedeutung. Sie dokumentieren eine...